Mexiko | Nummer 341 - November 2002

An den Grenzen der Kultur(en)

Der Chicano-Künstler Guillermo Gómez-Peña stellt in Berlin seine neue Performance vor

Die Erfahrungen an der US-mexikanischen Grenze sind vorherrschendes Thema der Performances von Guillermo Gómez Peña. Seine politisch motivierten Darbietungen bewegen sich an den Rändern nationaler Kulturen. Auch in seiner aktuellen Performance hinterfragt der Chicano-Künstler Machtbeziehungen in den Amerikas und weist darüber hinaus auf die Möglichkeiten grenzüberschreitender Erfahrungen für soziale Gruppen im 21. Jahrhundert hin.

Marc Priewe

Seit seinem ersten Grenzüber tritt von Mexiko in die USA im Jahre 1978 ist der Performance-Künstler Guillermo Gómez-Peña dauerhaft unterwegs. Nicht nur physisch bereiste er den amerikanischen Kontinent und Europa, um seine Kunst zu präsentieren; er durchlebte seit seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten auch eine innere Verwandlung von einem Mexikaner zu einem Chicano. Dieser fortlaufende Prozess der „Chicanoisierung“ bestimmt maßgeblich die kulturellen Aktivitäten von Gómez-Peña. In seinen Per-formances vermischt er zum einen unterschiedliche Darstellungsformen aus den Bereichen Theater, Musik, Video, Radio, Inter-netinstallation und Literatur. Zum anderen bedient er sich auch freizügig eines kulturellen Fundus aus mehreren Nationalstaaten.

Das Grenz-Paradoxon

Ob als provokanter „border brujo“ oder als multimedialer „web-back“, die Grenze steht im Mittelpunkt von Gómez-Peñas Kunst. So auch in seiner neuen Performance „Mexótica 2002: A Living Museum of Inter-Cultural Fetishes“, mit der er im November in Berlin gastiert.
Seit dem Aufstieg des Nationalstaates als sozialer Ordnungsrah-men vor rund 200 Jahren sind Grenzen als Trennlinien kultureller Identitäten von den Zentren der Nation her bestimmt, bewacht und aufrecht erhalten worden. Grenzzonen zwischen Nationalstaaten sind Räume des Überschreitens, der Begegnung und der Abweisung.
Dies zeigt sich insbesondere in der Grenzregion zwischen den USA und Mexiko, wo die Globalisie-rungsschübe im Zuge der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA (1994) das Paradoxon von der Grenze als zugleich durchlässiger und geschlossener Linie noch verschärft haben. Zwar ist der Austausch von Waren, Kapital und einigen kulturellen Gütern zwischen den USA, Kanada und Mexiko erheblich vereinfacht worden, der freie Austausch von Menschen und deren Ideen bleibt jedoch bis heute nur bedingt möglich. So wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten die knapp 4000 Kilometer lange US-mexikanische Grenze teilweise geschlossen, zugleich steigt aber in den Vereinigten Staaten die Zahl von undokumentierten MigrantInnen aus Mit-tel-und Südamerika. Diese Wanderungsbewegungen, die oftmals als Globalisierung „von unten“ bezeichnet werden, haben seit den 1990er Jahren zu markanten kulturellen Veränderungen geführt. Die Zone zwischen dem Südwesten der USA und dem Nordosten Mexikos wird seitdem vielfach „MexAmerica“ genannt, eine neu entstehende, multiethnische Kulturnation mit der Metropole Los Angeles als Hauptstadt.

Erfundene Gesellschaften

Die Werke von Gómez-Peña zeigen, wie sich mit dem Überqueren von Grenzen neue Kunstformen und -inhalte entwickeln können. Sie hinterfragen soziale Veränderungen und versuchen sie so zu beeinflussen. Der Künstler versucht auf soziopolitische Prozesse einzuwirken, indem seine Performance-Charaktere eine Gemeinschaft erfinden, die es in der Realität noch gar nicht gibt (und nicht geben darf).
Die dargestellten Grenz-Figuren markieren verschiedene Prototypen einer multikulturellen Zukunft und beschwören ein dynamisches, interaktives Zusammenleben von unterschiedlichen sozialen Gruppen. Gómez-Peñas Performances dienen somit als Versuchslabore für so genannte postnationale Identitäten und Gesellschaftsformen. In seinen Darbietungen entwickelt er „Oden an ein hybrides Amerika“ (Nord und Süd), eine „Postnation“, die nicht weiter konkretisiert wird, sondern als utopischer Entwurf zum Nachdenken über mögliche grenzüberschreitende Beziehungen zwischen ethnischen Gemeinschaften anregen soll.
Das Überqueren von Grenzen steht im Mittelpunkt einer abstrakten Kunstform, die immer wieder auch die Trennlinie zwischen Ästhetik und politischem Aktivismus zu kreuzen sucht. Dieser Akt des kulturellen Widerstandes drückt sich in der Einbeziehung und Darstellung von verschiedenen Grenz-identitäten aus, die von der Position eines „Trans-Chicanos“ oder „Post-Mexikaners“ fragen: „Werde ich jemals ein ‘echter’ Chicano werden? Werde ich je ‘ankommen’? Werden ‘sie’, die Grenzwächter der Identität, mich jemals lassen?“

Kulturränder

Diese Themen behandelt Gómez-Peña seit seiner Solo-Performance „Border Brujo“ aus dem Jahre 1988. Darin wird die Grenze vor allem zur Metapher für Trennungen und Verbindungen entlang ethnischer, sozialer, geschlechtsspezifischer, sexueller und ästhetischer Trennlinien.
Die „Border Brujo“ Performance besteht aus über zehn verschiedenen Grenz-Charakteren, vier Sprachen und dem Gegenüberstellen von scheinbar widersprüchlichen kulturellen Emblemen – von aztekischen Ikonen bis hin zu postmodernem Kitsch. Hinter einem Altar sitzend, schlüpft Gómez-Peña in die Rollen verschiedener Persönlichkeiten, die Grenzerfahrungen aus unterschiedlichen Perspektiven ansprechen. In seiner Darbietung werden u.a. die menschenunwürdigen Bedingungen an der US-mexikanischen Grenze, die Einwanderungspolitik der USA, aber auch die Begrenzungen des Chicano-Kulturnationalismus the-matisiert. Mit seinen multiplen Identitätsentwürfen weist Gómez-Peña in seiner Darbietung künstlerisch auf ein permanentes Ausgeschlossensein an den Grenzen hin. Durch das Hin-und-Her-Springen zwischen Englisch, Spanisch, „Spanglish“ und einer von ihm erfundenen Sprache, die klanglich dem indigenen Nahuatl ähnelt, führt er einem Teil seines Publikums die Erfahrung des Andersseins vor Augen.
Ein weiteres Markenzeichen seiner Performance-Charaktere in „Border Brujo“ wie auch in anderen Darbietungen ist, dass alle den „Test der Grenze“ bestehen müssen. Dazu verkleidet sich Gómez-Peña und begibt sich auf die Reise von Mexiko in die USA. Erst wenn der kostümierte Künstler die reale Grenze drei Mal erfolgreich, d.h. ohne den Grenzpatrouillen aufzufallen, überschritten hat, gilt der Performance-Charakter als überlebensfähig und würdig, Teil einer Darbietung zu werden.
Guillermo Gómez-Peña nähert sich seit „Border Brujo“ nicht nur den Grenzen von Kultur(en) und Nationalstaaten, sondern auch den Begrenzungen von Normalität.
In Weiterentwicklung früherer Per-formances stellt er, in Kooperation mit dem Schauspieler und Tänzer Juan Ybarra, in seiner aktuellen Darbietung „Mexótica 2002: A Living Museum of Inter-Cultural Fetishes“ die Beziehungen zwischen ethnischen Gruppen in den USA in den Vordergrund.

Die Grenze ist überall

Darin geht es vor allem um die Exotisierung und Kommerziali-sierung von multikulturellen Elementen für das global operierende, kapitalistische Wirtschaftssystem.
Die ungleiche Machtverteilung zwischen Anglo-Amerika-nerInnen und Angehörigen anderer ethnischer Gruppen werden von Gómez-Peña künstlerisch unterwandert, das Begehren des Anderen und die Angst vor dem Fremden thematisiert. Die daraus entstehenden interkulturellen Konflikte finden, so Gómez-Peña, nicht nur in einem bestimmten geografischen Raum statt, sondern werden zunehmend zu einer globalen Erfahrung.
Über seine eigenen Darbietungen und sein künstlerisches Selbstverständnis bemerkt er: „Ich mache Kunst über die andauernden Missverständnisse in der Grenzzone. Aber für mich ist die Grenze nicht mehr nur geopolitisch verortet. Ich trage die Grenze, ganz gleich wohin ich gehe. Ich finde auch neue Grenzen, ganz gleich wohin ich gehe. Und tatsächlich, die Grenze ist jetzt hier. Kannst du sie fühlen?

KASTEN:
Taller de Gráfica Popular

In der Staatsbibliothek Berlin sind vom 30. Oktober bis zum 23. November 2002 Plakate und Flugblätter zur Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung in Mexiko zwischen 1937 und 1986 zu sehen. Verschiedene Künstler und Handwerker hatten sich in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts zusammengeschlossen um politsch-grafische Flugblätter für das Volk zu machen. Es war der Beginn einer überaus erfolgreichen und produktiven Künstlervereinigung. Das Kollektiv Taller de Gráfica Popular (Werkstatt der Volkskunst) schaffte es politisch und ökonomisch unabhängig zu bleiben, indem jedes Mitglied einen Beitrag zahlen musste. Inhaltlich bezogen sich die Flugblätter und Plakate auf die revolutionäre Politik der Regierung und auf die Darstellung der nationalen mexikanischen Identität. Besonders die Einheits- und Volksfrontpolitik des Präsidenten Lázaro Cárdenas (1935-1940) wurde begeistert von dem Künstlerkollektiv aufgenommen. Die Künstlergruppe traf sich einmal wöchentlich zu einer gemeinsamen Diskussion. Dabei wurden Arbeitsaufträge verteilt und die Realisierung besprochen. Von einem Mitgleid wurde ein Entwurf geliefert, ein anderes Mitglied führte den Entwurf aus. Entsprechend der Gruppenarbeit wurden die Arbeiten mit TGP (Taller Gráfica Popular) signiert.
In den Mexiko-Artikeln dieser Ausgabe sind einige der Werke aus der Ausstellung zu sehen. Das Ibero-Amerikanische Institut stellte uns freundlicherweise das Bildmaterial zur Verfügung.
Austellung vom 30.10.02 bis 23.11.02 in der Staatsbibliotek zu Berlin PK, Haus 2 * Potsdamerstraße 33 * 10785 Berlin * Mo – Sa 10 – 18 Uhr *Eintritt frei.

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