Mexiko | Nummer 358 - April 2004

An der Grenze zur Wahrheit

Ein Interview mit der Menschenrechtsaktivistin Judith Galarza

Judith Galarza, Vorsitzende der lateinamerikanischen Dachorganisation Familienangehöriger von Verhafteten und Verschwundenen (FEDEFAM), kämpft in Ciudad Juárez, einer Grenzstadt Mexikos zu den USA, seit über 30 Jahren für Gerechtigkeit und Wahrheit. Zusammen mit der Organisation Terre des Femmes präsentierte sie in Deutschland den Film Señorita Extraviada (2002) der Mexikanerin Lourdes Portillo über die mehr als 350 Frauenmorde in Ciudad Juárez (siehe LN 343 und LN 357). Die LN sprachen mit Judith Galarza über den Femizid, die Situation der Frauen in Chihuahua und über ihren eigenen Kampf.

Gregor Maaß, Georg Neumann

Frau Galarza, in Ciudad Juárez wurden seit 1993 über 350 Fälle von ermordeten und circa 500 von verschwundenen Frauen dokumentiert. Ihr politischer Kampf in Ciudad Juárez beginnt jedoch schon 1968. Was sind die Hintergründe?

Man muss daran erinnern, dass sich in Mexiko vor und besonders nach dem Massaker an StudentInnen in Tlatelolco im Jahr 1968 die politischen Spielräume immer mehr schlossen und demokratische Partizipation im Prinzip nicht mehr möglich war. Diese Situation zwang eine Gruppe von jungen Menschen dazu, sich in bewaffneten Bewegungen zu organisieren. Meine Schwester, Leticia Galarza, beteiligte sich an der Bewegung Liga Comunista 23 de Septiembre, die offen die Zerschlagung der Regierung forderte und für die Schaffung einer Volksregierung eintrat. In Ciudad Juárez mobilisierten sie die Arbeiterinnen der schon Ende der 60er Jahre entstandenen Fabrikanlagen und erreichten zum Beispiel eine eintägige Stilllegung des gesamten Industrieparks. Das war sehr beeindruckend. Im Jahr 1968 wurde meine Schwester in Mexiko-Stadt verschleppt und das war der Moment, in dem ich mich in den sozialen Kampf begab. Als Familienangehörige forderten wir Aufklärung über den Verbleib der Verschwundenen, und dass es zu einen rechtmäßigen Prozess käme. In dieser Zeit wurden besonders wir organisierten Personen stark verfolgt. Ich selbst wurde mehrere Male verhaftet.

Welche Verbindungen sehen Sie zwischen den Verschleppungen der 70er Jahre und dem heute dokumentierten Femizid?

Ich bin Mitglied einer lokalen Organisation von Familienangehörigen, die 1983 entstand, und wir begannen ab dem Jahre 1993 mit der Dokumentation. Das heißt nicht, dass es nicht auch in weiter zurückliegender Zeit furchtbare Verbrechen gab. Die Morde begannen vor 1993, und ich fordere, dass alle die für die Straflosigkeit in meinem Land Verantwortlichen bestraft werden. Miguel de la Madrid, Carlos Salinas de Gortari [ehemalige mexikanische Präsidenten; Anm. d. Redaktion], ebenso wie alle für die permanente Straflosigkeit verantwortlichen Gouverneure von Chihuahua sollen vor Gericht kommen.

Warum werden Ihrer Vermutung nach Frauen in Ciudad Juárez ermordet?

Als im Norden des Landes eine politische Alternative zur PRI (Partido Revolucionario Institucional) entstand, waren es insbesondere Frauen, die sich an dieser neuen politischen Partei, der PAN, beteiligten. Es waren Frauen, die der PAN (Partido de Acción Nacional) das Gouverneursamt verschafften. Ciudad Juárez ist in ökonomischer Hinsicht die wichtigste Grenzstadt, wichtiger noch als Tijuana, und darum brach ein sehr ernster Machtkampf zwischen der PRI und der PAN aus. Und was passierte dann? Unsere Ansicht ist, dass die Frauen die politische Wende bestimmt haben, und dass genau darum nach Mitteln gesucht wird, die Frauen zu kontrollieren. Nicht um sie zu identifizieren und zu ermorden, sondern um eine Strategie der Einschüchterung und der Beherrschung zu fahren. Damit sie nicht weiterhin Alternativen konstruieren oder gar für die Linkspartei PRD (Partido de la Revolución Democratica) stimmen, die im Norden sehr wenig Unterstützung findet. Inzwischen wählen die Frauen wieder die PRI und das Ziel ist damit erreicht: Wir Frauen wurden eingeschüchtert und anstatt uns auf die Politikanalyse konzentrieren zu können, müssen wir uns erst einmal selbst verteidigen.

Die eigens für die Aufklärung des Femizid gegründete Staatsanwaltschaft im Bundesstaat Chihuahua hat bisher keine Ermittlungserfolge vorweisen können. Nun wurde per Dekret des Präsidenten Vicente Fox eine föderale Sonderstaatsanwaltschaft mit dem Fall beauftragt. Was bedeutet das für ihre Arbeit?

Wir begrüßen die Sonderstaatsanwaltschaft, aber wir haben bereits unsere Erfahrungen mit vergangenen Sonderstaatsanwaltschaften. Wir werden keinen Vorschlag behindern, der das Ziel hat, die Verantwortlichen zu identifizieren und sie vor Gericht zu bringen. Aber wir werden das Ganze beobachten. Wir wissen nicht, wie sie vorgehen werden, wie sie die 375 Fälle handhaben werden. Wir wissen nicht, welche Methoden sie benutzen werden oder wieviel Personal sie zur Verfügung haben, um beispielsweise an Leute zu gelangen, die bereits von den Medien mit den Morden in Verbindung gebracht worden sind. Das heißt, wir werden beobachten, wie die Sonderstaatsanwaltschaft arbeitet und ob sie wahrhaftig in die Tiefe geht oder ob es wieder nur eine Maßnahme ist, um die Internationale Gemeinschaft zu beruhigen.

Würden Sie das, was heute in Ciudad Juárez geschieht, als eine sehr spezielle Situation bewerten oder handelt es sich eher um ein überregionales Phänomen?

Aggressionen gegen Frauen gibt es in ganz Mexiko und auf allen Gebieten. Zu Hause, am Arbeitsplatz, in den Institutionen und in der Politik. Die politische Beteiligung der Frauen liegt bei lediglich 30 Prozent und Mexiko ist seit Jahrhunderten vom machismo geprägt. Ähnliche Merkmale wie die bei den Demütigungen, Vergewaltigungen und Ermordungen der Frauen in Ciudad Juárez lassen sich auch bei Fällen, die im Bundesstaat Michoacán bekannt geworden sind, beobachten. Aber dieses Ausmaß an Straflosigkeit, dieses Konzept des „ich werde es tun und Du kommst mir dabei nicht in die Quere, weil ich Dich unter Kontrolle habe und weil ich die Institutionen auf meiner Seite habe“ lässt sich nur in Ciudad Juárez im Bundesstaat Chihuahua finden.

Ist Ihre Arbeit politisch?

Ich gehöre einer Organisation an, in der sich Menschen zusammengetan haben, deren Angehörige aus politischen Gründen verhaftet oder verschleppt worden sind. Wir verstehen uns als eine Menschenrechtsorganisation mit politischer Positionierung. Unser Ziel ist es nicht, Macht zu erlangen und politische Posten zu besetzen. Aber wir machen politische Deklarationen. Denn unsere Angehörigen haben für das Recht auf Nahrung, für Bildung und für Wohnraum gekämpft und solange diese Ziele nicht verwirklicht sind, werden sich die Zustände in Mexiko nicht ändern. Ich gehe sogar soweit zu sagen, dass sich nichts ändern wird, solange es in Chihuahua keine Partei gibt, die wirklich die Rechte des Volkes verteidigt. Weder PRI noch PAN haben das Volk verteidigt. Wir sind nicht einverstanden, wenn das was in Chihuahua passiert darauf reduziert wird, dass Männer die Frauen ermorden. Es ist nicht nur eine Frage des machismo, sondern es ist eine strukturelle Angelegenheit die das System betrifft.

Zusammen mit der Organisation Terre de Femmes präsentieren Sie in Deutschland gerade den Dokumentarfilm Señorita Extraviada von Lourdes Portillo. Wie wurde der Film aufgenommen?

Wir sind froh über die Einladung von Terre des Femmes und ich glaube, der Film hat das deutsche Publikum sehr sensibilisiert. In dem Dokumentarfilm selbst werden keine gewalttätigen Bilder gezeigt, aber die Erzählungen versetzen den Zuschauer in Bestürzung. Die Berichte der Familienangehörigen der Opfer hinterlassen ein Gefühl von Ohnmacht, von Schwäche, aber ich glaube auch, dass sie helfen, der Welt die absolute Dringlichkeit zu vermitteln, die wir als Bürger von Ciudad Juárez spüren, weltweit Unterstützung zu finden, um diese schreckliche Situation zu beenden. Wir sind uns bewusst darüber, dass die internationale Solidarität bisher die einzige Garantie dafür ist, dass unsere Anzeigen Beachtung finden. Der Druck von außen nach innen hat funktioniert.

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