El Salvador | Nummer 405 - März 2008

Am Anfang war die Kuh

Interview mit der 20- jährigen Mary über das familiäre Netzwerk zwischen El Salador und den USA

Mary lebt in der Provinz Chalatenango, gelegen an der Grenze zu Honduras, im Norden von El Salvador. Chalatenango war vom Bürgerkrieg stark betroffen und ist eine der ärmsten Regionen des Landes. Im Gespräch erzählt Mary von ihren Verwandten, die in den USA leben, was das für sie und ihre Familie bedeutet und wie diese transnationalen Netzwerke funktionieren.

Eva Bahl

Wie viele Verwandte von Dir sind in die USA gegangen? Was waren ihre Erwartungen und Hoffnungen und was hat sich erfüllt davon?

Ich habe elf Cousinen und Cousins, die gegangen sind. Sie leben jetzt an verschiedenen Orten in den USA. Meine Onkel haben geschaut, was sie tun können, um ihnen die Reise zu ermöglichen. Sie haben die Kühe verkauft, die sie hatten, um den ersten zu schicken. Danach war es wie eine Kettenreaktion: Einer hat den nächsten nachgeholt. Ich habe den Eindruck, dass sie viel erreicht haben. Sie und ihre Familien haben einen höheren Lebensstandard. Aber sie haben ein hartes Leben, das nur aus Arbeit und Schlafen besteht. Freiheiten haben sie keine. Und natürlich ist auch der Weg in die USA sehr schwierig. Einer meiner Cousins arbeitet sogar als coyote (Bezeichnung für Leute, die MigrantInnen gegen Bezahlung ohne Papiere in die USA bringen, Anm. d. Übersetzerin). Ich habe auch einen Bruder, der vor drei Jahren gegangen ist, um uns unterstützen zu können. Er hatte ein Stipendium und in El Salvador Zahnmedizin studiert. Aber er hat gemerkt, dass das Geld nicht reicht. Von dem Stipendium konnte er nicht den Buspreis und Essen bezahlen und auch noch mir helfen, da ich noch zur Schule ging. Verzweifelt hat er gesehen, dass auch meine Eltern kein Geld mehr hatten. Er wollte ihnen helfen, uns allen ein besseres Leben ermöglichen, deswegen hat er sich entschieden, in die USA zu gehen. Meine Mutter ist gestorben, ohne dass er sie noch einmal sehen konnte, denn er ist ohne Papiere dort. Es war schrecklich für ihn.

Deine Verwandten leben weiterhin alle ohne Papiere in den USA?

Ja, und das ist ganz schön schwierig. Sie haben immer Angst, in Kontrollen zu geraten. Sie sind immer auf der Flucht und leben eingesperrt. Von der Arbeit in die Wohnung und zurück. Meine Cousins erzählen mir, dass es langweilig ist und dass sie El Salvador vermissen. Das einzige, was sie dort machen wollen, ist arbeiten, Geld verdienen und zurückkehren. Sie sagen, die USA sind nicht so, wie es aus der Ferne dargestellt wird, die Lösung aller unserer Probleme. Es fühlt sich an, als sei man im Gefängnis. Sie können auch nicht viel ausgehen, nicht in die Disco, weil da manchmal die „Migra“ (Bezeichnung für US-Regierungsinstanzen oder –beamte, die die Einwanderungsgesetze durchsetzen, Anm. d. Übersetzerin) kontrolliert. Auch in die Arbeit kommt die „Migra“ manchmal. Sie müssen sich dann verstecken oder kriegen einen Tag frei, weil der Chef schon weiß, dass sie kommen. Klar, die müssen ja auch hohe Strafen zahlen, wenn sie Illegalisierte beschäftigen.

Was arbeiten sie?

Mein Bruder arbeitet als Maurer auf Baustellen. Von meinen Cousinen arbeitet eine in einem Restaurant, eine andere badet Hunde. Und sie verdient gut! Ich hätte nie geglaubt, dass man für das Baden von Hunden viel Geld bekommt! Eine andere pflegt alte pflegebedürftige Menschen, ein anderer als Gärtner, andere als Hausangestellte.

Wie sind sie zu diesen Jobs gekommen?

Über andere Cousins, die schon seit Jahren dort sind. Als mein Bruder angekommen ist, hatten sie schon Arbeit für ihn besorgt. Genau so war es bei meinen Cousinen. Es ist wie eine Kette. Wenn Du planst, zu gehen, musst Du ja schon wissen, wo Du ankommen wirst, und wer Dir helfen wird. Zumindest für die ersten Tage, bis Du das Arbeiten anfängst. Meine Cousinen haben mir gesagt, dass sie sofort Arbeit für mich hätten, wenn ich käme. Ich hätte in einem Hotel die Betten bezogen oder so etwas.

Hat sich für Euch als Familie die Lebenssituation dadurch verbessert, dass Ihr so viele Angehörige in den USA habt?

Ja klar. Es gibt einen großen Unterschied in den Annehmlichkeiten, die wir heute haben. Es ist nicht so, dass wir jetzt alles hätten, aber es ist besser geworden. Und zum Beispiel mein Cousin, der als coyote arbeitet, hat jetzt Geld. Er hat ein paar schöne Häuser und Grund gekauft. Auch unser Haus in Chalatenango ist jetzt richtig schön hergerichtet. Aber als Familie fühlt sich diese Trennung schrecklich an. Sie sind so weit weg, und du kannst sie nicht sehen. Höchstens telefonieren. Mir fehlt mein Bruder sehr.

Hast Du noch vor in die USA zu gehen?

Nein. Mich hat das eigentlich nie gereizt. Für mich war es nie ein Traum, dort hinzugehen, um zu arbeiten. Vielleicht um zu studieren. Aber das ist natürlich ganz was anderes. Ich habe einfach keine Lust, ohne Papiere dort zu leben. Im Juni dieses Jahres wollte ich mich jedoch auch auf den Weg machen. Um meiner Lebenssituation zu entkommen und wegen meiner Mutter, die gestorben war. Ich war depressiv und wollte hier weg. In den USA sah ich eine Möglichkeit, allem zu entkommen. Und mein Cousin, der coyote, hatte schon alles vorbereitet. Ich hätte ihn im Nachhinein bezahlen können, sobald ich eine Arbeit gehabt und Geld verdient hätte. Mein Bruder, der mit mir in El Salvador lebt, hat mich unterstützt und wollte, dass ich gehe. Aber mein anderer Bruder, der in den USA ist, sagte mir, dass er mich nicht empfangen wolle, weil er nicht wolle, dass ich auf dem Weg mein Leben riskiere. Es ist so schwierig, gerade für Mädchen und Frauen. Ich hätte auf dem Weg vergewaltigt werden können. Auch meine Cousine, die diesen Weg hinter sich hat und jetzt in den USA lebt, hat mir damals abgeraten.

Wie kam es, dass dein Cousin coyote geworden ist?

Auch er hatte kein Geld und sah keine Perspektiven für sich. Angefangen hat es mit seiner Schwester, die einen Verehrer hatte, der coyote war. Der hat dann meinen Cousin beschäftigt, hat ihm vieles beigebracht und gezeigt, wie man Geld damit verdient. Mein Cousin fing dann an, Leute zu suchen, die gehen wollen und das Geld dafür beisammen haben. Dafür hat er ungefähr 200-300 US-Dollar verdient. Danach hat er angefangen, nicht mehr nur Interessierte für andere coyotes zu suchen, sondern auch selbst Leute auf den Weg in die USA mitzunehmen. So hat er die mexikanischen Grenzen kennengelernt und den ganzen Weg. Inzwischen hat er einen großen Kundenstamm und wird weiter empfohlen.

Wer sind denn die, die weggehen? Ein coyote ist ja nicht billig.
Es ist eben wieder diese Kette. Die, die schon in den USA sind, holen die nächsten nach. Und da die meisten aus den Dörfern hier schon Verwandte in den USA haben, werden sie nachgeholt.

Sie zahlen dann dort also erstmal ihre Schulden ab?

Ja genau. Oder wenn die coyotes nett sind, dann kannst Du es in Raten bezahlen. 3.500 US-Dollar vorher, 3.500 nachher, wenn du schon das Arbeiten angefangen hast. Mein Cousin hat schon viele Leute so mitgenommen. Aber es gab natürlich auch welche, die nicht mehr gezahlt haben. Seitdem hat er keine Lust mehr, das zu machen.

Du siehst also den Job deines Cousins nicht als schlecht an?

Mein Cousin macht das, weil er von der extremen Armut hier weiß. Und er hat ein großes Herz. Wenn er Leute sieht, die wirklich gehen müssen, dann bietet er ihnen Hilfe an. Meine ganze Familie ist ja auf diese Art gegangen. Die haben ihn alle erst hinterher bezahlt. Aber mein Cousin ist sehr verantwortungsbewusst. Von ihm wirst Du nie solche Geschichten hören, dass er sich an den Mädchen vergriffen hätte. Er wird deswegen auch viel weiter empfohlen, weil eben die Leute, die schon gegangen sind, Empfehlungen geben an die, die gehen wollen. Das Problem ist allerdings, dass er selten die ganze Reise mit der Gruppe unternimmt. Er arbeitet immer mit anderen zusammen. Einer bringt sie von El Salvador zur Grenze nach Guatemala. An der Grenze übernimmt dann ein anderer. Es wäre sehr hart für die coyotes immer den ganzen Weg zu machen. Eine Gruppe sind immer mindestens 30 Personen und alle zwei Wochen geht so eine Gruppe von ihm los. Manchmal bleibt er dann gleich in Mexiko und übernimmt den Teil, sie in die USA rein zu bringen und andere bringen sie von El Salvador zu ihm. Das ist dann ein Problem, weil die anderen häufig ihre Macht missbrauchen und zum Beispiel Frauen vergewaltigen.

Dieser Job ist aber auch sehr riskant für ihn, oder?

Ja, er hat jetzt schon öfter gesagt, dass er keine Lust mehr auf den Job hat. Er ist schon zweimal von der „Migra“ gefasst worden. Er hatte allerdings Glück, dass die Leute sich dran gehalten haben, nichts zu verraten und so ist er durchgegangen als einer derer, die einreisen möchten. Dann wurden sie ins Gefängnis gesteckt. Aber wenn jemand verraten hätte, dass er der coyote ist, dann hätte er ernsthafte Probleme gehabt und sehr lange Gefängnisstrafen bekommen können.

Die Kontrollen beginnen ja aber nicht erst in den USA…
Die Kontrollen beginnen in Guatemala, und schon für Mexiko brauchen wir ein Visum. Es ist sehr schwer, dieses Visum zu bekommen. Sie gehen natürlich davon aus, dass die Leute das Visum wollen, um bequemer Richtung USA reisen zu können. Es ist billiger so: Du zahlst dann nur noch 3.000 US-Dollar, um über die Grenze in die USA gebracht zu werden und hast nicht vorher schon die ganzen Qualen in Guatemala und Mexiko. Es ist weniger riskant.

Denkst Du, dass die Mauern, die gebaut werden und die ganze Überwachungs­maschinerie den täglichen MigrantInnenstrom irgendwann bremsen werden?

Nein, letztlich ist das eine Farce. Sie machen das, um uns Angst einzujagen. Und es kommt ihnen doch auch sehr gelegen, dass es so viele MigrantInnen ohne Papiere gibt, die für sie arbeiten. Als die „Illegalen“ ihre Demonstrationen gemacht haben und gestreikt haben (gemeint sind die Proteste vom 1. Mai 2006 am „Tag ohne Immigranten“, als 12 Millionen Illegalisierte in den USA aufgefordert waren, weder zu arbeiten noch zu konsumieren; Anm. d. Übersetzerin), da stand alles still. Da hat man gemerkt, wie grundlegend ihre Rolle für die Wirtschaft ist.

Was sind deine Pläne für die nächsten Jahre?

Ich habe letztes Jahr Abitur gemacht und möchte jetzt Jura studieren. Ich möchte es nicht so machen wie viele aus meiner Familie, die als einzigen Ausweg sehen, in die USA zu gehen. Und sie reden auf mich ein: „Wozu willst du denn studieren, um dann fertige Rechtsanwältin zu sein und keine Arbeit zu finden?“ Ich bin mir bewusst, dass sie da schon Recht haben, denn ich sehe die Realität El Salvadors. Aber gute Bildung und Wissen kann dir keiner nehmen. Bei mir hat diese Einstellung auch mit meiner Familie zu tun. Meine Mutter ist von meinem Vater erniedrigt und geschlagen worden, als sie noch zusammenlebten. Er hat ihr immer gesagt, dass sie zu nichts nütze sei und dass sie nie etwas erreichen würde. Meine Mutter konnte nicht lesen und schreiben. Und ich möchte studieren, weil ich nicht möchte, dass ich eines Tages von irgendwem erniedrigt werde. Ich möchte arbeiten und meine Kinder ernähren können. Stell Dir vor, du heiratest einen Akademiker und der sagt dir vielleicht am Anfang noch, wie toll du bist und wie sehr er dich schätzt, aber letztlich wird es schwer sein, wenn du ihm intellektuell unterlegen bist. Da wird es dann immer Unterdrückung geben. Das soll mir nicht passieren!

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