Chile | Nummer 509 – November 2016

“36 MAL EIN HOCH AUF DIE, DIE KÄMPFEN”

Reportage über Graffiti in Santiago de Chile

Von David Rojas-Kienzle

Das Klackern der Dosen kündigt an, was wir vorhaben. Die Gruppe 3636 bespricht, welche Farben sie für ihre nächtliche Tour benutzen will. Ein, vielleicht zwei Pieces sollen entstehen, getaggt werden soll auch. Piece ist der Ausdruck für ein Graffito, kunstvolle Kalligrafie meinen die einen, Vandalismus die anderen. Santiago ist voll davon. Neben den klassischen murales, meist in Auftrag gegebenen Wandmalereien, gibt es eine riesige Graffitiszene, die die ganze Stadt bunter macht. Es ist fast keine Wand zu sehen, die nicht entweder mit Wandmalereien, Pieces oder Tags, den kunstvollen Unterschriften von Graffiti-Künstler*innen bemalt wird.

„Was wir machen ist anders als das, was viele andere machen. Wir machen Graffiti, weil es uns Spaß macht“, meint Luche*, einer der Sprayer von 3636. „Andere Crews haben auch Schlägereien, sie sind sehr territorial. Vor allem, wenn es um Züge geht. Wenn man an einem Ort Züge macht, den sie für sich beanspruchen, kann es sein, dass du verprügelt wirst. Wir haben darauf keine Lust.“
Die sechs Jungs haben sich auf eine Farbkombination geeinigt. Das heißt, es kann losgehen. Gemütlich verlassen wir die Wohnung und gehen ins nächtliche Santiago. Unser Ausflug fängt im hippen Barrio Brasil an, einem der Ausgehviertel im Zentrum Santiagos. „Es gibt sehr viele legale Arbeiten hier, vor allem um die Plaza Yungay und im Barrio Bellavista, aber die Kalligrafie, die man hier auf der Straße sieht, ist illegal.“ Es ist Mitternacht und die Straßen sind fast leer. Wir gehen erst mal ein Bier holen und setzen uns auf eine Bordsteinkante. Horrorgeschichten werden ausgetauscht. „Als ich einmal mit einem argentinischen Freund taggen war, sind auf einmal ein Haufen Männer mit Stöcken aus einem Laden rausgekommen und haben uns mit einem Pick-up verfolgt. Sie haben einen von uns erwischt, ihn dann aber gehen lassen“, erzählt Luche. Jeder der sechs Jungs wurde schon mal von der Polizei oder wütenden Anwohner*innen erwischt.
Das Bier ist alle und wir ziehen weiter in die Richtung, wo das erste Piece entstehen soll. Auf einer verlassenen Kreuzung ist ein Laden mit einem Rollladen verschlossen. Dieser soll bemalt werden. Aber entgegen aller Erwartung sind noch Leute auf der Straße, zwei Obdachlose sitzen in einer Nische und gegenüber verkauft ein Geschäft noch Bier durch eine vergitterte Tür. Ernüchterung macht sich breit und die Jungs fangen an zu diskutieren. Nach einer Weile entschließt sich die Gruppe, das Piece doch zu machen: Juan und Manu fragen die Obdachlosen, ob es in Ordnung für sie wäre. Daniel hält nach Polizeistreifen Ausschau und Luche, Gabo und Brian malen. Als Juan und Manu ihr ok geben, geht alles schnell. Die Dosen klackern erneut und innerhalb von drei Minuten entsteht, begleitet vom scharfen Zischen der Farbe, ein zwei mal drei Meter großes Gemälde auf der Wand. Routiniert werden erst Outlines, die Konturen der einzelnen Buschstaben, gezogen, dann ausgefüllt und Schicht für Schicht ein trister brauner Rollladen in ein buntes 3636 umgewandelt.
„Für uns steht 3636 für drei mal die sechs, also 666 und 36 Dinge, wie 36 tote Politiker, 36 Lieben, 36 Freundschaften, 36 mal ein Hoch auf die, die kämpfen. Wir sind sowas wie eine Protestcrew, aber jeder von uns schreibt, was er denkt.“ Ob Graffiti in Chile politisch sei? „Hier haben die Leute angefangen, die Straßen zu bemalen, um Slogans gegen die Diktatur zu verbreiten. Es gab eine kommunistische Brigade, die Ramona Parra hieß und murales gemacht hat. Während der Diktatur wurden einige von ihnen umgebracht oder ins Exil geschickt. Als dann die Exilierten zurückkamen, brachten viele von ihnen Geschichten von den Graffiti- und Street-Art-Szenen aus Europa und den USA mit. Heute gibt es Leute, die politische Botschaften sprühen oder auch einfach nur ihren Graffitinamen, alles eine individuelle Entscheidung.“
Wir ziehen weiter, die Stimmung ist gelöst, auf dem Weg zum nächsten Spot wird getaggt. Auf einmal gibt es Geschrei: „Ihr verdammten Jugendlichen! Habt ihr nichts Besseres zu tun? Verschwindet!“ Eine ältere Frau hat Manu beim Sprühen erwischt und steht schimpfend am Fenster. Wir rennen weg, um die nächste Straßenecke und ziehen weiter. Das Adrenalin spornt die Gruppe weiter an. Luche steigt auf die Schultern von Manu und Juan und malt ein kunstvolles 3636 in drei Metern Höhe an die Wand. Die brasileña, eine der Methoden um höher zu kommen und zu taggen. Auf einmal bricht Panik aus: „Schnell weg! Schnell weg! Die pacos!“ Eine Polizeistreife hat uns gesehen und angehalten. Wieder rennen wir, dieses mal bis zu einem Park und verschnaufen dort. „Wenn wir weniger gewesen wären, wären sie uns wahrscheinlich hinterhergefahren und hätten uns festgenommen“, meint Gabo. Festgenommen werden will niemand. „Wenn sie dich erwischen, verprügeln sie dich erst, bringen dich dann in die Wache und verprügeln dich dort nochmal. Das sind Schweine“ „Eigentlich sind Schweine schön, die pacos aber…“, meint Luche. Gelächter bricht aus.
Der nächste Spot steht an, dieses Mal eine Wand an einer tagsüber stark befahrenen Straße. Nachts ist hier wenig bis gar nichts los. Die Nervosität steigt. Brian und Luche halten dieses Mal Wache. Aber es läuft nicht rund. Zwei Mal wird die Arbeit unterbrochen, weil eine Streife vorbeifährt und die ganze Gruppe verschwindet in Seitenstraßen. Zu allem Überfluss macht eine Alarmanlage keine 100 Meter weiter mittendrin Radau. Nach einer nervösen viertel Stunde – viel zu lang, wie Brian versichert – ist das Bild endlich fertig. Wir teilen uns in Kleingruppen auf und laufen auf verschiedenen Wegen weiter, um uns an einem letzten Spot zu treffen.
Eine Mauer, vier auf zwei Meter, ist das nächste Ziel, dieses Mal in einer Seitenstraße ohne viele Leute. „Normalerweise würden wir zu sechst malen, aber heute sind viele pacos unterwegs“ meint Juan während er Schmiere steht. Die Anspannung und Erschöpfung nach zwei Stunden durch die Stadt laufen und rennen ist den Leuten anzumerken. Juan fängt an, lauthals zu lachen. „Was macht ihr denn da? Da steht 3366!“ Nach einer kurzen Pause wird weitergemalt, 3636 soll es sein. Als das Piece fast fertig ist, stürmt ein Mann mit einer Flasche in der Hand auf uns zu. „Was macht ihr da? Könnt ihr nicht das Eigentum von anderen Leuten respektieren? Ihr verdammten Faulenzer!“ „Beruhig dich, Mann! Ist das deine Wand? Wir machen die Stadt ein bisschen bunter, freu dich doch darüber! Das ist Kunst“ „Verschwindet von hier! Ich ruf die Polizei!“ Und wieder rennen wir weg. Manu sprintet grinsend vorbei „Das sind die Graffitimomente. Wenn du fast erwischt wirst und das Adrenalin voll da ist.“
Erschöpfung macht sich breit. Die Sprühdosen sind auch fast alle leer. Ein letztes Bier wird gekauft und wir setzen uns in einen Park. „Normalerweise machen wir nicht so viele Pieces an einem Abend“, meint Luche, „aber heute hat es gepasst.“ Der Park ist voll von jungen Leuten, die trommeln, Bier trinken und kiffen, was der Polizei anscheinend nicht passt. Vier Streifenwagen rasen auf die größte Gruppe zu. Alle rennen panisch weg, wir beobachten noch, wie die Polizist*innen die Trommeln beschlagnahmen, dann sind auch wir weg. Eine Straßenecke weiter wandern die leeren Sprühdosen in einen Mülleimer. Für 3636 ist der Abend vorbei und die Stadt ein bisschen bunter.

*alle Namen von der Redaktion geändert

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