Kunst | Nummer 397/398 - Juli/August 2007

Ambivalente Wirklichkeit im Sucher

Der mexikanische Fotojournalist Francisco Mata über seine neue Dokumentation

1994 war Francisco Mata als Fotojournalist für die Tageszeitung La Jornada im Lakandonischen Urwald und dokumentierte den Aufstand der Zapatisten. Er porträtierte Subcomandante Marcos und seine MitkämpferInnen und gab der Bewegung ein Gesicht. In seinem neusten Foto-Projekt dringt Mata mit seiner Kamera in einen Dschungel etwas anderer Art ein, in das „wilde Viertel” Tepito im Herzen Mexiko-Stadts. Anderthalb Jahre lang durchstreifte Mata den berüchtigten Stadtteil und schuf über 700 Porträtaufnahmen von den BewohnerInnen des Viertels. Tepito gilt als einer der gefährlichsten und konfliktträchtigsten Orte der Stadt: Exekutionen, Rauschgift- und Waffenhandel, Prostitution und Bandenkriege gehören dort zum Alltag. Doch Mata geht es darum, die Verwurzelung, den Stolz und die Solidarität seiner BewohnerInnen zu dokumentieren.

Interview: Madlen Schering

Was bewog Dich dazu, eine Foto-Dokumentation über Tepito zu machen?

Dieses Viertel ist Bestandteil der kollektiven Vorstellungswelt, es ist eine Zone, die normalerweise besetzt ist mit Vorstellungen, die die Sensationspresse geprägt hat: Drogen, Tod, Prostitution und Piraterie. Mich hat es gereizt die Menschen, die dort leben und diese Geschäfte betreiben, kennenzulernen, aber auch all jene, die täglich aufstehen, um zur Arbeit zu gehen, schöpferisch tätig zu sein, die verkaufen und kaufen, zur Schule gehen, sich verlieben, Sport treiben, also die Seele, die Essenz dieses Viertels kennenzulernen, das Gesicht und den Körper dieses urbanen Mythos. Mein Anreiz war ebenso in die hintersten Winkel Tepitos einzutauchen, in die unzugänglichen Ecken, aber nicht um meine Kamera dorthin zu richten, sondern um das Viertel so genau wie möglich kennenzulernen und dieses Wissen in die Interpretation der Porträtaufnahmen der Tepiteños einfließen zu lassen.

Was möchtest Du in diesen Fotografien zum Ausdruck bringen?

Ich suche einen Austausch von Blicken, ich möchte Spiegel schaffen, in die wir hineinsehen, um in ihnen unsere eigene Identiät als „Chilangos” (EinwohnerInnen von Mexiko-Stadt, Anm. d. Red.) zu finden. Denn ein großer Teil dessen, was wir als die städtische “Chilango”-Populärkultur kennen, entsteht an Orten wie diesen und durch Persönlichkeiten wie diese. Meine Absicht ist es, mich in den Gesichtern und Blicken dieser Tepiteñer selbst zu porträtieren.

Wie reagierten die Tepiteños auf Dich und Dein Projekt? Bist Du nicht auf Ablehnung gestoßen mit Deiner Absicht, dort zu fotografieren?

Nein, sie sind mir mit Neugierde und Akzeptanz begegnet. Ich glaube, ich habe von Anfang an ihre Sprache gesprochen. So wie die Tepiteños täglich ihre Straßenstände aufbauen, installierte auch ich mich immer am gleichen Ort mit meiner Leinwand und Kameraausrüstung. Nur verkaufte ich nicht, sondern fotografierte. So begannen die Leute sich an mich zu gewöhnen, was es mir erleichterte, mit dem Ort und den Menschen in Kontakt zu treten. Ich arbeitete, oder besser gesagt kämpfte um meinen Arbeitsplatz, kämpfte darum, Teil einer Gemeinschaft zu sein und darum, das was ich kann, so gut wie möglich zu machen: Ich tat dasselbe, was sie jeden Tag taten. Außerdem überraschte es sie, dass ich nicht darauf aus war, die dunklen Seiten des Viertels zu enthüllen und zu denunzieren, sondern dass ich mit einer anderen Absicht fotografierte.

Hat sich Dein Bild von Tepito und seinen Bewohnern während der Arbeit an dem Projekt grundlegend gewandelt?

Nein, im Grunde hat sich meine Vorstellung vom Ort und seinen Menschen bestätigt: Tepito ist ein Stadtteil, der mich stets aus verschiedenen Gründen angezogen hat, mich faszinierte seine Intensität und die Verwurzelung seiner Bewohner mit ihrem “barrio”, ich hatte bereits früher dort fotografiert, allerdings unsystematisch. Was fehlte war, meinen ungeordneten, losen Ideen und Vorstellungen von Tepito Form und Kohärenz zu geben.

Meinst Du, dass Projekte wie diese, die eine andere Sichtweise einnehmen, einen Wandel herbeiführen können in der – wie Du sagst – “kollektiven Vorstellungswelt”? Was kann der Fotojournalismus in dieser Hinsicht leisten – als meinungsbildende Instanz?

Heutzutage herrscht die weitverbreitete Auffassung, die Fotografie wäre nur eine Abbildung der Wirklichkeit, die vom Fotografen festgehalten wird – was bedeutet in diesem Zusammenhang die Autorenschaft, die Autorenfotografie? Es bedeutet nicht von einem bestimmten fotografischem Stil zu sprechen, sondern von einem bestimmten Standpunkt, vom Inhalt.
Dokumentieren heißt interpretieren und kommunizieren, dokumentieren impliziert die Fähigkeit wahrzunehmen und zu vermitteln, dokumentieren ist nachdenken und teilen, fragend berichten, zweifelnd zustimmen, zeigend ablehnen, versteckt unterstützen, kämpfend schlichten, verstehend konfrontieren. Wir müssen Zweifel säen und Wege suchen. Unsere Gegenwart ist geprägt von einem konstanten Wandel der Kommunikationssysteme, der Definitionen und Grenzen. Was bleibt, ist das menschliche Bedürfnis unser Umfeld und unsere Zeit zu verstehen und auf die Reize einer immer komplexer und scheinbar irrealer werdenen Realität zu reagieren.

Welche Aufgabe hat die Fotografie in Deinen Augen zu erfüllen?

Die Fotografie hat viele Aufgaben zu erfüllen, nicht nur diejenige, aufmerksam über die sich in Ereignissen manifestierende Realität zu berichten, sondern vor allem über die Repräsentation dieser ambivalenten Wirklichkeit, die zur Reflexion, Analyse einlädt – denn der Akt des Sehens ist ein Akt des Denkens.”

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