Literatur | Nummer 385/386 - Juli/August 2006

„Alles ist so beschissen schön und schwer“

Oder: Wie bestechend kolumbianische Literatur sein kann

Tomás González’ wunderbarer Roman Am Anfang war das Meer zeichnet den Versuch, der Verlogenheit des intellektuellen Großstadtmilieus der späten 70er Jahre zu entfliehen und den Traum vom genügsamen Leben an der Karibikküste zu riskieren.

Katharina Severin

Endlich, könnte man meinen: Endlich wurde auch das Erstlingswerk Tomás González‘ Am Anfang war das Meer ins Deutsche übertragen, sein zweiter Roman in der edition 8 nach Horacios Geschichte. Jener kolumbianische Autor, der selbst in seinem Heimatland noch als Geheimtipp gehandelt wird, verdient eindeutig mehr Aufmerksamkeit. Vielleicht mehr als ihm, dem doch eine schüchterne Zurückgezogenheit nachgesagt wird, selbst lieb wäre.
Der 1950 in Medellín geborene González arbeitete nach dem Philosophiestudium als Fahrradmechaniker in Miami, später als Journalist und Übersetzer in New York. Zurück in seiner Heimat lebt er heute in der Nähe von Bogotá, fern des hektischen Lebens der Großstadt. Bleibt zu hoffen, dass er aus der Ruhe seiner Umgebung Kraft und Inspiration für neue Geschichten schöpft.
Am Anfang was das Meer erschien im spanischen Original schon 1983 in dem kleinen Verlag El goce pagano, der auch eine Diskothek in Bogotá betrieb (oder anders herum), in der González als Barmann arbeitete. Die Lektüre von Am Anfang war das Meer legt nahe, dass es dekadente Jahre in der kolumbianischen Metropole waren. Denn hier flüchtet die Hauptfigur J. – bitte an die spanische Aussprache dieses Buchstabens, Jota, denken, mahnt der Übersetzer – vor den nächtlichen Exzessen und alltäglichen Verlogenheiten der so genannten Intellektuellen und Bohemiens auf eine finca im Golf von Urabá.

Verheißungsvolle Ankunft

Fast klingt es, als wollten J. und seine Geliebte Elena Urlaub machen, wäre da nicht Elenas alte Nähmaschine, die bei der Ankunft in Turbo, einer rohen Hafenstadt, bedeutungsschwer vom Busdach stürzt. Die beiden erwartet alles andere als ein karibisches Idyll.
Schon das Unterfangen, ein Boot für die Überfahrt nach T. zu organisieren, kostet J. einige Mühe, die schließlich mit ein paar Gläsern aguardiente belohnt wird. Während J. sich mit einer Umarmung von seiner ersten Küstenbekanntschaft, Julito, verabschiedet, lautet Elenas lapidarer Kommentar meistens: „Scheißkerle!“ So sind die Feinfühligkeiten der beiden Städter skizziert und die sich anbahnenden Probleme angedeutet. Im Bett ist J. Elenas Sensualität verfallen, und wie aussparend González auch diese Lust beschreiben mag, so prickelnd liest sich ihre fast zwanghafte Erotik. Mit ihren Mitmenschen aber schlägt Elena derart scharfe Töne an, dass denen die Lust wortwörtlich vergeht. Sie geht sogar so weit, sich ihr kleines Strandparadies einzäunen zu lassen, um die neugierigen Blicke der DorfbewohnerInnen abzuwehren.
Im Gegensatz zu ihr ist J. engagierter, glaubt an die Verwirklichung eines ruhigen Stranddaseins inmitten von tropischem Wald und der für Stadtmenschen etwas undurchsichtigen DorfbewohnerInnen. Beim Anblick der abgesperrten Strandparzelle verliert er auch fast die Geduld mit Elena und schimpft sarkastisch über ihren „privaten Country Club“. Insgeheim aber schmerzt ihn dieser Zaun, symbolisiert er doch jene trockene Rationalität und Geradlinigkeit, der er mit seiner Flucht aus der Großstadt entkommen wollte.

Mühseliger Aufbau

Was das Paar auf dem von J. erstandenen Grundstück anfangs vorfindet, schreit nach Arbeit. Während Elena sich einen Besen schnappt, nimmt J. sich zuerst der vernagelten Fenster der Behausung an. Das Haus muss ausgeräuchert werden, und schon plant J., Orangenbäume und Kokospalmen dort zu pflanzen, wo jetzt noch eine Zebukuh grast.
J. beschließt, sich eine kleine Viehwirtschaft aufzubauen. Als die nicht wirklich floriert, versucht er sich mit dem Holzabbau über Wasser zu halten – und eröffnet schließlich einen kleinen Laden, in dem die BewohnerInnen der Gegend und vor allem die angeheuerten Holzfäller sorglos anschreiben lassen. Doch J. will nicht aufgeben. Stattdessen spinnt er seinen Traum weiter: Ein schöneres Haus wird geplant, ein neuer Kredit muss organisiert werden. Dass er sich dabei übernehmen könnte, kommt ihm zwar in den Sinn, und er weiß, dass er zur Flasche greifen muss, um seinen Traum am Leben zu erhalten – doch eingestehen will er es sich nicht.

Bezaubernde Dramatik

So schmackhaft die Vorstellung des Aussteigerlebens in der Karibik gedacht werden kann – González beschreibt kein kleines Paradies. Sein Blick ist sozialkritisch, seine Poetik dramatisch. Das Meer ist nicht so großartig, wie das Metropolenherz hoffen möchte, die Menschen nicht so freundlich gesonnen, wie man es sich erträumt hatte. Alles atmet eine heimliche Verwesung, ohne dabei erschreckend zu wirken. Und immer wieder schleichen sich Sätze über das nahende Ende ein: ein Ende, das keines sein will, denn andere werden jene Früchte ernten, die J. gepflanzt hat. Das Scheitern und der Tod sind Teil des Lebens, beinahe machen sie Mut, sich den Umständen noch entschlossener zu stellen.
Dass die „typische“ kolumbianische Gewalt nicht thematisiert wird, stimmt nur auf den ersten Blick, denn dem Autor gelingt es, sie als permanente Angst spürbar zu machen. Die latente Gewalt kommt sogar zwischen Elena und J. zum Ausbruch, und die DorfbewohnerInnen trauen sich nachts kaum noch in den Wald – nicht ohne Grund, bedenkt man, dass die Gegend am Golf von Urabá von den Paramilitärs kontrolliert wurde.
González ist mit Am Anfang war das Meer ein bezaubernder Roman gelungen. Keine unnötigen Kommentare stören den Lesefluss, seine poetische Prägnanz überzeugt. Die Gabe, auf wenigen Seiten Charaktere mit solcher Lebhaftigkeit entstehen zu lassen oder die Wonne, mit der das Schmatzen des Matsches der Regenzeit beschrieben wird, machen einfach Lust am Lesen. González’ sprachliches Geschick ist eine sehr sinnliche Erfahrung. Als würde man die Mango tatsächlich schmecken und lauthals sagen: „Einfach himmlisch, diese Dreckdinger.“

Tomás González: Am Anfang war das Meer. Roman. Deutsch von Peter Schultze-Kraft, Gert Loschütz und Jan Weiz. edition 8, Zürich 2006, 174 Seiten, 18,80 Euro

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