Literatur | Nummer 490 - April 2015

Achtung! Beißende Bücher

Wie eine Initiative in La Plata verloren gegangene Erzählungen zurückerobert

Während der argentinischen Diktatur wurden im Zuge der Unterdrückung vielfältiger künstlerischer und kultureller Ausdrucksformen auch zahlreiche Werke der Kinder- und Jugendliteratur zensiert. Das Projekt Libros que muerden (Beißende Bücher) aus La Plata widmet sich seit acht Jahren der Recherche und Wiederbeschaffung der damals zensierten Bücher: Bis heute wurden bereits über 400 Exemplare ausfindig gemacht.

Martina Dominella, Übersetzung: Ulrike Bickel

„Es kam der Zeitpunkt, als sich die gesamte Polizeizentrale fragte: Ist es verboten, auf den Händen zu laufen? Und so sehr sie auch danach suchten, in Stapeln von Büchern, stundenlang, dieses Verbot tauchte nicht auf. Nein, es tauchte nicht auf.“

Dieses Fragment aus der Geschichte „Der Fall Gaspar“ stammt aus dem Kinderbuch „Un elefante ocupa mucho espacio“ (Ein Elefant nimmt viel Platz ein) von Elsa Bornemann. Es ist eins der schätzungsweise 1.200 Werke aus Kinder- und Jugendliteratur, die der Zensur der zivil-militärischen Diktatur Argentiniens von 1973 bis 1986 zum Opfer fiel. Das Buch von Elsa Bornemann wurde nach Ende der Diktatur wieder neu aufgelegt und ist nun wieder Lehrmaterial in vielen Grundschulen. Die Initiative Beißende Bücher aus La Plata im Süden der Provinz Buenos Aires widmet sich der bibliografischen Nachforschung, Recherche und Wiederbeschaffung jener Kinder- und Jugendliteratur, die während der Diktatur verboten wurde. Erstmals trat die Initiative der Gruppe La Grieta (der Riss) am 24. März 2006 im Rahmen des 30. Jahrestags des Militärputsches mit einer Sammlung von einem Dutzend ehemals zensierter Bücher an die Öffentlichkeit. Heute hat La Grieta bereits über 400 verlorene Exemplare der Kinder- und Jugendliteratur, darunter Schulbücher, Lexika, Märchen und Romane ausfindig und in der von ihr betriebenen Bibliothek für Kinder- und Jugendliteratur öffentlich zugänglich gemacht.
Die staatliche Repression zu Zeiten der Diktatur bezog sich nicht nur auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik des Landes, sondern schloss auch eine systematische Kontrolle des kulturellen Lebens mit ein. Die Publikationstätigkeit war ein viel beachteter Bereich, wobei die machthabenden Militärs und die zivilen und kirchlichen Komplizen ein besonderes Augenmerk auf die Kinder- und Jugendliteratur richteten. Die Zensur von Büchern wurde von zentraler Stelle als planmäßiges, systematisches Projekt mit klar definierten Zielen betrieben und in verschiedenen Sektoren, mittels spezifischer institutioneller Kontrollstrukturen, umgesetzt. Sie betraf sowohl Autor*innen, (wie Alvaro Yunque, Laura, Jacques Préert oder María Elena Walsh) als auch Illustrator*innen (wie Víctor Viano und Ayax Barnes) und Verlage, unter ihnen Rompan Fila, Editorial de la Flor und Centro Editor de América Latina.
Zu den von wiederbeschafften Büchern gehört z.B. Cinco dedos („Fünf Finger sind eine Faust“) aus dem Kinderbuchkollektiv aus Ostberlin, das 1975 in Argentinen von Ediciones de la Flor verlegt wurde. In der Geschichte verfolgt eine grüne Hand die Finger einer roten, die sich dann zu einer roten Faust zusammentun, um sich zu verteidigen und die Verfolgerin zu besiegen. Aufgrund der „indoktrinierenden Absicht, die schon auf eine vorbereitende ideologische Einnahme hinausläuft, die dem subversiven Handeln so zu eigen ist“ wurde das Buch am 08. Februar 1977 verboten. Die Nachricht der Zensur wurde per Radio übermittelt und die Herausgeber Daniel Divinsky und Kuki Miler wenig später festgenommen und 127 Tage inhaftiert. So erzählt jedes einzelne der wiederbeschafften Exemplare eine solche oder ähnliche Geschichte. Neben ihren Inhalten wurden die Bücher also auch selbst Träger von weiteren Geschichten: einerseits die individuelle ihrer Zensur, Verheimlichung und Verbote, andererseits das Zeugnis ihrer Wiedererlangung, dem Heraustreten aus dem Verborgenen und ihres Wieder-Bekanntwerdens. Alle der wiederbeschafften Bücher sind Resultat intensiver Recherche und stammen mehrheitlich aus Antiquariaten, Schenkungen von Bibliotheken, darunter auch private und Online-Bibliotheken.
Dabei ist es oft auch der Zufall, der die verlorenen Bücher wieder auffindbar macht: so stieß María Pagola, Mitglied von La Grieta, während einer Reise auf eine Buchhandlung, die auf die Suche nach antiken Büchern spezialisiert war und daher mit Buchhandlungen auf der ganzen Welt in Kontakt stand. Mit deren Hilfe konnte sie ein Exemplar des spanischen Buches La historia siglo a siglo contada a los niños (Jahrhundert für Jahrhundert der Geschichte, erzählt für Kinder) von Mario Procopio in Italien ausfindig machen, das nirgendwo in Argentinien auffindbar war. 1978 wurden 5000 Exemplare dieses Buches auf Anordnung von Ricardo Roman, dem damaligen Direktor des Verteidigungsministeriums, in der argentinischen Zollbehörde festgehalten. Nach eingehender Analyse aller Kapitel des Buches, wurden die Exemplare nicht zur Einfuhr und Verteilung freigegeben und zurück nach Spanien geschickt. Ein Versuch, das Buch vor zwei Jahren aus Spanien schicken zu lassen, scheiterte an der Post. Erst 2014 konnte mit Hilfe der Onlinebuchhandlung ein Exemplar nach Argentinien gelangen. Erfolge wie dieser bestätigen den Aktivist*innen von La Grieta, dass ihre Arbeit die Mühe wert ist.
Mit ihrer Arbeit will die Initiative dazu beitragen, ein kollektives Gedächtnis zu schaffen und die verschwundenen Erzählungen wiederzuerlangen. Darüber hinaus sollen über verschiedene öffentliche Aktivitäten der Gruppe Begegnungsräume geschaffen werden, um die Lektüre und das erneute Lesen von Texten zu ermöglichen und zu teilen.
Im Jahr 2014 hat die argentinische Nationalbibliothek den Katalog „Libros que muerden“ herausgegeben, der von Gabriela Pesclevi, einer der Gründerinnen der Initiative, erstellt wurde. Der Katalog umfasst Zeug*innenaussagen, Biografien, Anekdoten über Funde, Buchbesprechungen über wiedergefundene und noch gesuchte Bücher. Im Vorwort des Katalogs heißt es: „Diese Recherche ist eine bewegende Rettung jener Biografien, die zwischen den Abgründen des Horrors durch Kinderliteratur einen Raum schufen, um eine neue Vorstellungskraft zu erwecken. In einem Land, das zu seinen elendsten existenziellen Ausdrucksformen verdammt zu sein schien“. So spricht auch der Sozialforscher Gonzalo Chaves bei der Vorstellung des Katalogs nicht nur von Verboten und Zerstörungen der Bücher, sondern auch von der Rebellion und dem Widerstand der Frauen und Männer, die trotz Zensur weiter geschrieben, herausgegeben und sich manifestiert haben: „Das ist sehr wichtig, weil wir in einem Moment leben, in dem wir eine frischere Erinnerung brauchen, eine vollständige Erinnerung, die wir uns mehr zu eigen machen und die nicht nur von der Unterdrückung spricht, sondern auch vom Widerstand gegen diese Unterdrückung“.
Da es über das ganze Land verteilt verschiedene Zensurmechanismen und unterschiedliche Zensurkriterien auf Provinzniveau gab, ist es unmöglich, eine komplette, erschöpfende Liste der zensierten Materialien zu erstellen. Dieser Umstand erschwert die Wiederbeschaffung der Bücher, so dass die Aktivist*innen von La Grieta bei ihrer Arbeit auf die Durchsicht von Dekreten, Rundschreiben und Ministerialerlassen, Interviews mit Autor*innen und Wissenschaftler*innen, sowie damaliger Presseberichterstattung angewiesen sind. Während der Diktatur zirkulierten in Radio, Fernsehen, Tageszeitungen, Buchhandlungen und Bildungsinstituten schwarze Listen mit den Namen von Autor*innen, Komponist*innen und anderen Künstler*innen, die de facto von der Regierung verboten waren, viele darunter in Form von Dekreten oder Rundschreiben. Weiterhin wurde eine Zensur „mit der Schere“ betrieben, d.h. nicht nur komplette Werke wurden zensiert, sondern auch bestimmte Ausschnitte, die die Militärs als gefährlich oder subversiv bewerteten, fielen der Abänderung oder Streichung zum Opfer. Libros que muerden fand beim Zusammentragen des Materials heraus, dass viele Publikationen nicht einmal auf den schwarzen Listen standen oder explizit verboten waren, sondern aufgrund von Gerüchten oder der Erwähnung eines anderen Titels des*der gleichen Autor*in oder des gleichen Textbandes in einem Verbotsdekret präventiv aus dem Verkehr genommen wurden. Hierbei spielten Selbstzensur und die Angst von Buchhändler*innen und Bibliothekar*innen eine entscheidende Rolle.
Die Journalistin Josefina Oliva sieht eine mögliche Begründung für die genaue Verfolgung der Kinderliteratur in den Veränderungen, die sich während dieser Jahre in den Texten vollzogen und die einen Raum für Kreativität und Freiheit schufen. So fanden sich Veränderungen der Sprache, der Atmosphäre, in der die Geschichten sich abspielten, eine neue Beziehung zu den Lesenden und die Verwendung von Humor und Parodie.
In diesem Sinne äußert sich auch die Herausgeberin Pesclevi: „Die Geschichte der Zensur ist die Geschichte der Kultur. Diese Analyse zeigt uns, dass die Texte eine Fähigkeit haben, Brüche zu produzieren: Sie unterschätzen die Kinder nicht; sie erlauben es, kühn über neue Themen und neue Möglichkeiten des Schreibens nachzudenken.“ So schien dies der Grund dafür zu sein, dass auch die Literatur, die für Kinder gedacht war als „gefährliche Literatur“ eingestuft wurde und der systematischen Zensurpraktik der Terrormaschinerie der Militärs zum Opfer fiel.
Über dreißig Jahre nach der Wiederherstellung der Demokratie ist es weiterhin eine Schlüsselaufgabe für die argentinische Gesellschaft, die Zeug*innenenaussagen von Autor*innen, Herausgeber*innen, Illustrator*innen und die zensierten Texte und Materialien wiederzubeschaffen. Die Tragweite, die die Diktatur für die Kultur des Landes hatte, wirkt sich noch bis heute auf die Gesellschaft aus.

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