Literatur | Nummer 306 - Dezember 1999

Am Anfang war der Widerstand

Ein Roman von Manlio Argueta über die Landbevölkerung in El Salvador

Mit Cuzcatlán. Am Meer des Südens liegt jetzt nach Tage des Alptraums (1983) ein weiterer Roman des Salvadorianers Manlio Argueta auf deutsch vor. Wie kein anderer Schriftsteller versteht es Argueta, sich in die Gefühlswelt der Menschen, vor allem der Frauen in den ländlichen Gebieten hineinzuversetzen, um daraus textliche Wirklichkeiten zu schaffen. Cuzcatlán ist ein engagierter Roman über die Erinnerungen und den Widerstand der salvadorianischen Campesinos und Campesinas. Auch 13 Jahre nach seinem ersten Erscheinen ist er aktuell.

Markus Müller

Geschichte exemplarisch anhand einer Familiensaga zu erzählen, hat in der lateinamerikanischen Literatur große Vorbilder: In Hundert Jahre Einsamkeit erzählt Gabriel García Márquez die Geschichte der Familie Buendía und meint damit die Geschichte Kolumbiens. Dieses Prinzip hat sich Manlio Argueta in seinem Roman Cuzcatlán. Am Meer des Südens zu eigen gemacht. Sechs Generationen der Familie Martínez repräsentieren sechs Generationen der Geschichte El Salvadors, vom Tod der Indigo-Wirtschaft und der Kaffeebonanza in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts bis zum 9. Januar 1981. An diesem Tag findet auch die Rahmenhandlung des Romans statt: Lucía, eine junge Frau, die sich der Guerilla von der Nationalen Befreiungsfront „Farabundo Martí“ (FMLN) angeschlossen hat, befindet sich auf einer Busfahrt in die Hauptstadt San Salvador. Von dort muß sie in die Guerilla-Hochburg Chalatenango reisen, um über einen gewissen Hauptmann Martínez auszusagen, der von der FMLN gefangengenommen wurde und von einem Volksgericht verurteilt werden soll. Der Nachname des Hauptmanns Martínez, der in El Salvador mit einer Häufigkeit vorkommt wie hierzulande Müller, Meier und Schulze zusammen, läßt zu diesem Zeitpunkt noch kaum den Verdacht aufkommen, daß es sich dabei um einen Verwandten von Lucía handele. Lucía heißt übrigens auch nicht Lucía, sondern hat einen Decknamen angenommen: Beatriz, wie ihre Großmutter, die mit Kosenamen Ticha heißt. Am Ende des Romans wird sich herausstellen, daß der Hauptmann eigentlich der Onkel von Lucía ist. Derselbe, der mitverantwortlich war für den Tod ihres Urgroßvaters Emiliano. Derselbe, der damit der Großmutter Beatriz das Herz gebrochen hat, weil sie nicht verkraften konnte, daß ihr Enkel mitverantwortlich war für den Tod ihres Vaters, seines Großvaters. Von dem Volksgericht, vor dem Lucía über ihren Onkel, den Hauptmann Martínez aussagen muß, wird dieser dann freigesprochen und damit zum Weiterleben verdammt werden: Weiterleben mit der Schuld, mitverantwortlich zu sein für den Tod des eigenen Großvaters.
Während dieser Stunden im Autobus findet die eigentliche Handlung des Romans statt: Die Erinnerung. Die Erinnerung Lucías an ihren Lebensgefährten, der bei einer Razzia der Armee erschossen wurde; die Erinnerung des Urgroßvaters Emiliano an seine Frau Catalina, deren Lungen von den Dämpfen in den Indigo-Werkstätten zerfressen wurden und die früh an Krebs starb; die Erinnerungen der Großmutter Ticha an den Ur-Urgroßvater Macario, der einfach irgendwann starb, weil er nicht genügend Mais-Tortillas und noch weniger Salz zu essen bekam; die Erinnerung an das Massaker von 1932, als der General Maximiliano Hernández Martínez alle indigenen Bauerngemeinden des Landes unter den Generalverdacht der kommunistischen Verschwörung stellte und kurzerhand dreißigtausend von ihnen ermorden ließ; und schließlich die Erinnerung an Pedro, den Onkel Lucías, der zweimal zum Opfer der brutalen Nationalgarden geworden war: das erste Mal, als er noch fast im Kindesalter mit einer Horde Schweinen loszog, um dieses gesamte Vermögen der Familie auf dem Markt der Kleinstadt Jiquilisco zu verkaufen. Damals machte sich die Nationalgarde einen Spaß daraus, die Tiere abzuknallen. Das zweite Mal war, als er von der Nationalgarde rekrutiert wurde und schließlich zu einem der ihren gemacht wurde, zu einem, der „sogar das metallische Klicken des Gewehrschlosses mit seinem Herzschlag verwechselte“.
Manlio Argueta weiß, wovon er spricht, denn er ist selbst in ärmlichen Verhältnissen der salvadorianischen Provinz aufgewachsen, wo er hauptsächlich mit Frauen zusammenlebte. Auf diesen Umstand ist auch die Tatsache zurückzuführen, daß die ProtagonistInnen seiner Bücher hauptsächlich Frauen sind.
Aber Manlio Argueta geht es weniger darum, seine Erfahrungen mitzuteilen, weil sie Teil seiner persönlichen Realität sind, sondern weil er sie als Teil einer kollektiven Erfahrung der salvadorianischen Landbevölkerung begreift. Dieses Anliegen, etwas über die Realität seines Landes zu vermitteln, hat Argueta im Oktober auch auf Lesereise nach Deutschland geführt. „Ich sehe meine Hauptaufgabe als Schriftsteller darin, diejenigen Aspekte der Geschichte in Erinnerung zu rufen, die vergessen wurden. Historisches Gedächtnis ist eine Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Nur eine konsequente Erinnerung an die Fehler der Vergangenheit kann davon abhalten, dieselben Fehler noch einmal zu begehen.“, erzählt Argueta dem deutschen Publikum. Der Schriftsteller als Aufklärer, gar als Moralist? Argueta freut sich darüber, daß Cuzcatlán vor allem in der Schule von progressiven LehrerInnen mit dem Ziel eingesetzt wird, den 15- bis 17-jährigen Sekundarschülern die historische und auch die gegenwärtige Realität ihres Landes nahezubringen. Dabei hilft es nichts, einzuwenden, dies sei doch die Aufgabe der Sozialwissenschaftler, der Historiker, der Politologen, der Soziologen oder der Sozialpsychologen. Denn in El Salvador haben diese Wissenschaften einen schweren Stand und benötigen die Schützenhilfe aus anderen Bereichen des kulturellen Lebens. Und die hat Argueta mit seinem Werk reichlich geliefert. Der vor genau 10 Jahren ermordete Jesuit und Sozialpsychologe Ignacio Martín-Baró (Vgl. Artikel Seite 18-19) hat Arguetas Analysen aus dem Roman Tage des Alptraums so ernst genommen, daß er sie in seinem Lehrbuch Acción e ideología (Handeln und Ideologie) als quasi-empirisches Material verwendet hat, um damit seine wissenschaftlichen Ausführungen zu illustrieren.
Seit dem Tod der Jesuiten kämpfen die Sozialwissenschaften in der prestigereichen Jesuiten-Universität UCA ums Überleben. Der Studiengang Geschichte wurde ebenso abgewickelt wie die Soziologie und die Literaturwissenschaft.
Im Gegensatz zu (und vielleicht auch gerade aufgrund) dieser kümmerlichen Existenz der Sozialwissenschaften, hat El Salvador eine erstaunliche Anzahl von Dichtern und Schriftstellern hervorgebracht. Ende der 50er Jahre hatte Manlio Argueta zusammen mit dem international bekannten Roque Dalton und anderen Studenten der Nationaluniversität einen Literaturkreis gegründet, der später zur „Engagierten Generation“ werden sollte. Konflikte mit der Staatsmacht blieben nicht aus. 1972 wurde der Druck jedoch so groß, daß Argueta ins costaricanische Exil flüchtete. Doch sein Interesse blieb auf El Salvador gerichtet. 1977 veröffentlichte er Caperucita en la zona roja, einen Liebesroman mit Guerilla-Hintergrund, und 1980 sein preisgekröntes Werk Un día en la vida (dt. Tage des Alptraums), das einen einzigartigen Einblick in die Welt der Campesinos in El Salvador liefert. In Tage des Alptraums bringt Argueta eine literarische Strömung zur Vollendung, die sein fünf Jahre vorher ermordeter Freund Roque Dalton in die salvadorianische Literatur eingeführt hatte: Den Testimonio-Roman. In Cuzcatlán verwendet Argueta jedoch eine etwas abgewandelte Testimonio-Technik. Der sonst übliche Ich-Erzähler spaltet sich auf, schlüpft in verschiedene Personen, betrachtet die Realität zu verschiedenen Zeitpunkten. Das Ergebnis ist immer dasselbe. Die Geschichte entpuppt sich als Variation über die Gegenwart, die Gegenwart als Variation der Geschichte.
Aber neben Elend und Leid bildet auch der Widerstand eine Konstante innerhalb dieser Geschichte. Dalton hatte diese in seiner Textcollage Däumlings verbotene Geschichten (1989) beschworen. Die rebellierenden Indianer, die in die Berge gingen, um gegen die spanischen Eroberungstruppen zu kämpfen, sind dieselben, die heute – neunzehnhunderteinundachzig – in die Berge gehen, um sich der Guerilla anzuschließen. Argueta beginnt seinen Roman, ebenso wie Dalton, mit dem Zitat aus einem Brief des Anführers der spanischen Eroberer, Pedro de Alvarado, an Hernán Cortés: „…und als ich in die Stadt Cuxcaclan kam, hatte sich der ganze Ort erhoben; und als wir uns einquartierten, blieb kein einziger von ihnen, alle gingen sie in die Berge…“.

Am Anfang war der Widerstand.

Sich erinnern bedeutet also auch, sich zurückbesinnen auf den Keim des Widerstands, der austreibt wie der Mais. Der Urgroßvater Emiliano ist einer der ersten, der erkennt, daß man „nicht immer zu allem Ja und Amen“ sagen kann, daß es die Sicherheitskräfte des Staates sind, die die Campesinos mißhandeln, während die als Subversive und Terroristen titulierte Guerilla für eine gerechte Sache kämpft. Als Emiliano für diese seine Wahrheit gegenüber einem Gefreiten der Nationalgarde eintritt, wird er erschossen. Diese Situation stellt gleichzeitig den Höhepunkt des Romans dar. Denn in diesem Moment erkennt der Gefreite Martínez seine Wahrheit und sieht in dem ihm gegenüberstehenden Alten seinen Großvater. Aber im Gegensatz zu diesem leugnet er diese Wahrheit.

Aktualität der Geschichte

Am Ende von Cuzcatlán steht also eine Perspektive für ein besseres Leben: Der bewaffnete Kampf. Er scheint in der Situation von 1981 der einzige Ausweg zu sein. Aus diesem Grund ist der Zeitpunkt der Rahmenhandlung sicherlich nicht zufällig, sondern sehr bedacht gewählt: Der 9. Januar 1981 ist genau der Tag vor dem Beginn der großen Schlußoffensive der FMLN.
Ja, Manlio Arguetas Roman Cuzcatlán. Am Meer des Südens ist ein engagierter Roman. Und zwar in der Form, die Manuel Delgado Aparaín in den Lateinamerika Nachrichten (vgl. LN 287) als parteiische Literatur beschrieben hat. Cuzcatlan tritt ein für ein konkretes politisches, ja sogar militärisches Projekt: Den bewaffneten Kampf als Mittel zur Erreichung politischer Ziele. Dies ist zwar, gemessen an der politischen Situation heute, in gewisser Weise ein Anachronismus. Der bewaffnete Kampf steht, auch für Argueta, nicht mehr auf der Tagesordnung. Dennoch verleiht das Buch eben diesem bewaffneten Kampf für die konkrete Situation von 1981 im nachhinein Berechtigung. Und es verteilt klar die Rollen, wer in diesem Krieg die Täter und wer die Opfer waren. Diese Trennung wird heute gerne verwischt und Wolf und Schafe werden häufig in den gleichen Stall gepackt.
Bleibt die Frage, warum ein Roman, 13 Jahre nach seinem Erscheinen und fast acht Jahre nach dem Ende des Bürgerkrieges, die Mühe des Lesens noch wert sein soll. In seinem Nachwort, das den historischen Hintergrund des Romans bis zum heutigen Tag liefert, gibt der Übersetzer Ulf Baumgärtner eine eindeutige Antwort: weil auch das Jahr 1999, zumindest für die Landbevölkerung, eine Variation seiner Geschichte bleibt. Und der Gefreite Martínez, der mittlerweile zum Hauptmann befördert wurde, läuft immer noch frei herum. Ob er sich seiner Schuld bewußt ist, wissen wir nicht.

Manlio Argueta: Cuzcatlán. Am Meer des Südens. Aus dem Spanischen von von Ulf Baumgärtner, Schmetterling Verlag, Stuttgart 1999, 250 Seiten.

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