Entwicklungspolitik | Nummer 291/292 - Sept./Okt. 1998

Als Tiger losgesprungen, als Bettvorleger gelandet

Eine Kritik am entwicklungspolitischen Memorandum ‘98

Im Folgenden dokumentieren wir die Stellungnahme der Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Umwelt und Entwicklung BLUE 21 zu den im Zeichen des Wahlkampfs von einigen Entwicklungsexperten formulierten Forderungen an Bundestag und Bundesregierung „Memorandum ’98. Für eine Politik der Nachhaltigkeit – Entwicklungspolitik als internationale Strukturpolitik“.

Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Umwelt und Entwicklung BLUE 21

Wie schon zum letzten Wahlkampf 1994 wurde auch diesmal ein entwicklungspolitisches Memorandum von einigen Entwicklungsexperten der Öffentlichkeit vorgestellt. Zu den Initiatoren des Memorandums gehören Eckhard Deutscher (DSE), Gunther Hilliges (Landesamt für Entwickungszusammenarbeit Bremen) und Manfred Kulessa (AGKED). (Auf das „Innen” wird aus diesem Grund, sofern die Initiatoren gemeint sind, verzichtet.) Das Memorandum `98 will, so das hochgesteckte Ziel, „herkömmliche Entwicklungspolitik“ durch „internationale Strukturpolitik“ ersetzen. Diese Politik soll sich an einem nicht näher definierten Leitbild der Nachhaltigkeit orientieren. Durchsetzen soll dies ein an keiner Stelle mit Namen genanntes Ministerium, das gegenüber dem jetzigen Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) über deutlich erweiterte Kompetenzen und mehr Mittel verfügen soll. Ob diesem Memorandum mehr Erfolg beschieden sein wird als seinem Vorgänger, bezweifeln wir. Es betont zwar in seinem ersten Teil die großen Herausforderungen, die sich aus der Globalisierung ergeben. Doch die rein institutionellen Reformvorschläge im zweiten Teil stehen in einem deutlichen Mißverhältnis zu den umrissenen globalen Problemen.
Über 250 Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft haben das Memorandum unterschrieben. Es wurde außerdem vom Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO) an den Bundeskanzler, den SPD-Kandidaten und die Spitzen der politischen Parteien verschickt. Mittlerweile ist es unter anderem in epd-Entwicklungspolitik 5/6/98 (März) und der Frankfurter Rundschau vom 16. Juni 1998 erschienen. Eine Kurzfassung und Kritik findet sich in der Zeitschrift blätter des informationszentrums 3. Welt (8/98, Nr. 231). Die große Aufmerksamkeit, die dem Papier geschenkt wurde, hat uns ebenfalls zu einer Auseinandersetzung damit veranlaßt. Als Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Umwelt und Entwicklung (BLUE21) wollen wir auf die Schwachstellen des Memorandums ‘98 hinweisen und unseren Beitrag zu der überfälligen Diskussion über die deutsche Entwicklungspolitik leisten.

Der Staat in der globalisierten Wirtschaft: Opfer oder Täter?

Das Memorandum beginnt mit einer relativ ausführlichen Analyse der Probleme und neuen Herausforderungen, die sich aus der Globalisierung ergeben. In dem Hinweis auf die veränderten weltpolitischen Bedingungen, der die Entwicklungspolitik Rechnung tragen müßte, liegt sicherlich die Stärke des Papiers. Allerdings entsteht der Eindruck, daß die Globalisierung von unsichtbarer Hand über uns kommt. Dadurch wird von den politischen Akteuren, die diesen Prozeß interessengeleitet forcieren, ebenso wie von hausgemachten Problemen der Entwicklungspolitik abgelenkt.
Was die Autoren von der Globalisierung halten, bleibt unklar. Sie und das dahinterstehende neoliberale Wirtschaftskonzept wird einmal als mitverantwortlich für die größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich angeführt. Dann wiederum wird sie als ungeahnte Chance angesehen, die einer „humanen Politik zum Durchbruch … verhelfen“ soll. Die Frage, von wem und wie die Chancen für eine humane Politik genutzt und gegen herrschende Interessen durchgesetzt werden sollen, wird nicht einmal gestellt.
Mehrfach ist in dem Papier in einem Zug von „Globalisierung und Deregulierung der Weltwirtschaft“ die Rede. Dabei wird vergessen, daß nicht überall dereguliert wird. Auf nationaler wie auf internationaler Ebene wird auch reguliert: siehe die Welthandelsorganisation (WTO), deren Regeln per Schiedsgericht durchgesetzt werden können, oder das geplante Multilaterale Investitionsabkommen (MAI), das ebenfalls eine Klageinstanz vorsieht; oder die Subventionszahlungen an die deutsche Wirtschaft. Genau das Gegenteil von Deregulierung ist hier der Fall. Die Autoren des Memorandums fordern nun eine stärkere Regulierung und die Herstellung von „Steuerungsfähigkeit“ auf internationaler Ebene, schreiben aber nicht, welche Art von Regulierung sie meinen.
Ist hier der Nationalstaat gefragt? Er wird im Memorandum als reines Opfer der Globalisierung und Deregulierung dargestellt, so daß man sich fragen muß, wie dieser schwache Staat künftig überhaupt eine „internationale Strukturpolitik“ durchsetzen soll. Wir sind dagegen der Auffassung, daß die Politik im Prozeß der Globalisierung keinesfalls ihr „Primat“ gegenüber der Wirtschaft verloren hat. Vielmehr sind es die Regierungen selbst, die aktiv neoliberale Wirtschaftsstrukturen und die Internationalisierung der Wirtschaft herbeiführen – sei es in der WTO oder in regionalen Handelsblöcken wie der EU oder der Nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA. Der Forderung nach mehr Steuerungsfähigkeit ist also die Frage entgegenzusetzen: Wer macht die Politik und in wessen Interesse?
Da wichtige Entscheidungen zunehmend auch auf der internationalen Ebene getroffen werden, wo in erster Linie die großen Industrienationen und die Konzerne dieser Länder das Sagen haben, verlieren unter den gegenwärtigen Bedingungen die Menschen in den Entwicklungs-, aber auch den Industrieländern zunehmend an Einfluß. Die Autoren des Memorandums beklagen nun zwar den Demokratieverlust, der mit der Globalisierung einhergeht. Mit keinem Wort aber fordern sie die Demokratisierung und größere Transparenz der inter- und supranationalen Institutionen.

Was eigentlich ist „internationale Strukturpolitik“?

Dem vermeintlich durch die Globalisierung geschwächten Staat wollen die Verfasser des Memorandums offenbar wieder zu Macht verhelfen, die er dann auf internationaler Ebene zum Nutzen aller einsetzen soll: Mit Hilfe einer „Entwicklungspolitik als internationale Strukturpolitik“ soll der Staat zudem dem Leitbild der Nachhaltigkeit zum Durchbruch verhelfen.
Der Begriff nachhaltige Entwicklung aber bleibt nebulös – als ob es schon genug sei, sich den Modebegriff als Leitbild zu verordnen, und alles andere regelt sich von selbst. Lapidar heißt es: „Die Verantwortung für eine Politik der Nachhaltigkeit muß auf allen Politikebenen verantwortlich wahrgenommen werden.“ Dann weisen die Autoren darauf hin, daß auf quantitatives Wachstum nicht verzichtet werden kann. Daß die Verknüpfung von Wachstum und Nachhaltigkeit ein Problem darstellen könnte, wird nicht bemerkt.
„An die Stelle der bisherigen Entwicklungshilfepolitik“ soll „eine verantwortliche weltweite Strukturpolitik treten“. Als Erkenntnis schimmert hier durch, daß Entwicklungshilfe sinnlos bleibt, wenn die „entgegenwirkende Dominanz der internationalen Finanzakteure“ nicht angegangen wird. Aber was folgern die Autoren daraus? Vergebens warten die LeserInnen auf eine Definition von Strukturpolitik. Handelt es sich um Infrastruktur, Bildung, Umweltschutz oder um die Regulierung des internationalen Finanzregimes? Auch folgender Satz aus dem Papier trägt kaum zur Klärung bei: „Eine nationale Politik, die dazu beitragen will, die gegenwärtigen internationalen Strukturprobleme zu lösen…, muß einen Beitrag zur internationalen Strukturpolitik leisten.“
Eines erscheint uns in diesem Zusammenhang sicher: Wenn man die herkömmliche Entwicklungshilfe zu recht in Frage stellt, dann kann man nicht einfach, wie im Memorandum geschehen, eine Aufstockung der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit auf 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und mehr Macht für das „zuständige Ministerium“ fordern, ohne zu erwähnen, wofür die zusätzlichen Mittel und Kompetenzen verwendet werden sollen. Egal, Hauptsache das Geld wird für den guten Zweck bereit gestellt. Ob vermehrte Zahlungsabflüsse an die Länder des Südens per se sinnvoll sind, ob das Geld für Großprojekte oder Armutsbekämpfung ausgegeben wird, diese Fragen werden sicherheitshalber nicht gestellt.

Die Rolle der Zivilgesellschaft

Noch einmal: Wer soll die Politik in die „richtigen Bahnen“ lenken und vor allem festlegen, was die „richtige Politik“ ist? Offenbar der Staat. Von ihm wird auch die Bühne abgesteckt, auf der die Zivilgesellschaft auftreten darf. Der Staat und seine Ministerien konzentrieren sich auf „die politische Führung und Leitung“. Den NGOs hingegen wird die Rolle der ausführenden Organe zugewiesen: „Die Nichtregierungsorganisationen und privaten Hilfswerke sollen die staatliche Zusammenarbeit (…) ergänzen“ – ausschließlich ergänzen, und nicht etwa kritisieren.
Was haben nun die entwicklungspolitischen Organisationen davon, wenn die Planungskapazität und die Steuerungskapazität sowie die Kompetenzen des zuständigen Ministeriums ausgeweitet werden und die vermeintliche Zivilgesellschaft eine spezifische Rolle in der Entwicklungspolitik erhält? Antwort: Geld. „Wir erwarten, daß das Ministerium die Förderungsmittel für NRO deutlich erhöht.“ Auch hier bleibt die Frage nach der Mittelverwendung unbeantwortet. Das entspricht einem generellen Problem in der bisherigen Entwicklungszusammenarbeit: Sie ist in höchstem Maße intransparent. Die Problemanalyse und Zielformulierung wird ebenso wie die Projektevaluierung vorwiegend zwischen staatlichen Behörden und wenigen NGOs vorgenommen. Ob letztere die gerne herbeigeschriebene Zivilgesellschaft darstellen, bezweifeln wir.

Entwicklungspolitische Notwendigkeiten

„Wir wollen Taten sehen!“, fordert das Memorandum. Aber welche Taten? Angesichts der Aneinanderkettung von Allgemeinplätzen in dem Wahlkampf-Papier muß ein Aufruf zum Handeln zwangsläufig folgenlos bleiben; noch dazu, wo sich der Nord-Süd-Konflikt im Memorandum verflüchtigt. Es wird nur noch von „unterschiedlich fehlentwickelten Ländern“ gesprochen.
Dabei ist die Voraussetzung für eine Verbesserung von Entwicklungspolitik die Auseinandersetzung mit der bisherigen Entwicklungspolitik und deren weitgehendem Scheitern. So ist bekanntlich der Abstand zwischen Arm und Reich gewachsen, wie übrigens auch im Memorandum vermerkt wird, als ob es Entwicklungshilfe nie gegeben hätte. Weit davon entfernt, daraus eine grundsätzliche Kritik der bisherigen Entwicklungspolitik abzuleiten, deuten die Autoren des Memorandums lediglich an, daß die „herkömmliche Entwicklungshilfepolitik allein den Fehlentwicklungen in den Ländern des Südens und Ostens nicht entgegenwirken kann.“
Das ist kein Wunder, sind doch die Hilfsgelder im Vergleich zu den Summen, die auf den globalen Waren- und Finanzmärkten unter kräftiger Mitwirkung der bundesdeutschen AkteurInnen umgesetzt werden, eine Marginalie. Richtiggehend fragwürdig wird die staatliche Entwicklungshilfe der Bundesrepublik dann, wenn sie zur Exportförderung verkommt. Immerhin rund 80 Prozent der Mittel der Entwicklungszusammenarbeit fließen wieder zurück in die heimische Wirtschaft.
Die Entwicklungspolitik muß sich wieder stärker mit den AkteurInnen auf den globalen Märkten, mit den Fragen der Produkions- und Handelsstrukturen, mit der Machtfrage und den Rahmenbedingungen, unter denen Hilfsmaßnahmen stattfinden, auseinandersetzen, um ihr Nischendasein verlassen zu können. Gerade diejenigen NGOs aber, die sich mit den Rahmenbedingungen und ihrer Veränderung befassen, erhalten keine staatlichen Mittel. Daher ist auch eine staatsunabhängige Finanzierung für NGOs unabdingbar.
Wichtige Aufgaben für die entwicklungspolitische Community wären beispielsweise, das System der Agrarsubventionen und -exporte der EU anzugehen. Vereinzelte Projekte zur Armutsbekämpfung wiederum haben allenfalls begrenzten Nutzen, solange die Bundesregierung aktiv bei allen internationalen Entschuldungsinitiativen blockiert. Weitere Aufgaben wären die Bekämpfung des Protektionismus gegen verarbeitete Produkte aus Entwicklungsländern, die Umgestaltung der bundeseigenen Hermes-Versicherung nach ökologischen und sozialen Kriterien und vor allen Dingen die Durchsetzung von Umwelt- und Sozialklauseln im Welthandel.
Wollen die EntwicklungspolitikerInnen und die NGOs substantielle Veränderungen bewirken, dann müssen sie da eingreifen, wo die politischen Rahmenbedingungen, vor allem im Bereich Wirtschaft und Finanzen, gesetzt werden – also in der EU, der OECD, dem IWF oder der WTO. Und das heißt auch, daß wesentliche Zielgruppen der NGO-Arbeit weniger im BMZ, als vielmehr im Wirtschafts-, Finanz- und zum Teil auch Außenministerium zu suchen wären. Mit den Memorandum-Autoren zu hoffen, daß eine künftige Regierung diese Ministerien schon dazu bewegen wird, Macht und Einfluß an das BMZ bzw. das angedachte Ministerium abzugeben, halten wir für unrealistisch.
Nachhaltige Entwicklung ist, anders als uns das Memorandum mit seiner Betonung auf internationaler Strukturpolitik glauben machen will, keine außenpolitische Maßnahme, die bloß unter der Federführung eines Ministeriums mit tatkräftiger Unterstützung von NGOs umgesetzt zu werden braucht. Hier schimmert eher ein technokratisches und paternalistisches Politikverständnis durch; nach dem Motto, die aufgeklärten Eliten des Westens werden es schon richten.
Statt dessen lassen sich das „Leitbild nachhaltiger Entwicklung“ und die daraus abgeleiteten konkreten Politikmaßnahmen nur über einen demokratischen Prozeß und innerhalb einer Zivilgesellschaft definieren, die von Rollenzuweisungen seitens des Staates möglichst verschont bleibt. Gerade von einer nationalstaatlichen Instanz kann wohl kaum die Führung erwartet werden, wenn es um die Behandlung der Machtfrage geht oder die Änderung von Strukturen, deren Nutznießer in erster Linie die Wirtschaft der Bundesrepublik ist. Hier müssen sich die NGOs schon selbst ihrer Kräfte besinnen.
Ausgerechnet aber in der entwicklungspolitischen Bildungspolitik, die die Memorandum-Autoren gerne in die Hände der NGOs geben möchten, darf sich der Staat nicht aus der Verantwortung ziehen. Im staatlichen Schul- und Hochschulwesen müssen Nord-Süd-Fragen und die Verantwortung aller für eine sozial gerechte und ökologisch tragfähige Entwicklung viel stärker als bisher verankert werden.
Insgesamt, so läßt sich unsere Kritik zusammenfassen, krankt das Memorandum ‘98 vor allem daran, daß es vorgibt, Antworten auf Probleme zu haben, die noch nicht annähernd untersucht und diskutiert worden sind. Die Orientierungslosigkeit in der Entwicklungspolitik sollte statt dessen zugestanden und ernstgenommen werden. Eine produktive Verunsicherung als Ausgangspunkt für eine Reformierung der Entwicklungspolitik erscheint uns allemal sinnvoller als das Jonglieren mit neuen Worthülsen und den altbekannten Forderungen nach Etaterhöhungen.

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