Brasilien | Nummer 397/398 - Juli/August 2007

Agrarreform allein ist nicht genug

Kritik am Neoliberalismus und Plädoyer für eine moderne Agrarreform auf dem 5. MST-Kongress

Die brasilianische Landlosenbewegung MST nutzte ihr nationales Treffen in der Haupstadt Brasilia, um sich auszutauschen und mit internationalen Gruppen zu vernetzen. Doch der von einigen erwartete Bruch mit der regierenden Arbeiterpartei PT blieb aus.

Andreas Behn

Mit einer eindrucksvollen Demonstration ist der 5. Kongress der brasilianischen Landlosenbewegung MST zu Ende gegangen. Eine endlose Schlange vom Menschen zog durch die breiten Straßen der Hauptstadt Brasilia, vorbei an der US-Botschaft, bis zur Abschlusskundgebung am Platz der Drei Gewalten. Ein großer Teil des Regierungsviertels wirkte wie ein Meer aus roten T-Shirts und Fahnen, alle mit dem Symbol der Landlosenbewegung.
Nach dreieinhalb Tagen intensiver Debatten auf Plenumsveranstaltungen, in Seminaren und abends an vielen Tischen in der riesigen Zeltstadt, die rund um den Veranstaltungsort aufgebaut wurde, stand am Vormittag des 15. Juni der offizielle Abschluss an. Die 18 Punkte umfassende Abschlussdeklaration enthielt die zentralen Forderungen der MST, darunter die strikte Ablehnung des Einsatzes von genmanipuliertem Saatgut, eine Kritik an der zunehmenden Macht des Agrarbusiness und die kritische Position des internationalen Verbands der Landbewegungen, Via Campesina, zum Boom der Produktion von Kraftstoffen aus Agrarprodukten. Großen Anklang fand auch ein Grußwort von Subcomandante Marcos aus Chiapas, das am Ende der Veranstaltung verlesen wurde.
Egidio Brunetto, Mitglied der nationalen Führung der MST, zog eine positive Bilanz: „Das erste erfreuliche Ergebnis ist die Anzahl der Teilnehmer dieses 5. Kongresses unserer Bewegung: Wir hatten mit 15.000 Delegierten gerechnet, inzwischen sind sogar 17.500 hier dabei. 40 Prozent von ihnen sind Frauen, noch nie in unserer 23-jährigen Geschichte haben wir eine solch ausgewogene Beteiligung erreicht. Ein weiterer Erfolg sind die breiten Allianzen, die wir hier schmieden konnten. Insgesamt waren 155 Delegierte aus dem Ausland und an die 500 VertreterInnenn aus brasilianischen Organisationen präsent. Hinzu kommt der Dialog, der mit mehreren Gouverneuren von Bundesstaaten zum Thema Agrarreform geführt werden konnte.”

Neues Modell für Agrarreform

Die Delegierten und AktivistInnen der MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) waren aus allen Landesteilen nach Brasilia gereist. Sowohl quantitativ wie auch qualitativ in Bezug auf die erkämpften Errungenschaften sei es eines der größten Treffen einer BäuerInnenbewegung, die es je gegeben habe, sagte MST-Sprecherin Marina dos Santos auf der Auftaktveranstaltung am Montag dem 11. Juni.
Die Kritik am neoliberalen Wirtschaftsmodell und die Suche nach Wegen zu einer modernen Agrarreform standen im Mittelpunkt des Kongresses, der unter dem Motto „Agrarreform: Für soziale Gerechtigkeit und die Souveränität des Volkes” stand. João Pedro Stedile, ebenfalls Mitglied der nationalen Leitung, erklärte das Konzept einer neuen Art von Agrarreform, das die MST propagiert: „Es reicht nicht mehr aus, den Landlosen ein Stück Land zu geben. Denn sie haben weder die Mittel zur Produktion, noch können sie auf dem Markt verkaufen.” Deswegen müssten neue, vor allem inländische Absatzmöglichkeiten geschaffen werden sowie ökologisch und nachhaltig produziert werden, führte Stedile aus. Er fügte hinzu, dass die Entwicklung dieses neuen Modells ein historischer sozialer Prozess sei, weswegen heute noch keine fertigen Antworten oder ausformulierte Konzepte existierten.
Stedile machte auf einer Pressekonferenz den Neoliberalismus für die Schwierigkeiten in der Landwirtschaft verantwortlich. In Brasilien habe das Agrobusiness, das der Aktivist als Hochzeit von internationalem Kapital mit dem Großgrundbesitz bezeichnet, alles unter Kontrolle. „Die Unternehmen definieren die Technologie und kontrollieren den Markt.” Wer da nicht mitmache, habe keine Chance. Deswegen habe das Agrobusiness für die verarmte Landbevölkerung nur eine Lösung parat: „Die Migration in die Favelas der Großstädte.”
Die Stimmung war gut unter den AktivistInnen, die die Tage auch zu einem intensiven Austausch untereinander nutzten. Rund um die Uhr war ein Camp-Radio aus Lautsprechern zu hören, das über den Verlauf der Veranstaltung informierte und Produktionen der freien Radios Brasiliens übertrug. Für die Zeltstadt und die gesamte Infrastruktur wurde laut den Veranstaltern 31.000 Quadratmeter Plane zu Zelten verarbeitet. Rund 400 Erzieher betreuten über 1.500 Kinder, die mit ihren Eltern mitgereist waren, 70 Ärztinnen kümmerten sich um das Wohlbefinden der TeilnehmerInnen. Das Essen wurde in mehreren großen Küchen für alle zubereitet. Eine Delegation aus jedem Bundesstaat sorgte für ihre eigenen Leute und eventuelle Gäste, die gerne mitverpflegt wurden. Bis spät abends hatten diverse große Zelte geöffnet, es wurde getanzt, getrunken und diskutiert.
„Für mich bedeutet dieser Kongress, angesichts seiner Größe und des humanitären Potentials, das hier zu spüren ist, einen historischen Einschnitt,” erklärte Plutarco Emilio García, mexikanischer Repräsentant des weltweiten Dachverbands von Bauernorganisationen, der mit einer Delegation aus knapp 20 Ländern in Brasilia präsent war. „In gewissem Sinne gehen wir hier einen Schritt auf unsere Utopie zu. Dies bedeutet, eine so starke Bewegung aufzubauen, dass wir nicht nur Einfluss auf die Agrarpolitik weltweit nehmen können, sondern dass wir jetzt schon die Basis für die Gesellschaft schaffen, die wir uns wünschen. Eine solidarische und kommunitäre Gesellschaft, die sich selbst bestimmt und auf kollektiven Strukturen aufbaut. Es ist diese Utopie, die wir hier auf diesem Kongress leben.“
Auch Gilmar Mauro, ebenfalls Mitglied der nationalen MST-Führung, der bei den Protesten gegen den G8-Gipfel in Rostock dabei war, thematisierte auf dem Kongress die Folgen des zunehmenden Einflusses des Agrarbusiness. Er machte die kapitalistische Logik für ausbleibende Entwicklung und immer größere Umweltschäden verantwortlich. Als Beispiel nannte er die Fleischwirtschaft in Brasilien, die Millionen von Hektar besten Landes dafür einsetze, um einen Exporterlös von knapp vier Milliarden US-Dollar zu erwirtschaften. Ein einziges Unternehmen, der brasilianische Flugzeugbauer Embraer, erwirtschafte das gleiche Volumen mit gerade mal 1.700 MitarbeiterInnen in wenigen Produktionshallen.

Kritik an Lula

In diesem Kontext kritisierte Mauro auch die Freihandelsverhandlungen mit Europa: “Wir sollen immer mehr Agrargüter exportieren, und gleichzeitig unseren Markt für ihre industrialisierten Produkte öffnen. Es wäre das Ende aller Entwicklungsbestrebungen, denn ohne Industrialisierung bleiben wir in der Sackgasse.”
Das Verhältnis zur Regierung von Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva war auf dem Treffen kaum Thema. „Auf diesem Kongress steht dieses Thema nicht zur Diskussion,” stellte Marina dos Santos bereits am zweiten Tag klar. Dennoch wurde dem Thema nicht ausgewichen, auf Nachfrage machten die MST-Verantwortlichen deutlich, dass sie alles andere als zufrieden mit der Regierung der Arbeiterpartei PT sind und nicht müde werden, ihre Forderungen vorzutragen sowie Druck durch Demonstrationen und Landbesetzungen auszuüben. Andererseits hält es der MST für absurd, Lula alle Schuld zuzuschieben. Vielmehr sei die heutige, größtenteils neoliberale Politik des ehemaligen Gewerkschafters auf das politische Kräfteverhältnis im Land zurückzuführen.

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