Guatemala | Nummer 480 - Juni 2014

„An der Schwelle zu neuen Landvertreibungen“

Interview mit Isabel Turuy Patzan über den Widerstand der zwölf Gemeinden von San Juan Sacatepéquez gegen den Bau einer Zementfabrik

Seit 2006 befindet sich ein Zusammenschluss aus zwölf Maya-Kaqchikel Gemeinden in San Juan Sacatepéquez im Widerstand gegen eine Zementfabrik der Firma Cementos Progreso. 2013 erstatteten sie aufgrund der andauernden Kriminalisierung und Repression gegen die indigenen Aktivist_innen vor der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte Anzeige gegen den Staat Guatemala. LN sprachen mit Isabel Turuy Patzan, seit 2009 Bürgermeister der Gemeinde El Pilar II.

Interview: Jan-Holger Hennies, Philine Kemmer

Seit 2006 befinden sich die 12 Gemeinden von San Juan Sacatepéquez im Widerstand gegen die Firma Cementos Progreso. Wie begann der Protest?
Im Jahr 2006 wurden unsere Rechte verletzt, als fremde Personen in unsere Gemeinden eindrangen. Wir waren vorher weder informiert noch nach unserem Einverständnis gefragt worden. Damals haben wir uns organisiert und den Bürgermeister von San Juan Sacatepéquez über die Vorgänge befragt. Dieser meinte ernsthaft, dass er von nichts wisse. Doch nach weiteren Treffen mit ihm wurde klar, dass er bereits ein Übereinkommen mit der Firma Cementos Progreso unterschrieben hatte, die eine Zementfabrik in unseren Territorium bauen wollte und dabei war, eine topographische Studie für eine Zugangsstraße zu erstellen.

Es gab also keine vorherige Befragung der Gemeinden auf dem Territorium, obwohl Guatemala die ILO-Konvention 169 ratifiziert hat?
Wir haben den Bürgermeister aufgefordert eine Befragung durchzuführen, welche am 15. April 2007 stattfinden sollte. Doch kurz vorher sagte er die Konsultation ab und verschob sie auf den 13. Mai. Nur um sie kurz vorher wieder zu annullieren und zu sagen, dass für die Durchführung der Befragung eine Million Quetzales (circa 94.000 Euro, Anm. d. Red.) nötig seien und das Geld stattdessen in die Infrastruktur der Gemeinden fließen würde. Dazu fing er an, Flugzettel über die Absage der Befragung zu verteilen.
Aber die Autoritäten der Gemeinden hatten bereits einen Plan B und die asambleas (Basisversammlungen, Anm. d. Red.) entschlossen sich, mit Bezug auf die ILO-Konvention 169 eine eigene Befragung durchzuführen. Auch wenn der Bürgermeister verbreitete, dass die Teilnahme an dieser selbstorganisierten Konsultation strafbar sei, kamen 8950 Personen. 8946 stimmten gegen die Niederlassung der Firma.

Welche Reaktion gab es auf das Ergebnis der Konsultation?
Wir glaubten, dass die Sache damit erledigt wäre. Doch die Antwort des Staates, der Regierung und der Firma waren Bedrohungen, Einschüchterung und Repressionen gegen die Gemeinden: Anonyme Anrufe und Nachrichten und am 14. Dezember 2007 der erste Angriff durch die Nationalpolizei. Eine asamblea der Gemeinden wurde mit Tränengas bombardiert, 17 compañeros festgenommen und die Häuser der Repräsentanten der Gemeinden durchsucht. Außerdem gab es anonyme Kampagnen, die behaupteten, dass wir Terroristen seien und biologische und atomare Bomben bauen würden. 2008 wurde dann ein Präventionszustand in der Region verhängt, der 15 Tage dauern sollte. Das Gebiet wurde militarisiert und 43 compañeros verhaftet.
Zusätzlich zu den willkürlichen Verhaftungen durch die Sicherheitskräfte werden unsere Mitglieder systematisch strafverfolgt. Dabei werden die Regeln des fairen Verfahrens grundsätzlich nicht eingehalten. Zurzeit liegen 86 Anzeigen gegen Gemeindemitglieder vor. Für Kautionen haben wir inzwischen mehr als eine halbe Millionen Quetzales (mehr als 46.000 Euro, Anm. d. Red.) bezahlt und das Geld für die Honorare der Anwälte ist noch nicht mit eingerechnet. Dieses gesamte Geld wurde durch die Gemeindemitglieder gesammelt. Niemand sonst finanziert uns.

Was sind die größten Kritikpunkte der Gemeinden an dem Bau der Zementfabrik?
80 Prozent der Menschen hier leben von der Landwirtschaft, vor allem vom Rosenanbau. Als wir 2008 die Studie über die Auswirkungen der Zementfabrik auf die Umwelt einsehen konnten, stellten wir fest, dass die Fabrik täglich 900.000 Liter Wasser verbrauchen wird. Mit diesem Wasserverbrauch werden wir ernsthafte Probleme bekommen, da wir das Wasser nicht nur zum Trinken sondern auch für die Bewässerung der Felder brauchen.
Für den Bau der Straße haben wir bis heute keine Studie zu den Auswirkungen erhalten, obwohl wir diese beim zuständigen Ministerium beantragt haben. Gleichzeitig werden Gemeindemitglieder bedrängt, ihre Grundstücke zu verkaufen und es gab sogar Fälschungen von Eigentumsdokumenten in Gemeindebesitz. Wir sind an der Schwelle zu neuen Landvertreibungen.
Außerdem haben wir eine Befragung der lokalen Bevölkerung durch das Nationale Institut für Wälder (INAB) gefordert, da dieses die Lizenzen für Abholzung austeilt. In der Finca San Gabriel wurden bereits 84,5 Hektar Wald abgeholzt. Seitdem hat sich eine Veränderung des Klimas eingestellt und es gab neue Plagen auf den Feldern. Doch das INAB hat bereits die Lizenz für die Rodung weiterer 42 Hektar an eine andere Finca gegeben.
Gleichzeitig hat mit dem Beginn des Konflikts eine Zerstörung des sozialen Gefüges in der Region begonnen und ungefähr fünf Prozent der Gemeindemitglieder sind nach so vielen Einschüchterungen und Manipulationen für den Bau der Fabrik.

Zählt zu diesen Manipulation auch das Versprechen von mehr als 2000 Arbeitsplätzen während der Konstruktionsphase der Fabrik?
Ja, denn diese 2000 bis 3000 Arbeitsplätze gelten für die Konstruktionsphase der Infrastruktur über drei Jahre. Wenn die Fabrik erst einmal fertig gestellt ist, wird sie nur noch rund 250 qualifizierte Arbeiter brauchen – Architekten, Elektriker, Ingenieure. Für die 60.000 Einwohner der Gemeinden ist also nicht einmal Arbeit durch die Fabrik garantiert, während wir gleichzeitig die Auswirkungen ertragen müssen.

Inwiefern berücksichtigt Cementos Progreso die kulturellen und sozialen Auswirkungen des Projektes?
Cementos Progreso versprach die Kultur der hier ansässigen Gemeinden zu respektieren. Aber derzeit hat die Firma den Zugang zu drei für uns heiligen Bergen versperrt. 2007 haben wir gefordert, dass das Ministerium für Kultur und Sport die Berge zu unantastbarem kulturellem Erbe erklärt, aber bis jetzt ist dies nicht geschehen. Ebenso haben wir bei Cementos Progreso den freien Zugang zu den heiligen Orten eingefordert. Aber in einem Dialog zwischen dem Ministerium, der Firma und den Gemeinden wurde von Cementos Progreso erklärt, dass sie uns Zugang gewähren würden, wenn wir die Firma in Ruhe und zu hundert Prozent arbeiten lassen. Unsere Rechte werden also an Konditionen gebunden – wie kann Cementos Progreso da behaupten unsere Kultur zu respektieren?

Mitten in dem Konflikt der Gemeinden mit Cementos Progreso begann 2011 ein dreijähriger Mediationsprozess, welcher durch die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) geleitet wurde. Was sind eure Erfahrungen mit dieser Mediation?
Nun, als wir die Gelegenheit hatten, zweimal mit dem damaligen deutschen Botschafter Thomas Schäfer zu sprechen, hatte die GIZ bereits ein Abkommen mit Cementos Progreso unterschrieben. Sie kamen also mit einer Vorstellung von Entwicklung, die an die Zementfabrik gebunden war. Wir sind offen für einen Dialog, aber haben unsere Forderungen nach einer Garantie für Wasser, Landwirtschaft und unsere Gesundheit nie aufgegeben. Außerdem wollen wir eine neue Umweltstudie, da die aktuelle viele Fehler aufweist und sich nie wirklich mit der Region auseinandergesetzt hat. Als der deutsche Botschafter in die Gemeinden kam, hatte er verschiedene Zeitschriften und Broschüren dabei. Darin stand, dass die Zementfabrik angeblich an der tiefsten Stelle der Gemeinden gebaut werden soll und so unseren Zugang zum Wasser nicht einschränkt. Ich habe sofort die Gelegenheit ergriffen und den Botschafter zur Gemeinde San Antonio las Trojes I geführt, die sich unterhalb der Zementfabrik befindet.
Zudem gab es den Vorschlag, dass wir doch selbst entscheiden könnten, wo die neue Straße entlangführen soll. Aber wir in den Gemeinden wollen eine solche Entscheidung nicht treffen. Warum sollten wir so etwas entscheiden, wenn wir vorher nie informiert und befragt und unsere Rechte von Anfang an missachtet worden sind? Letztlich ist der Konflikt durch die Mediation nicht verändert worden.

Während der Mediationsphase wurde 2012 eine Militärbasis in der Region installiert. Wie sehen Sie dieses Ereignis im Zusammenhang mit den Protesten in San Juan Sacatepéquez?
Dieses Thema begleitet uns seit dem Präventionszustand 2008. Denn nach Ende des Ausnahmezustandes blieben eine Abteilung des Militärs und ein Polizeicamp innerhalb des Privatbesitzes von Cementos Progreso. Angeblich wusste nicht einmal das Verteidigungsministerium von diesem Camp und musste eine Kommission schicken, um die Lage zu prüfen. Erst 2009 konnten wir einen Rückzug des Militärs und der Polizei aus dem Privatgelände der Firma erreichen. Das Thema der Militarisierung haben wir auch bei der Indigenen Karawane angesprochen, die in Cobán, Alta Verapaz startete und uns dabei klar gegen eine zweite Militärbasis in San Juan Sacatepéquez positioniert. In einer Diskussion mit Miguel Ángel Balcárcel, dem Direktor des Nationalen Dialogsystems, kamen wir zu einem Übereinkommen. Am nächsten Tag im März 2011 verkündete die Regierung jedoch die zweite Militärbrigade in San Juan Sacatepéquez. Diese zweite Militärbasis dient klar der Sicherung der Zementfabrik.

Wie sehen Sie den Konflikt in San Juan Sacatepéquez im Kontext der derzeitigen politischen Situation in Guatemala? Am 13. Mai verabschiedete der Nationale Kongress, dass es in Guatemala keinen Genozid gegeben habe. Nur ein Jahr zuvor war das Urteil gegen Ex-Diktator Ríos Montt wegen Völkermords bereits zehn Tage nach seiner Verkündung annulliert worden…
Was wir in diesem Land erleben, ist das aktuelle wirtschaftliche Modell Guatemalas. Regierungen, Ministerien und Politiker folgen nur partikularen Interessen und dies schlägt sich auch in der Gesetzgebung nieder, welche schon immer transnationale Konzerne bevorzugt hat. Es ist traurig, wenn eine Resolution den Völkermord in Guatemala negiert, obwohl es mehr als genügend Beweise dafür gibt. Das ist ein Mechanismus, um die Stimme der Bevölkerung in Guatemala zum Schweigen zu bringen und ein Modell, dessen Opfer immer die marginalisiertesten Gemeinden im Land sind.

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