Haiti | Nummer 501 - März 2016

ALICE IM TODESTAL

Haitis vergessene Choleraepidemie

„Wasser und Sanitäranlagen sind unerlässlich für die Gesundheit“, stellt die Weltgesundheitsorganisation fest. Im Jahr 1992 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen den 22. März zum Weltwassertag erklärt. Aber ein Drittel der Menschheit leidet daran, dass es in ihrer Umgebung nicht genug sauberes Wasser gibt. Das kann zum Ausbruch von Cholera führen, wie das Beispiel Haiti zeigt.

Von Andreas Boueke

Vier junge Männer hocken im Schatten einer schwarzen Plastikplane und starren auf ein Brett vor ihnen auf dem Boden. Sie spielen Domino im Staub eines Hügels oberhalb von Anse-á-Pitre, einem verarmten Zwanzigtausend-Seelen-Ort an der Südküste Haitis. Keiner von ihnen hat Arbeit. In der Gegend gibt es niemanden, der sie einstellen könnte.
Ein Mädchen kommt vorbei. Die Männer schauen zu ihr hinüber. Einer kommentiert ihre hübschen Beine. Die sechzehnjährige Alice ist auf dem Weg zum Wasserholen. Sie grüßt die Jungen auf Kreol, die Sprache der meisten Haitianer*innen. „Mein Großvater konnte sich noch an die Zeit erinnern, als es hier Quellen gab, Wälder und Äcker“, erzählt Alice. „Heute gibt es keine Bäume mehr, das Wasser ist versiegt und der fruchtbare Boden weggespült.“
Ein paar hartnäckige Büsche und stachelige Kakteen widersetzen sich den widrigen Umständen der staubigen Landschaft. Alice läuft über ausgetretene Pfade bis zu einer Stelle, an der Wasser aus einem faustdicken Plastikrohr fließt. Ein Ingenieursteam der Europäischen Union hat das Rohr vor drei Jahren verlegt. Das Wasser kommt aus einem mehrere Kilometer entfernten Flussabschnitt. Doch ein Filtersystem war nicht Teil des Projekts, obwohl das Wasser aus demselben verseuchten Fluss stammt, der an Anse-á-Pitre vorbeifließt, dem Artibonite.
Bevor Alice ihren Plastikeimer mit Wasser füllt, reibt sie ihn mit Sand sauber. „Mein Vater schimpft, wenn ich nicht glasklares Wasser nach Hause bringe. Aber einige Leute sagen, das Wasser aus dem Rohr sei verseucht. Vielleicht haben deshalb so viele Menschen Durchfall und sterben.“
Die Wasserstelle ist ein sozialer Treffpunkt. Alle Kinder, Frauen und Männer, die hier warten, kennen das Gerücht, dass das Wasser aus dem weißen Rohr mit gefährlichen Bakterien verseucht ist. Doch was bleibt ihnen anderes übrig als zu hoffen, dass es zumindest etwas gesünder ist als das Wasser aus dem Fluss, in dem sie baden und ihre Wäsche waschen?

Die Menschen in der Umgebung von Anse-á-Pitre leben ohne sauberes Trinkwasser (Fotos: Andreas Boueke)
Die Menschen in der Umgebung von Anse-á-Pitre leben ohne sauberes Trinkwasser (Fotos: Andreas Boueke)

Alice hat ihren Eimer gefüllt. Nach ihr ist ein sehr schmutziger Mann an der Reihe. Er wäscht sich die Hände, die Füße und das Gesicht. „Unser Elend interessiert niemanden“, klagt er. „Dieses Elend, das uns den Tod bringt. Alle sprechen von der Cholera. Aber in Wirklichkeit sterben wir an Hunger, die Kinder verhungern, die Erwachsenen, die Jugendlichen. Und niemand tut etwas. Die haitianische Regierung hat gesagt, sie würde unser Problem lösen, aber nichts ist passiert. Wir alle werden sterben, denn hier gibt es nichts mehr, das uns am Leben hält. Nicht einmal ein paar Kräuter oder Bananenstauden. Kein Zuckerrohr, das die Kinder kauen könnten. Alle Welt hat eine Regierung, die ihnen hilft, aber uns hilft niemand.“
Der Mann heißt Oscar Lima. Seine blauen Plastik­latschen, sein kurzes Hemd und die zerrissene Hose sind übersät von schwarzer Asche, weil er den Tag über Holzkohle produziert hat. „Eben gerade habe ich einen Sack voll Kohle nach Anse-á-Pitre getragen und ihn für zwei Pfund Reis eingetauscht. Würde ich das nicht machen, hätten wir heute überhaupt nichts zu essen. Aber wenn wir nichts essen, verhungern wir. Deshalb komme ich um sechs Uhr morgens aufs Feld, um Wurzeln zu graben. Es ist jetzt vier Uhr nachmittags und ich habe bisher noch nichts gegessen. Niemand in meiner Familie hat etwas gegessen.“
Er hält eine kleine Plastiktüte voll Reis in der Hand. „Ich habe sechs Kinder, mit meiner Frau sind wir sieben. Ich, acht. Schau‘ her, dies bisschen Reis ist für acht Personen.“
Während des kühleren Morgens hat Oscar auf einem nahegelegenen Hang Baumwurzeln aus der Erde geholt und sie zu Holzkohle verarbeitet. Auch jetzt noch graben dort einige Männer Löcher in den Boden. Einer von ihnen ist François, ein dürrer Mann, der viel jünger ist als er aussieht. Er ist sich bewusst, dass seine Arbeit dem geschundenen Ökosystem einen weiteren Todesstoß versetzt. „Aber was sollen wir machen?“ fragt er. „Es tut mir weh, all die Löcher zu sehen, die wir hinterlassen. Ich würde viel lieber etwas pflanzen. Aber hier wächst nichts mehr. Uns bleibt nichts anderes übrig, als Holzkohle zu produzieren.“
François schlägt mit einem schweren Stein gegen alte Baumstümpfe. Es gab eine Zeit, da war Haiti mit seinen boomenden Zuckerrohrplantagen die reichste Kolonie Frankreichs. Heute ist es die ärmste und am meisten entwaldete Nation des amerikanischen Kontinents.
Alice weiß nur wenig über die Geschichte ihres Landes. Sie hat ihr gesamtes Leben in dieser Gegend verbracht. Traurig schaut sie den grabenden Männern bei der Arbeit zu. „Natürlich ist es nicht gut, dass sie die letzten Wurzeln aus der Erde holen“, sagt sie. „Das ist so, als würden sie die Erinnerung an eine bessere Zeit ausgraben und zu Holzkohle verarbeiten.“
Eine halbe Stunde Fußmarsch von dem staubigen Feld entfernt steht die Kirche der Gemeinde des Pastors Bilma Tham. Manchmal bringt er ein paar Pfund Reis in die Siedlung der Familie von Alice, und predigt über Gottes Hoffnungsbotschaft. „Die Leute sehen keine Zukunft mehr,“ sagt er. „Sie denken nicht weiter als bis zum nächsten Tag. Denn sie wissen nicht, ob sie morgen etwas essen werden. Außerdem haben sie kein Wasser, denn das Wasser aus dem Fluss macht sie krank.“
Seine eigene Gemeinde hatte das Wasserproblem mit Unterstützung einer US-amerikanischen Partnerkirche gelöst. Fünf Jahre lang produzierte eine moderne Solaranlage die Energie für einen Motor, der aus 250 Metern Tiefe Grundwasser nach oben pumpte. „Doch vor einem Monat schlug aus heiterem Himmel ein Blitz ein und hat den Transformator zerstört“, erzählt Bilma Tham. „Jetzt haben wir wieder kein gutes Wasser und auch unsere Leute werden krank.“
In ganz Haiti stößt man auf dasselbe Problem, meint Pastor Bilma Tham. „Ich kenne viele Orte, an denen die Leute zehn, zwölf Kilometer weit laufen, um Wasser zu holen. In meinem Heimatdorf Enmapu gab es früher einen Fluss mit gutem Wasser. Aber dann hat es aufgehört zu regnen und eines Tages war das Flussbett leer. Jetzt gibt es auch dort kein Wasser mehr.“

Alive aus Anse-á-Pitre: "Mein Großvater kann sich noch an die Zeit erinnern, als es hier Quellen gab"
Alive aus Anse-á-Pitre: “Mein Großvater kann sich noch an die Zeit erinnern, als es hier Quellen gab”

Die haitianische Regierung hat es nie geschafft, ein funktionierendes System für Naturreservate durchzusetzen. Der Artibonite ist der wichtigste Fluss des Landes, aber auch er führt immer weniger Wasser. In Haiti sind rund fünf Millionen Menschen von diesem Wasser abhängig, doch der Artibonite bringt den Menschen nicht nur Leben, sondern auch Tod. Er hat den Choleraerreger in die Küstenregion um den Ort Antes-á-Pitre gespült. Bis zum Januar 2010 war Haiti von der Choleraplage verschont geblieben. Dann haben nepalesische Soldaten der Vereinten Nationen ihre verseuchten Latrinen in den Fluss entleert. Seither haben sich rund eine Millionen Menschen infiziert. Mindestens zehntausend sind gestorben. Es ist die schlimmste Choleraepedemie der jüngeren Menschheitsgeschichte.
Doch die Leute in der Umgebung von Anse-á-Pitre kümmern sich nicht ernsthaft um Vorbeugemaßnahmen. So trägt Alice jeden Tag ihren vollen Eimer zurück ins Lager, ohne zu wissen, ob das Wasser choleraverseucht ist oder nicht. Sie stellt den Eimer in einen Verschlag mit Wänden aus Wellblechplatten und Plastikmüll, die Küche ihrer Familie. Ein paar Schritte dahinter steht ein weiterer kleiner Raum. Alice öffnet die Tür. „Dies ist unsere Toilette. Sie ist nicht schön. Wir haben kein Wasser. Deshalb riecht es auch so. Aber wir tun unser Bestes, um alles sauber zu halten.“ Über dem Loch im Boden liegt der Deckel einer Blechtonne. Die meisten Nachbarn haben gar keine Latrine. Sie gehen einfach hinter den nächsten großen Felsen.
In Alices kleinem Schlafraum steht eine große Trommel. Sie schlägt ein paar Takte. Plötzlich beginnt draußen jemand zu singen. Innerhalb weniger Augenblicke versammeln sich viele Menschen vor der Hütte. Sie singen fröhlich mit. Alice sagt, sie liebe Musik, weil sie ihr Hoffnung mache. Auch ihre Mutter singt mit, während sie gebückt über einem Bottich voller Seifenlauge steht und Kleider wäscht. Das wenige Wasser ist genauso braun wie der nasse Erdboden, auf dem sie steht. Es stammt ebenfalls aus dem Grenzfluss Artibonite, der mit 240 Kilometern längste Fluss der Insel. Bevor er durch das Tal fließt, leiten die Bewohner*innen Hunderter Siedlungen und Dörfer ihren Unrat in sein Wasser.
Der Vater von Alice weiß seit Langem, dass der Fluss verseucht ist: „Schon vor über zehn Jahren sind Leute aus den USA hierher gekommen und haben das Wasser untersucht. Damals sagten sie, es sei voller Würmer. Sie haben uns davor gewarnt, Wasser aus dem Fluss zu trinken, sonst würden wir nicht lange leben. Sie hatten recht. Seither sind viele unserer Nachbarn gestorben.“
Eine der Nachbarinnen ist eine alte Frau, die meist reglos auf einem Tuch vor ihrer Hütte sitzt. Alice fragt sie: „Du bist krank. Was hast du?“
„Ich habe viele Krankheiten“, sagt die Frau. „Deshalb bin ich auch blind. Der ganze Körper tut mir weh, alle Knochen.“
Alice will wissen, ob die alte Frau schon im Krankenhaus war. „Nein“, antwortet sie. „Das kann ich mir nicht leisten.“
Eigentlich sollte die Behandlung in dem öffentlichen Krankenhaus von Anse-á-Pirtre nichts kosten. In der Praxis aber müssen alle Patient*innen zahlen. Wer kein Geld hat, wird abgewiesen, auch Todkranke.
Nur rund hundert Meter von der Hütte entfernt verläuft eine Staubpiste, über die täglich zahlreiche Fahrzeuge der UNO-Mission fahren. Haiti ist das einzige Land der Welt, in dem die Vereinten Nationen in Friedenszeiten einen jahrelangen Militäreinsatz durchführen. Der soll helfen, die Politik und Wirtschaft des Landes zu stabilisieren. Bis vor wenigen Wochen war auch in Anse-á-Pitre eine Truppe stationiert. Doch außer des Staubs, den die Laster aufwirbeln, kann Alice kein Ergebnis der Arbeit der Vereinten Nationen sehen.
Nach dem Abzug der Blauhelme sind zivile UNO-Mitarbeiter*innen in die ehemalige Militärbaracke gezogen. Ein junger Mann erklärt: „Wir sind eine Gruppe des UNO-Entwicklungsprogramms für Frauen. Die Ärztin Pamela Merisma kann Auskunft geben.“

Einzige Wasserversorgung: Die Menschen wissen, dass der Fluss Artibonite verseucht ist
Einzige Wasserversorgung: Die Menschen wissen, dass der Fluss Artibonite verseucht ist

Genau genommen ist die junge Frau noch keine Ärztin. Der Einsatz in Anse-á-Pitre ist Teil ihres Medizinstudiums, doch mit den Symptomen der Cholera kennt sie sich schon aus: „Die sind auf der ganzen Welt dieselben. Es beginnt mit Erbrechen und Durchfall, der wie Reiswasser aussieht und wie verdorbener Fisch riecht. Manche Kranke müssen dreißig bis vierzig Mal am Tag auf die Toi­lette. Das kann zu Dehydration führen. Die meisten Cholerapatienten sterben an Wassermangel.“
Pamela Merisma ist vor drei Wochen nach Anse-á-Pitre gekommen. Sie ist erschrocken von der Situation, die sie vorgefunden hat: „Wenn an diesem Ort nicht bald etwas geschieht, könnte sich eine Choleraepedemie über das ganze Land ausbreiten.“
Lebensbedingungen wie diese waren der jungen Medizinerin vor ihrem Praktikum völlig fremd. Sie wohnt mit ihren Eltern in Petionville, einer der privilegierten Gegenden im Osten der Hauptstadt Port-au-Prince. „Ich als Haitianerin war erstaunt, so etwas zu sehen. An solche unwirtlichen Orte bin ich nicht gewöhnt. Das ist schon erschreckend. Trotzdem bleibe ich hier und mache meine Arbeit.“
Alice wiederum kann sich das Leben der Menschen in den schicken Stadtteilen von Port-au-Prince kaum vorstellen. Sie war noch nie jenseits der Hügel um Anse-á-Pitre. Vielleicht kommt eines Tages eine kompetente Organisation und nimmt sich der Situation im Tal an. Falls nicht, geht alles so weiter wie bisher: Die Menschen sterben an Hunger und Cholera. Alice nimmt es gelassen: „Über die Zukunft kann ich nichts sagen. Nur über das Jetzt. Wer weiß schon, was morgen wird?“

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