Migration | Nummer 413 - November 2008

Alle Wege führen nach Liberia…

Die Grenze zwischen Nicaragua und Costa Rica ist stark frequentiert

Einige Dinge sind für alle Reisenden zwischen Nicaragua und Costa Rica gleich: Die staubige Hitze des Grenzübergangs Peñas Blancas, das Stakkato der schreienden Busfahrer, die mit dicken Geldbündeln bewaffneten Wechsler, die allgegenwärtigen Straßengrills und die paar Meter zu Fuß vorbei an SoldatInnen und PolizistInnen. Viele Dinge – und zwar die spürbareren – sind es jedoch nicht. Zwei Klassen von GrenzgängerInnen pressen sich tagtäglich durch und um das Nadelöhr des einzigen Straßenübergangs zwischen Costa Rica und Nicaragua: Reisende aus Nicaragua und solche aus dem Rest der Welt. Besonders pointiert zeigt sich der große Unterschied aber zwischen jenen TouristInnen, für die die Grenze unnötigerweise die Traumstrände von Guanacaste (Costa Rica) und Rivas (Nicaragua) trennt und jenen NicaraguanerInnen, für die der Grenzübergang sich zwischen ihr Zuhause und ihre Arbeit schiebt.

Pauline Bachmann, Jan Wörlein

Eine Frau – nennen wir sie Maria – steigt aus einem Bus und läuft an einer langen Schlange vorbei, deren Anfang und Ende außer Sicht sind. Nichts bewegt sich, denn die Computer der nicaraguanischen Migrationsbehörde sind ausgefallen. Ob sie durch die tropisch feuchten 35 Grad im Schatten überhitzt sind oder die marode Technik von sich aus versagt, kann keiner sagen. Hinter den kulissenhaft anmutenden Fassaden der vor wenigen Jahren im Nichts neu errichteten Grenzgebäude ist ohnehin der Stempel die beliebteste Technik. Kleine Jungs laufen zwischen den wartenden Menschen herum und verkaufen für drei Córdoba (circa 11 Cent) Formulare, die man am Schalter auch umsonst bekommt. Da müsse man aber erst einmal hinkommen und so könne man Zeit sparen, versuchen die Jungen Wartende zu überzeugen.
Hinter der Lastwagenschleuse kommt die erste costaricanische Passkontrolle. Danach folgt eine asphaltierte Straße, die zum costaricanischen Migrationsbüro führt. „Bienvenidos a Costa Rica“, steht auf einem Schild. „Willkommen in Costa Rica.“
Maria ist Nicaraguanerin und hat schon einen langen Weg hinter sich. Sie stammt aus Chinandega, eine der nördlichen Regionen Nicaraguas und ist schon seit heute Morgen um 4 Uhr unterwegs. Sie und ihr Mann arbeiten auf dem Bau in Guanacaste, der nördlichen Pazifikregion Costa Ricas. Dort gibt es immer Arbeit, denn der Tourismus boomt und neue Hotels und Häuser sprießen förmlich aus dem Boden. Wenn die Regenzeit ihren Höhepunkt erreicht, wird die Arbeit unterbrochen und Maria fährt nach Hause, um ihre Familie zu besuchen. Und ihre Tochter. Die ist jetzt sechs Jahre alt und lebt bei ihren Großeltern. Natürlich vermisst Maria sie, aber sie möchte ihr mal ein besseres Leben ermöglichen und so ist sie gegangen und schickt nun Geld nach Hause. Als sie selbst fünf Jahre alt war, ging ihre Mutter auch zur Arbeitsuche nach Costa Rica, doch sie kam nie mehr zurück. Das will Maria anders machen und so fährt sie einmal im Jahr nach Hause, zu ihrer Tochter.
Zwischen 200.000 und 500.000 Marias leben zur Zeit in Costa Rica. So genau weiß das keiner. Nicht alle heißen so, aber alle teilen ein ähnliches Schicksal.
Maria läuft mit ihrem einzigen Gepäckstück, einem kleinen Rucksack, über das staubige Feld, auf dem Menschen sich zwischen herumrangierenden Lastwagen hindurchwinden. Sie kennt die Grenze wie ihre eigene Westentasche, kann schon nicht mehr zählen, wie oft sie sie überquert hat. Früher ist sie auch illegal nach Costa Rica eingereist. In der Zeit hat sie gelernt, nur einen kleinen Rucksack mitzunehmen. „Diese Frau“, erzählt Maria und deutet auf eine Mitreisende, „hatte drei Koffer dabei, die sie kaum alleine tragen konnte. Und sie wusste nicht, dass sie sich das Visum im Konsulat in Rivas holen muss. Und da waren wir schon fast an der Grenze. Sie hat geweint. Sie wusste wirklich gar nichts. Ich verstehe nicht, wie sich immer noch so viele auf den Weg machen, so ganz naiv ohne irgendetwas über die Prozedur zu wissen.“ Am Ende hat Maria die Frau samt Koffern bei coyotes, hiesigen Schleusern, in einen Jeep gesetzt, die sie mit nach Costa Rica schmuggeln. Das war teuer, wegen des vielen Gepäcks, aber wenn sie soviel hatte, war sie wohl auch nicht so arm. Das zumindest ist Marias Urteil.
In der Schlange zur Einreise nach Costa Rica wartet auch George. Er kommt gerade von einem Ausflug nach San Juan del Sur, einem Ort an der beliebten Strandküste im Süden Nicaraguas. Nun ist er auf dem Weg „nach Hause“. Er ist einer der immer mehr werdenden, meist US-amerikanischen ResidenztouristInnen. Residenztourismus, so umschreibt es zumindest die Werbung der großen Immobilienfirmen, Neokolonialismus heißt es bei den SozialwissenschaftlerInnen. George hat ein Grundstück in Guanacaste am Strand gekauft und sich ein Haus bauen lassen. Zuerst ist er nur in den Ferien gekommen, aber seit zwei Jahren ist er pensioniert und lebt praktisch hier. San Juan del Sur gefällt ihm besser, vor allem weil alles so viel billiger ist als in Guanacaste. „They’re nice, the nicas“ sagt er, „doch solche Chaoten“. Für die Ausreise musste er auf der anderen Seite drei Stunden in der Schlange warten, bis die Computer wieder funktionierten. Die CostaricanerInnen oder Ticos, wie sie sich selbst verniedlichend nennen, scheinen besser organisiert. PolizistInnen sorgen dafür, dass immer nur eine bestimmte Anzahl Personen in das Gebäude gelangt, wer sich nicht richtig anstellt, wird zurechtgewiesen. Auch George wird darauf aufmerksam gemacht, dass er vor den Treppenstufen zu warten hat, aber er versteht den Grenzbeamten überhaupt nicht. Er spricht kein Spanisch. Und er hat auch nicht vor, es zu lernen, „because, in the end, you know, everyone understands English at least a little bit“. Eine Haltung, die er auch mit einer wachsenden Zahl US-amerikanischer und europäischer AuswanderInnen teilt.
Nach dem Abstempeln seines Passes steigt George in ein Taxi in das eine Stunde entfernte Liberia, die nächst größere Stadt. Maria stellt sich in die Schlange derer, die auf einen Bus warten. Sie fährt auch nach Liberia, von dort nimmt sie einen anderen Bus, der sie zurück an ihren Arbeitsplatz bringt – zusammen mit hunderten anderer NicaraguanerInnen.
Maria und George fahren beide an Glenda vorbei, die in Liberia am Rande der Panamericana steht. Die Nicaraguanerin ist Haushälterin und Kindermädchen bei einer wohlhabenden Familie in San José, der Hauptstadt Costa Ricas. Ihre Bereitschaft für weniger Geld zu arbeiten und im Haus der Familie zu wohnen, macht ihre Arbeitskraft besonders begehrt. Die Arbeitszeiten sind in keinem Tarifvertrag geregelt, Urlaub gibt es nur einmal jährlich. „Normalerweise hab ich ja nur Ostern frei,“ sagt sie, während sie auf einen Bus wartet, der sie nach San José bringt. Ihre Mutter ist gestorben. Zur Beerdigung gab es eine Ausnahme, denn auch am Wochenende gibt es für sie keine Freizeit. Menschen wie sie werden gesucht in Costa Rica. In Nicaragua dagegen gab es für sie keine geregelte Arbeit. Einen Ausweis hat sie nie besessen und über einen vorab abgeschlossenen Arbeitsvertrag mit Visum verfügt sie nicht, wohl aber über das Wissen wie man auch ohne diese Papiere nach Costa Rica gelangt. Am Tag zuvor war sie gegen Morgen nur wenige Kilometer von Peñas Blancas entfernt in der kleinen nicaraguanischen Grenzstadt Cárdenas angekommen.
Obwohl idyllisch am Cocibolcasee gelegen, verirrt sich nie ein George hierher. Die Grenze ist hier durchlässiger. Costaricanische AusflüglerInnen kommen am Wochenende mit Pick-Up und Familie zum Baden und geben etwas Geld in zwei Strandbars aus. Um sie zu halten, verzichtet der Bürgermeister des abgelegenen Fleckens auf Grenzkontrollen.
Zwar muss Glenda als Nicaraguanerin durchaus mit den Patrouillen nicaraguanischer SoldatInnen und costaricanischer PolizistInnen rechnen. Dennoch scheren sich die Grenzbehörden meist wenig um die Illegalisierten. Die NicaraguanerInnen haben wenig Interesse daran, den eigenen Leuten auf der Suche nach Arbeit, Steine in den Weg zu legen. Ein costaricanischer Polizist sieht sie als „gewalttätig und kriminell“ an, doch notwendig für die eigene Wirtschaft. So verbrachte Glenda mit einer großen Gruppe anderer illegalisierter MigrantInnen den Tag und die Nacht auf dem zentralen Platz der Stadt nur wenige Meter von Polizei und Militär entfernt. Gegen fünf Uhr morgens brachen sie auf: Erst die Straße entlang, dann über Pfade erreichen sie so noch vor der Mittagshitze einen „Punto Ciego“, einen blinden Punkt. Etwa 30 dieser Grenzübergänge ohne Straßen und regelmäßige Kontrollen liegen zwischen der Pazifikküste und dem Südufer des Cocibolcasees. Wie viele Male zuvor, gelang es Glenda unerkannt bis zur nächsten Straße zu laufen. Nach einem zehnstündigen Fußmarsch und einer Fahrt im Bus erreichte sie schließlich Liberia. Einen legalen Status in Costa Rica wird sie so bald wohl nicht erreichen.
*Maria, George und Glenda sind der Versuch einer wachsenden Zahl von Arbeits- und FreizeitmigrantInnen einen Namen zu geben. Sie beruhen auf Gesprächen und Interviews mit zahlreichen Personen in ähnlichen Lebensumständen.

KASTEN:
Exodus mit tradition
Die Migration von Nicaragua nach Costa Rica ist kein neues Phänomen. Jedoch überstieg ihre Zahl bis in die 1970er Jahre nie 30.000. Erst die sozialen Umwälzungen der letzten Jahrzehnte ausgelöst durch Revolution, Bürgerkrieg und wirtschaftliche Krisen, ließen die Zahl der Migranten explodieren. Gleichzeitig stieg im wirtschaftlich boomenden Costa Rica der Bedarf an Arbeitskräften sprunghaft an. Hunderttausende NicaraguanerInnen sind seitdem auf der Suche nach Arbeit in das südliche Nachbarland gezogen. Genaue Zahlen gibt es allerdings nicht. Zwar wurden in Costa Rica beim letzten Zensus im Jahr 2000 230.000 NicaraguanerInnen erfasst, was etwa sechs Prozent der Bevölkerung entspricht, doch die große Menge von EinwandererInnen ohne reguläre Papiere sowie von SaisonarbeiterInnen werden durch diese Zahl nicht abgebildet. Aktuelle Schätzungen reichen von rund 300.000 bis zu unwahrscheinlichen einer Million ImmigrantInnen. Zahlen von über 400.000 tauchten vor allem in den Debatten um die wiederholt verschärften Einwanderungsgesetze auf, um die vermeintliche Notwendigkeit einer Begrenzung der Migration zu illustrieren. Belege gibt es für solch hohe Zahlen jedoch keine.

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