Land und Freiheit | Nummer 447/448 - Sept./Okt. 2011

Agrarrevolution mit Handbremse

In Bolivien kommen die von Präsident Evo Morales angekündigten einschneidenden Landreformen nur schwer in Gang

Die arme Landbevölkerung hatte sich mit dem Wahlsieg von Evo Morales 2005 ein Ende der ungleichen Landverteilung erhofft. Doch trotz einiger Erfolge ist das bisherige Ergebnis seiner Politik für viele unbefriedigend, die traditionelle Elite des Landes konnte viele Privilegien verteidigen. Die aktuellen Konflikte um den Bau einer Überlandstraße und ein neues Agrargesetz verweisen zudem auf Interessensunterschiede innerhalb der Unterstützungsbasis von Morales.

Börries Nehe

Am 15. August begannen etwa 1.500 Mitglieder verschiedener indigener Gruppen des bolivianischen Tieflandes ihren Marsch von Trinidad, der Hauptstadt des Departamento Beni, in Richtung des Regierungssitzes La Paz. 500 Kilometer wollen die Aktivist_innen zurücklegen, um so gegen den von der Regierung von Evo Morales beschlossenen Bau einer Überlandstraße zu demonstrieren, die quer durch das so genannte Indigene Territorium und Nationalpark Isiboro Sécure (TIPNIS) führen soll. Der Präsident selbst hat die Bewohner_innen des TIPNIS hart kritisiert und schon angekündigt, die Straße werde gebaut, „ob sie das nun wollen oder nicht“. Unterstützung erhält er dabei unter anderem von den Kokabäuerinnen und -bauern, die sich in einem gesonderten Teil des TIPNIS niedergelassen haben. Diese erhoffen sich von der Nord-Süd-Trasse die Erschließung neuer Märkte und Einnahmequellen, wohingegen indigene Gemeinschaften einen massiven Zustrom von campesin@s aus La Paz und Cochabamba und den damit verbundenen Verlust ihres Territoriums befürchten.
Mit dem Konflikt um das TIPNIS ist die Diskussion um die „Agrarrevolution“, die Evo Morales 2006 ausrief, erneut voll entfacht – insbesondere, weil die „indigenen Territorien“ eigentlich deren Herzstück sein sollten. Damals hatte der bolivianische Präsident dem Großgrundbesitz den Kampf angesagt und eine Umverteilung des Landes sowie günstige Kredite für Kleinbauern und _bäuerinnen, die Schaffung alternativer Märkte und eine Technisierung der Landwirtschaft in Aussicht gestellt. Doch anstatt eine neue Agrargesetzgebung zu erarbeiten, beschloss die regierende Partei Bewegung zum Sozialismus (MAS), die geltende, aus der neoliberalen Hochphase stammende Rechtslage um das „Gesetz zur gemeinschaftlichen Ausrichtung der Agrarreform“ zu erweitern. Auf diese Weise wurden dem Nationalen Institut für die Agrarreform (INRA) neue Instrumente an die Hand gegeben, um zu überprüfen, ob die Agrareinheiten die gesetzlich vorgeschriebene „ökonomisch-soziale Funktion“ erfüllen, also wirtschaftlich und sozial nutzbringend sind. Sind sie dies nicht, wie beispielsweise unproduktiver oder auf Sklavenarbeit basierender Agrarbesitz, kann das INRA den Besitz enteignen und das Land in Form von kollektiven Besitztiteln indigenen Gruppen zuschreiben. In diesen „ursprünglichen gemeinschaftlichen Ländereien“ (TCO), von denen das seit 1990 bestehende TIPNIS eine der ersten ist, genießen indigene Gemeinschaften gewisse Autonomierechte und – zumindest theoretisch – Mitbestimmungsrecht über die Nutzung von Ressourcen.
Parallel dazu hat das INRA die Überprüfung der Rechtmäßigkeit bestehenden Privatbesitzes und Schlichtungen im Fall von unklaren Besitzverhältnissen vorangetrieben. Durch diesen schon seit 1996 laufenden Prozess erhalten Landbesitzer_innen neue, gültige Besitztitel, was Rechtssicherheit und einen funktionierenden Landmarkt ermöglichen soll. Im Zuge dessen ist auch die Identifizierung der Ländereien, die sich in Staatsbesitz befinden, vorangeschritten. Diese sollen laut Gesetz ebenfalls an landlose oder landarme Bäuerinnen und Bauern sowie indigene Gruppen verteilt werden, auch hier zumeist in Form von kollektiven Landtiteln.
In den vergangenen fünf Jahren hat die Regierung Morales so etwa vier Millionen Hektar Land von mittelgroßen und großen Agrarbetrieben sowie weitere drei Millionen Hektar von individuellen Kleinbäuerinnen und -bauern mit gültigen Besitztiteln versehen. Vor allem aber hat ihr die Verteilung ehemals staatlicher Ländereien erlaubt, 16 Millionen Hektar Land in Form von TCOs indigenen Gruppen zuzuerkennen, weitere vier Millionen Hektar gingen, ebenfalls als kollektives Eigentum, an Bauerngemeinschaften.
Doch genau damit soll nun Schluss sein. Inmitten des Konflikts um das TIPNIS erklärte Roberto Coraite, Generalsekretär der bolivianischen Bauerngewerkschaft CSUTCB, die derzeitige Agrargesetzgebung sei „diskriminierend“ und „obsolet“, da „kleine Gruppen immense Territorien besitzen, während die Mehrheit der Bauern winzige Schollen bearbeitet“. Dabei bezieht Coraite sich wohlgemerkt nicht auf Großgrundbesitzer, sondern auf indigene Gruppen. Die Forderung nach einem völlig neuen Agrargesetz, die CSUTCB und andere Bäuerinnen- und Bauernorganisationen vertreten, wurde von Evo Morales begeistert aufgenommen. Anfang August bat der bolivianische Präsident die CSUTCB einen Gesetzesvorschlag vorzubereiten. Schon Mitte Oktober soll das neue Gesetz verabschiedet werden. Zwar soll dessen Hauptziel die Beseitigung des klassischen Latifundiums sein, kritische Beobachter_innen befürchten dennoch, dass einige der zentralen Errungenschaften der bisherigen Agrarpolitik der Regierung in Frage gestellt werden könnten. Denn die derzeitige Führungsriege der CSUTCB favorisiert, ebenso wie wichtige Teile der Regierung von Morales, die Aufteilung des neu zu verteilenden Landes in individuelle Parzellen. Solcher Privatbesitz kann aber, im Gegensatz zum kollektiven Eigentum, veräußert werden – und die Erfahrung in Bolivien wie anderswo belegt, dass Kleinbäuerinnen und -bauern auf einem freien Landmarkt zumeist einen schweren Stand gegenüber großen Agrarkonsortien haben.
Der Ruf nach einem neuen Gesetz zeigt, dass trotz der beeindruckenden Zahlen, die die Regierung vorzuweisen hat, nicht alle zufrieden sind mit dem bisherigen Verlauf der „Agrarrevolution“. Insbesondere die Kleinbäuerinnen und -bauern, die zahlenmäßig und organisatorisch die wichtigsten Unterstützer_innen der MAS darstellen, pochen nun auf ihre Rechte. Die Forderung nach individuellen Landtiteln ist in nicht geringem Maße der Tatsache geschuldet, dass die Regierung ihnen finanzielle Unterstützung versagt und es außerdem versäumt hat, ihnen die Aufnahme von günstigen Krediten zu ermöglichen. Ohne eigenen Besitz können die Kleinbäuerinnen und -bauern diese auch nicht bei privaten Banken beantragen.
Im Zentrum der Debatte steht jedoch die Tatsache, dass es der MAS bisher nicht gelang, eine Antwort auf die historische Spaltung Boliviens in das von großen Landwirtschaftsbetrieben geprägte Tiefland und das durch extrem kleine, kaum mechanisierte Parzellen charakterisierte Hochland zu finden. Durch die erste bolivianische Agrarreform von 1953 wurde der Großgrundbesitz in dem dicht besiedelten andinen Teil des Landes zerschlagen und an die Kleinbäuerinnen und ‑bauern verteilt. Seitdem wurde der Besitz mit jeder neuen Generation weiter aufgesplittet. Im Tiefland hingegen wurde keines der bestehenden Latifundien belangt. Zudem wurden zwischen 1953 und 1993 mehr als 30 Millionen Hektar an individuelle Besitzer_innen vergeben, häufig als Großbesitz, mit dem Boliviens Militärregierungen ihren Getreuen dankten. Der unter extremer Landarmut leidenden, zumeist indigenen Bevölkerung im Westen des Landes steht somit eine sich „weiß“ wähnende Klasse von Großgrundbesitzern gegenüber, deren Besitz von der Regierung Morales bisher kaum belangt wurde. Zwar wurde die Mehrzahl der neuen, kollektiven Landtitel im Tiefland vergeben, doch statt enteignetes Land wurde vielmehr sich schon in staatlicher Hand befindlicher Besitz verteilt. Von den vier Millionen Hektar, die in den letzten fünf Jahren effektiv enteignet wurden, befinden sich über die Hälfte in nicht für die Landwirtschaft geeigneten Gebieten der Amazonasregion. Zwar wird versucht, dort einige landarme campesin@s aus dem Hochland anzusiedeln, die Erfolge sind jedoch mäßig.
Der Unmut der Kleinbäuerinnen und -bauern über das Ausbleiben einer effektiven, gegen das Latifundium gerichteten Politik erklärt sich auch daraus, dass die Regierung von Evo Morales in den letzten Jahren kaum neue Prozesse zur Überprüfung der Besitzverhältnisse und Titulierung von Ländereien in Angriff genommen hat. Stattdessen wurden die unter den neoliberalen Regierungen verschleppten Anträge auf Landtitel nun endlich bearbeitet und schon begonnene Prozesse zu Ende geführt. Dieses pragmatische Vorgehen hat der Regierung zwar eine ansehnliche Bilanz bei der Ausstellung von neuen Landtiteln beschert, eine „Revolution“ aber bedeutet es nicht.
Denn die Konsequenz dieser Praxis ist, dass seit 1996, als das derzeit immer noch gültige Agrargesetz erlassen wurde, gerade einmal vier Prozent des Großgrundbesitzes überhaupt auf die Rechtmäßigkeit der Besitztitel und die Erfüllung der „ökonomisch-sozialen Funktion“ hin überprüft wurden. Dabei wäre ein solches Vorgehen höchst Erfolg versprechend: Von der effektiv für die bolivianische Landwirtschaft nutzbaren Fläche wurde in den letzten Jahren nur etwa ein Viertel auch tatsächlich landwirtschaftlich genutzt. Der verbleibende Rest liegt brach und dient seinen Besitzern als Pfand, um an günstige Kredite zu gelangen, die sie zumeist in Immobilien- oder Börsengeschäfte investieren. Und dieses Land könnte, selbst ohne neue Gesetze, enteignet und umverteilt werden.
Dazu allerdings hat der bolivianischen Regierung bisher die Entschlossenheit gefehlt. Dieser aber bedarf es, denn die Angst vor dem Verlust ihres Landbesitzes trieb die „Barone des Ostens“ genannte Elite des Tieflandes dazu, der MAS-Regierung mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln entgegen zu treten. Die zum so genannten Halbmond zusammengeschlossenen Departamentos des Tieflandes, in denen die „Barone“ weiterhin die Kontrolle über die staatlichen Institutionen inne hielten, erklärten schon 2006 den Boykott der staatlichen Agrarpolitik. Die ersten drei Amtsjahre Evo Morales‘ waren gekennzeichnet von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der maßgeblich von Großgrundbesitzern und Unternehmer_innen organisierten und finanzierten „Bewegung für departamentale Autonomie“ einerseits sowie campesin@s, Indigenen und zentralstaatlichen Behörden andererseits. Parallel dazu versuchte die Tiefland-Elite, sowohl im Parlament als auch in der Verfassunggebenden Versammlung (VV) jede progressive Agrarpolitik zu torpedieren. Trotzdem gelang es ihr nicht, zu verhindern, dass die VV einen Artikel in ihren Verfassungsentwurf aufnahm, der eine Maximalgrenze von 5.000 Hektar für Landbesitz festlegte.
Seinen Höhepunkt fand der Konflikt im September 2008: Während der Kongress über das Gesetz zur Einberufung des Verfassungsreferendums diskutierte, waren die Departamentos des „Halbmondes“ Schauplatz eines gewalttätigen Aufstands der Autonomiebewegung, der fast zwanzig Tote forderte. Santa Cruz, die Hochburg der Autonomiebewegung, wurde tagelang von zehntausenden Indigenen und campesin@s eingekesselt. Die Wellen legten sich erst wieder, nachdem Regierungsvertreter_innen, Oppositionspolitiker_innen und die Gouverneure des Tieflandes sich über die VV stellten, den Verfassungsentwurf gemeinsam neu verhandelten – und dabei unter anderem festlegten, dass die Maximalgrenze keine Auswirkung auf bereits bestehenden Besitz habe. Kritiker_innen bemerkten bereits damals, dass dieser Beschluss einer de facto-Legalisierung von dem zumeist illegal erworbenem Großgrundbesitz gleichkomme (siehe LN 414).
Zwar stellte die bolivianische Regierung mit diesem Schritt ein Mindestmaß an Regierbarkeit wieder her, doch der Preis dafür war hoch. Die Regierung hat längst nicht mehr den gesellschaftlichen Rückhalt, über den sie in den kritischen Momenten des Konflikts mit der Autonomiebewegung verfügte, und den es für eine Offensive gegen das Latifundium wohl auch bedarf. Dabei stehen auch in Bolivien die Zeichen auf eine Verschärfung der Situation: Seit 1990 ist die für den Sojaanbau verwendete Fläche stetig gewachsen, mittlerweile wird er auf einer Million Hektar bolivianischen Bodens angebaut. Und obwohl weder Anbaufläche noch Produktivität der Agrarbetriebe auf der Höhe der Nachbarstaaten Brasilien und Argentinien sind, bildet Soja heute nach Erdgas und Mineralien das wichtigste bolivianische Exportgut.
Mit der Expansion des Sojaanbaus wächst sowohl der Druck auf die Kleinbäuerinnen und -bauern des Tieflandes, als auch die ökonomische und politische Macht der „Barone des Ostens“ und der transnationalen Unternehmen, die knapp die Hälfte der bolivianischen Sojaproduktion kontrollieren. Das Versprechen von Präsident Morales, den Großgrundbesitz aufzulösen, wird nunmehr nur sehr schwer zu halten sein – was auch bedeutet, dass eine Lösung für das Problem der Landarmut unzähliger Kleinbäuerinnen und -bauern immer weiter in Ferne rücken würde.
Das sich nun in Arbeit befindliche neue Agrargesetz wird zeigen, in welche Richtung das Land in der Agrarfrage steuert. Boliviens Bauerngewerkschaft, die mit dem ersten Gesetzesentwurf betraute CSUTCB, drängt auf entschiedenere Schritte zur Auflösung des Großgrundbesitzes sowie eine individuelle Dotierung des Landes. Die Regierung der MAS hingegen scheint in den letzten zwei Jahren einen modus vivendi mit ihren ehemaligen Widersachern aus dem Tiefland gefunden zu haben. Parallel dazu hat sie sich immer weiter von den indigenen Bewegungen entfremdet. Der Konflikt um das TIPNIS markiert den bisherigen Tiefpunkt dieser Beziehung, gleichzeitig ist der Marsch auf La Paz ein Zeichen der Unabhängigkeit und Stärke der indigenen Organisationen. Noch ist also nicht ausgemacht, wer in dem Kampf um das Land die Oberhand behalten wird.

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