Nummer 346 - April 2003 | Theater

“Alle unsere Stücke sind metaphorisch“

Interview mit den kolumbianischen Theater-Regisseuren Patricia Ariza und Santiago Garcia über die Geschichte des kolumbianischen Theaters

In Kolumbien formierte sich in den sechziger Jahren eine unabhängige Theaterbewegung, die sich von der bisherigen Praxis, ausländische Theaterstücke für die begüterte Oberschicht zu importieren, distanzierte. Ein Theater wurde geschaffen, das seine Motive aus dem Fundus der eigenen Kultur und Gesellschaft schöpfte. Davon ist heute nicht mehr viel übrig, meinen Patricia Ariza und Santiago Garcia, die damals eine treibende Rolle in der Bewegung spielten. Als Gründungsmitglieder des bekannten „Teatro La Candelaria“ haben beide die goldenen Zeiten der Bewegung und ihren Überlebenskampf in einer kommerziell geprägten Theaterkultur miterlebt.

Alicia Gerike

In Kolumbien gab es in den vergangenen Jahrzehnten eine weit entwickelte und breit gefächerte Theaterszene, die mittlerweile jedoch geschrumpft ist. Besonders das politische Theater. Woran liegt das?

Patricia Ariza: Fast zeitgleich mit dem Fall der Mauer und dem Ende des Sozialismus tauchte das kommerzielle Theater mit seinem eher banalen Unterhaltungsprogrammen auf. Die Folgen für uns waren äußerst fatal. Das kolumbianische Establishment hatte bis zu dem Zeitpunkt kein eigenes Theater. Mittlerweile ist das kolumbianische Theater sowohl ideologisch, philosophisch als auch künstlerisch eng mit dem Establishment verbunden und findet starkes Echo innerhalb der Bevölkerung. Zudem begann in den neunziger Jahren eine Zeit schlimmer Verunglimpfung gegen die engagierte Theaterbewegung.
Die öffentlichen Medien, die in Kolumbien das Sprachrohr der Eliten sind, schrieben Dinge wie: „Endlich haben wir ein Theater, das nicht politisch ist! Endlich gibt es im Theater etwas wirklich Wichtiges, wahrhaft Künstlerisches zu sehen!“. Einige schrieben sogar, dass wir ins Gefängnis gehörten. Die Gelder für alternatives Theater wurden gestrichen und dem kommerziellen Theater beigesteuert. Für die Theaterleute war das eine sehr schwierige Situation. Viele Gruppen lösten sich auf, denn auch der Zuspruch des Publikums wurde geringer.

Im Jahr 2000 wurde von dem deutschen Regisseur Johann Kresznik das Stück „Plan Colombia“ in Bogotá aufgeführt, das die Einmischung der USA in den bewaffneten Konflikt und die allgemeine Militarisierung in Kolumbien thematisiert hat. Wie war die Reaktion?

Ariza: „Plan Colombia“ ist ein sehr interessantes Theaterstück und kam beim Publikum sehr gut an. Der Applaus war beeindruckend. In den öffentlichen Medien bekam das Stück vorab viel Beachtung, nach seiner Aufführung wurde es jedoch nicht weiter hervorgehoben. Das Stück hätte eine größere Beachtung verdient, bekam sie jedoch nicht, weil es eine sehr kritische Aussage hat und die öffentlichen Medien in Kolumbien von der herrschenden Klasse geleitet werden.

Nach ihren Worten zu urteilen besteht innerhalb der alternativen Theaterkultur ein tiefer Konflikt mit dem Establishment und dessen Medien. Warum?

Garcia: Alle unsere Stücke waren und sind metaphorisch. Das Publikum sieht diese Metaphorik, und das ist unangenehm für die herrschende Klasse des Landes. Sie toleriert nicht die kleinste Kritik, egal in welcher Form, nicht einmal auf der Bühne. Wir haben Stücke aufgeführt, die nichts mit der heutigen Problematik zu tun haben, historische Stücke und Phantasiestücke. Aber da es sich um Theater handelt, kann es vom Publikum metaphorisch verstanden werden, und man kann selbst in Stücken, die von der Vergangenheit handeln, Kritik an der Gegenwart finden.
Ariza: Das Theater war Zielscheibe des schmutzigen Krieges, der Ende der achtziger Jahre in Kolumbien einsetzte. Ich war zu der Zeit sowohl Präsidentin der Theatervereinigung als auch Mitbegründerin der linken Partei Union Patriótica und damit Zielscheibe rechter Gruppen. Wir erhielten anonyme Todesdrohungen. Uns wurde damit gedroht, dass das Gebäude der Theatervereinigung und Theater in die Luft gesprengt werden würden. Das war eine schlimme Situation für uns.

Hatte das politische Theater in Kolumbien einen linken Charakter?

Garcia: Der Begriff politisches Theater ist für mich ein unzutreffender und zweifelhafter Terminus, weil das Theater eine Kunstform ist, und, wie jede Kunst, entspringt sie der Realität und behandelt sie. Das kann eine objektive oder auch eine subjektive Realität sein. Bestandteile der Realität wiederum sind die Politik, die Wirtschaft, die Religion, die Soziologie, die Psychologie, die Anthropologie und anderes – aus all diesen Teilen setzt sich die Realität zusammen.
Wir wollten ein Theater machen, das sich mit der Realität unseres Landes beschäftigt, und dabei war uns unsere politische Situation sehr gegenwärtig. Deshalb kann es aber nicht politisches Theater genannt werden. Ich finde „Kolumbianisches Theater“ einen passenden Begriff.
Ariza: In gewisser Weise ist jedes Theater politisch, da es zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort in einer bestimmten Situation und vom Leben der Menschen in einer Gesellschaft handelt. Die Politik ist insofern relevant für das Theater, weil jedes Kunstwerk ein Resultat der politischen und sozialen Situation seines Landes ist. Die Aufgabe des Theaters ist es, künstlerisch zu sein und ausgehend von seinen theatralen Mitteln Kritik zu entfalten. In Lateinamerika war die Theaterbewegung sehr wichtig. Es half dem Zuschauer eine kritische Sicht auf die Politik zu entwickeln. Das Theater demaskierte die Lügen in der politischen Praxis.

Aber für den Fall Kolumbien mit seinem bewaffneten Konflikt gesprochen: hatte dieses Theater nun linke Positionen aufgegriffen?

Ariza: Wir haben uns immer sehr mit linken Ideen identifiziert. Die Theaterbewegung entsprang der Studentenbewegung der sechziger Jahre. Sie erwuchs aus diesem ganzen linken Sektor, der mit der Gewerkschaftsbewegung und den linken politischen Parteien verbunden war. Mittags besuchten wir die Kundgebungen, und abends ging es dann ins Theater, um ein neues Stück anzusehen oder um selber eines aufzuführen.
Wir haben allerdings nie die Straße mit der Bühne verwechselt. Auf der Straße waren wir Privatpersonen und auf der Bühne waren wir Schauspieler, die mit den Mitteln theatraler Kunst arbeiteten.
Garcia: Wir schufen ein Theater, das begann sich über die nationale Realität bewusst zu werden. Wir machten kein Theater, das das Theater anderer Länder imitiert, in denen Dinge thematisiert werden, die hier niemanden interessieren, außer einen sehr auserwählten Kreis, der Bourgeoisie. Wir wollten ein Theater machen, das alle Menschen in Kolumbien angeht, für die Gesellschaft im Allgemeinen. Natürlich sah das dann für die herrschende Klasse so aus, als wollten wir den Menschen die Augen öffnen, sie zu verleiten, subversiv zu sein.

Gab es deshalb schon in der Gründungsphase Probleme?

Ariza: In Cali gab es zu der Zeit eine Theaterschule unter Enrique Buenaventura, die sehr wichtig war innerhalb der Theaterbewegung, das „TEC“ (Experimentelles Theater Cali). Santiago Garcia führte dort das Theaterstück „La Trampa“ auf, ein Werk, das den Militarismus in Kolumbien thematisierte. Daraufhin wurden Buenaventura und alle Schauspieler rausgeschmissen und die Schule geschlossen. Als Reaktion darauf gründeten wir 1969 die „Kolumbianische Theaterkorporation“ als vernetzendes Gremium der unabhängigen Theatergruppen. Die Theaterbewegung hatte nun ihre eigene Institution und war dadurch formal abgesichert.

Ab welchem Zeitpunkt kann man von einem ersten unabhängigen Theater in Kolumbien reden?

Ariza: Seit 1948 gab es in Kolumbien viele vergebliche Versuche, ein unabhängiges Theater mit Themen zu schaffen, die vom Land und seiner Bevölkerung handeln. Es gab zu dieser Zeit noch kein artistisches, originär kolumbianisches Theater. Es dominierten die Aufführungen aus Europa und den USA. Wenn ich von unabhängigem Theater spreche, dann meine ich damit ein Theater, das unabhängig vom Establishment ist.
1966 gelang es schließlich, das erste wirklich unabhängige Theater zu etablieren, das „Theater La Candelaria“, gegründet von Santiago. Es bildeten sich weitere Theatergruppen, die sich etablieren konnten. Bald schon konnte man von einer Theaterbewegung sprechen, der „Neuen Kolumbianischen Theaterbewegung“, die in den 70er Jahren so stark war, das im ganzen Land 400 Theatergruppen exis-tierten. In den 80er und 90er Jahren war ihre goldene Phase, in der sie ihre ganze Kraft entwickelte.
Garcia: Seit wir damals das „Theater La Candelaria“ gegründet hatten, haben wir ein Theater betrieben, das nach unseren eigenen kolumbianischen Motiven sucht, unserer Geschichte. Unser erstes Theaterstück, dass wir als kollektive Theatergruppe aufführten, nannte sich Nosotros los Comunes und behandelte ein Ereignis aus unserer Geschichte: Ein Revolte von Bauern, die sich comuneros nannten und sich gegen die spanischen Herrscher richtete. Das Stück kam beim Publikum sehr gut an. Und so begannen wir, Stücke aufzuführen, die unsere Geschichte, unsere soziopolitischen Probleme, unsere Psychologie thematisierten.

Mit der Zielstellung, das Land in seiner gegenwärtigen Kriegssituation zu verändern, zu beeinflussen?

Garcia: Wir gehen nicht davon aus, dass wir mit Hilfe des Theaters die Gesellschaft verändern werden, oder dass sich durch unsere Stücke die Zuschauer in bessere Menschen verwandeln werden. Das wäre eine religiöse oder politische Idee, mittels einer Kunst-Therapie das Individuum zu transformieren. Wir machen ein Theater, das die Zuschauer genießen sollen und in diesem Genuss begegnen sie einer anderen Weise, die Welt zu sehen. Jeder Zuschauer so, wie er kann.
Ein kolumbianisches Theater kann helfen, eine Sichtweise und Gedanken zu entwickeln, die bei der Lösung politischer und sozialer Probleme in unserem Land hilfreich sind. Es kann in dem Chaos helfen, dass wir zurzeit durchleben. Eines unserer großen Probleme ist unsere Dialogunfähigkeit. Es ist nicht möglich, den Bürgerkrieg zu beenden und Frieden zu schaffen, weil sowohl die Regierung als auch die Guerilla nicht in der Lage sind, miteinander zu sprechen.
Der Bürgerkrieg existiert jetzt schon seit fünfzig Jahren in Kolumbien und auch in der Zukunft wird keine der beiden Parteien den Sieg über die andere davontragen. Das Problem kann nicht mit Waffengewalt gelöst werden, eine Lösung des Konflikts muss mit pazifistischen Mitteln erwirkt werden, einem Dialog. Die Kunst und in diesem Fall das Theater kann dabei helfen, die Menschen der verschiedenen Parteien füreinander zu sensibilisieren, dass sie lernen, einander zu sehen, dass sie lernen, miteinander zu kommunizieren.

Wie soll das gehen, wenn das unabhängige Theater im Niedergang begriffen ist?

Ariza: Viele der unabhängigen, kollektiven Theatergruppen lösten sich im Laufe der Zeit und der Krise auf. Viele verkleinerten sich, ein paar wenige überlebten. Die Theatervereinigung, die vormals ein sehr großes und wichtiges Gremium war, hat auch seine frühere Bedeutung verloren. Eine Gruppe, die überlebt hat, sind wir, das „Theater La Candelaria“, auch wenn einige SchauspielerInnen die Gruppe verlassen haben. Ich denke, vielleicht hatte das ganze Unheil für uns in gewisser Weise auch sein Gutes, denn wir haben zu überleben gelernt. Und seit ein paar Jahren können wir wieder etwas aufatmen. Das „Theater La Candelaria“ läuft derzeit gut. Wir können zwar nicht mit dem kommerziellen Theater konkurrieren, aber es kommen weiterhin Zuschauer zu uns, denn unsere einzige Möglichkeit zu überleben, ist es, ein sehr hohes künstlerisches Niveau in unseren Stücken zu erhalten.

KASTEN:

Zur Person
Santiago García (geboren 1928 in Bogotá) hat zuerst Architektur studiert, Mitte Zwanzig fing er dann an, an der Universidad Nacional in Bogotá mit StudentInnen Theater zu machen. 1966 verlässt er die Universität um mit vielen anderen Leuten die „Casa de Cultura“ zu gründen, eine unabhängige Theaterbewegung. Als sie die Miete für ihre erste Spielstätte nicht mehr aufbringen konnten, zogen sie um und nannten sich „Teatro de la Candelaria“. Heute gibt es in Kolumbien 34 ähnliche unabhängige Bühnen. Santiago García hat bei acht Theaterstücken Regie geführt, sieben selbst verfasst.
Patricia Ariza ist Mitbegründerin des „Teatro de la Candelaria“, wo sie immer noch arbeitet. Sie studierte an der Universidad Nacional de Artes. Lange Jahre war sie Vorsitzende der kolumbianischen Theatervereinigung Corporación de Teatros. Sie arbeit als Regisseurin, Schauspielerin und seit zehn Jahren auch als Dramaturgin.

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