Brasilien | Nummer 471/472 - Sept./Okt. 2013

„50 Jahre Wachstum in nur 4 Jahren“

Eine Reportage aus Cuiabá – ein Jahr vor dem Anpfiff

Die Landeshauptstadt des Sojastaates Mato Grosso bereitet sich auf die Fußball-Weltmeisterschaft vor.

Claudia Fix

Heiß ist es in Cuiabá, heiß und staubig. Bei nur 15 Prozent Luftfeuchtigkeit und 33 Grad verwandelt sich das Rollfeld, über das die Passagiere bis zu dem kleinen Flughafengebäude zu Fuß gehen, in einen Backofen. Staubig wird es nur wenige Minuten später. Denn unmittelbar neben dem Flughafengebäude liegt sie, die erste Baustelle für die WM. Hier wird die Zufahrtsstraße zum Flughafen für die 2014 anreisenden Gäste verbreitert und das Schienenbett für die neue Straßenbahn gelegt. Durch die Bauarbeiten hat sich die Straße aber erstmal in ein Nadelöhr verwandelt, das für kilometerlange Staus sorgt. Es ist Freitag am frühen Abend und auf der Baustelle wird trotz des nahenden Wochenendes noch gearbeitet. Fast alle Baumaßnahmen für die WM liegen in Cuiabá zeitlich deutlich hinter den Planungsvorgaben. Bei vielen ist fraglich, ob sie überhaupt bis zum Anpfiff fertig gestellt werden können.
Cuiabá ist eine dieser Schachbrettstädte, in der alle Wege in der Anzahl der „Blöcke“ bemessen werden. Die Landeshauptstadt des Bundesstaates Mato Grosso ist das geographische Zentrum Südamerikas, wie sie hier gerne betonen. Rund eintausend Kilometer westlich von Brasiliens Hauptstadt Brasília gelegen, ist die bolivianische Grenze nur 200 Kilometer entfernt. Damit liegt Cuiabá weit abseits der Zentralen der brasilianischen Macht, gilt als provinziell und rückständig.
„50 Jahre Wachstum in nur 4 Jahren“ wurde der Bevölkerung vor der WM versprochen. Bisher sorgen die Baumaßnahmen aber nur für eine Verschlechterung der Lebensqualität. Ständig wird der Verkehr über immer andere Straßen umgeleitet. Doch die Asphaltdecke der Nebenstraßen in Cuiabá ist so dünn, dass schon wenige Tage starken Verkehrs ausreichen, um sie in holprige Pisten zu verwandeln. 50 Jahre werde es dauern, bis alle Schlaglöcher ausgebessert sind, witzelt der Volksmund.
Wie in allen anderen Austragungsorten der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 hat sich auch in Cuiabá ein Comitê Popular da Copa – ein lokales Basiskomitee zur WM – gegründet. Die Gruppe nahm im Mai in São Paulo an einem brasilienweiten Treffen aller Komitees teil, bei dem die Öffentlichkeitsarbeit und Aktionen für die kommenden sechs Monate geplant wurden. Während des Confederation Cups im Juni überrollte Brasilien dann plötzlich eine Protestwelle, wie es sie seit zwanzig Jahren nicht gegeben hat. Im 500.000 Einwohner_innen zählenden Cuiabá demonstrierten 40.000 Menschen gegen Fahrpreiserhöhungen, Korruption und die „exorbitante Geldverschwendung“ für die WM. „Wir haben diese Proteste nicht organisiert“, stellt Camilo vom Basiskomitee in Cuiabá klar: „Es waren vor allem Studenten, die sich über die sozialen Netzwerke organisiert haben. Aber wir waren gut vorbereitet und konnten viele Argumente liefern.“
In der Hotellobby sitzen am Montagnachmittag drei der Mitglieder des lokalen Komitees: Camilo, Caio und Mariana. Alle studieren noch und arbeiten gleichzeitig als Journalist_innen in verschiedenen Institutionen. Die Ausrichtung der Weltmeisterschaft ist für sie eine politische Fehlentscheidung, die in Cuiabá vor allem eines hinterlassen wird: Schulden in Milliardenhöhe. „Für mich besteht der größte Skandal der WM-Vorbereitungen darin, dass hier Milliarden Reais ‚umgeleitet’ werden, also in eine Infrastruktur fließen, die der Bevölkerung nicht zugute kommt“, stellt Mariana fest. Und Camilo ergänzt: „Es gibt horrende Ausgaben, aber an der Fußballweltmeisterschaft wird nur ein ganz kleiner Teil der Bevölkerung teilhaben.“
Die drei haben ein Auto dabei und beschließen, zunächst zum „alten Stadion“ zu fahren, das zurzeit auch das einzige ist, das in Cuiabá funktioniert. In den fünfziger Jahren gebaut, verursachte das Stadion Presidente Eurico Gaspar Dutra nach seiner Fertigstellung einen solchen Skandal, dass der Präsident und General, dessen Namen es trägt, vor der Einweihung wieder abreiste. Das „Dutrinha“, wie es in Cuiabá genannt wird, hatte als Vorbild das legendäre Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro, es sollte eine große Sportstätte für die ganze Region werden. Doch letztlich wurde es, vermutlich aufgrund von Korruption, viel kleiner und anders gebaut als geplant.
Erst 1976 erhielt Cuiabá ein großes Stadion, das „Verdão“, das – voll funktionsfähig – 2010 abgerissen wurde, um die Arena Pantanal für die WM zu bauen. „Sie haben damit ein historisches Monument gesprengt“, empört sich Camilo noch immer. „Die Bevölkerung hatte zu diesem Bau beigetragen, die Stuhlreihen trugen die Namen der Stifter. Mit dem Verdão haben wir auch ein Stück unserer Identität verloren!“
Cuiabás bessere Zeiten im Fußball liegen weit zurück. Seit dem Beginn der 1990er Jahren spielen die beiden lokalen Fußballvereine, der Mixto Esporte Clube und der Operário Futebol Clube, in der dritten Liga. Selbst beim großen lokalen Derby – Mixto gegen Operário – kommen bestenfalls 4.000 Zuschauer, die bequem in das Dutrinha mit seinen 7.000 Plätzen passen, erzählt Caio, der regelmäßig ins Stadion geht. Auch die Preise sind überschaubar: 20 Reais kostet der volle Eintritt, ermäßigt die Hälfte. Das sind rund 7,40 Euro, beziehungsweise 3,70 Euro für die ermäßigten Karte. Eine ganz andere Dimension hat das WM-Stadion: 43.000 Zuschauer_innen werden in der Arena Pantanal Platz haben. 240 und 120 Reais werden die Eintrittskarten für die Spiele der Weltmeisterschaft kosten. Wie wird das Stadion in Zukunft genutzt werden? „Was den Fußball angeht, wird die Arena Pantanal ein ‚weißer Elefant’ werden“, kritisiert Camilo: „Es gibt hier nicht genügend Publikum, um so ein Stadion, wie sie es jetzt bauen, zu füllen. Der offizielle Diskurs ist, dass es anschließend für kulturelle Events genutzt werden soll, für Shows und so weiter.“
Als wir am späten Nachmittag an der Baustelle ankommen, sind die Arbeiten noch in vollem Gange. Baumaschinen bewegen Erdmassen vor dem Rohbau, ein Lkw befeuchtet den trockenen Boden mit Wasser. „Hier wurde in drei Schichten gearbeitet, auch nachts. Das erste für den Bau verantwortliche Unternehmen musste deshalb Konkurs anmelden. Sie konnten die Überstunden nicht bezahlen und die höheren Löhne für die Nachtarbeit.“, berichtet Caio. Dann gab es einen Streik, Konflikte im Unternehmen und schließlich den Konkurs, sagt er. Während des Stillstands auf der Baustelle habe es dann ständig Gerüchte gegeben, dass die WM in Cuiabá jetzt nicht mehr stattfinden könne. Doch dann, auf einmal die Lösung: „Schließlich verkündete Mauro Mendes Ferreira, selbst Unternehmer und einer der reichsten Bürgermeister Brasiliens, dass ein neues Konsortium gefunden wurde. Wir vermuten, dass dieses Konsortium mit seinem Unternehmen irgendwie verbunden ist. Er konnte sich so als ‚Retter’ der WM für Cuiabá präsentieren“, resümiert ­Caio. Die Arena Pantanal liegt am Rand der Innenstadt und da hier bereits ein Stadion seinen Standort hatte, mussten keine Häuser weichen, um für die WM zu bauen. „Das ist ein großer Unterschied zu anderen Austragungsorten der WM. Die Baumaßnahmen führen in Cuiabá nicht notwendigerweise zu Vertreibungen“, stellt Camilo fest. Doch das gilt nicht für alle Teile der Stadt.
Auf dem Weg zu einem der Viertel, in dem Häuser abrissen werden sollen, um einer neuen Entlastungsstraße Platz zu machen, liegt ein kleiner Bach inmitten tropischer Vegetation, der Córrego Barbado. Der Gestank ist kaum zu ertragen. Ohne städtische Abwasserentsorgung haben sich die 29 Bäche und Zuflüsse zum Cuiabá-Fluss mit der wachsenden Stadt in Abwasserkanäle verwandelt. 19 von ihnen gelten bereits als „tot“, wie die Tageszeitung Diario de Cuiabá 2013 meldete. Und auch hier baut die SECOPA, das Sonder-Sekretariat für WM-Aufgaben. Doch es geht nicht darum, den Bach zu schützen und die Wasserqualität zu verbessern. Der Córrego Barbado soll vollständig kanalisiert werden, um entstehende Freifläche für die Entlastungsstraße zu nutzen.
Zwanzig weitere Minuten durch dichten Verkehr stehen wir dort, wo die neue Avenida Parque do Barbado die bestehende Hauptstraße kreuzen soll. Sie wird über dem Corrégo Barbado mitten durch ein ärmeres Stadtviertel mit kleinen Häusern führen. „Es wurde angekündigt, dass 900 Familien aus vier Stadtteilen ‚umgesiedelt’ werden“, berichtet Caio. Aber dieses Projekt wurde schon dreimal geändert, es gab Versammlungen mit den Bewohner_innen, öffentliche Anhörungen und Proteste. Das hat gewirkt, wenn auch nur teilweise. „Heute gehen wir davon aus, dass weniger als 100 Familien ihre Häuser verlassen müssen“, berichtet Caio. „Vor drei Monaten traf es acht Familien, die Geld erhielten und einen städtischen Lkw für den Umzug benutzen konnten.“ Ein neues Haus aber, das bekommen sie nicht. Der Grund für diese „Umsiedelung“ ist der Bau der neuen Straßenbahn, der VLT.
Der VLT, wie die neuen städtischen Bahnen genannt werden – ist hier das teuerste aller WM-Projekte: 1,47 Milliarden Reais, knapp 470 Millionen Euro also, werden in Cuiabá für 22 Kilometer Straßenbahn ausgegeben, die den Flughafen mit der Innenstadt verbinden soll. Dabei kämpfen die Ingenieur_innen vor allem mit der Technik. Im Juni 2013 wurde bekannt, dass die Niveau-Abweichungen im Untergrund zum Teil 40 Zentimeter betragen – zwei Zentimeter sind aber bereits ausreichend, um die Bahnen entgleisen zu lassen. Noch ist völlig offen, ob die Fertigstellung der Bahnlinie bis zur Eröffnung der Weltmeisterschaft gelingen wird. Das Basiskomitee in Cuiabá bezweifelt es, hält es für möglich, dass der VLT gar nicht in Betrieb genommen wird. „Ich sehe das so, dass die WM niemals nach Cuiabá hätte kommen dürfen, nicht mal nach Brasilien“, fasst Camilo seine Kritik zusammen: „Das Land braucht Dinge, die viel wichtiger sind, vor allem ein gutes Gesundheits- und Bildungssystem.“

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