Chile | Nummer 523 - Januar 2018 | Politik

„AN DIE MACHT KOMMEN, UM MACHT ABZUGEBEN“

Interview mit der Ex-Präsidentschaftskandidatin des Parteienbündnisses Frente Amplio, Beatriz Sánchez

Beatriz Sánchez und die Frente Amplio (FA) haben sich bei den Wahlen am 19. November mit einem Paukenschlag in der Politiklandschaft Chiles etabliert. Im Interview sprachen die LN mit der Ex-Präsidentschaftskandidatin u.a. über die Gründe des Erfolgs der FA, für Chile notwendige Veränderungen und was eine feministische Regierung ausmacht.

Interview: David Rojas Kienzle

Glückwunsch zum fantastischen Wahlergebnis!

Vielen Dank! Das war wirklich ein sehr gutes Ergebnis. Auch angesichts der Wahlumfragen. Es ist sehr interessant, dass die Gesellschaft sich so weit abseits der Diskussion in den Medien befindet. Es scheint, dass auf der Straße die Dinge anders gesehen werden als von der Elite der Journalisten oder Kolumnisten.

Wie denken Sie, haben Sie und die FA dieses Wahlergebnis erreicht?

Ich denke, das ist eine gute Frage, aber ich weiß nicht, ob man sie anhand der Wahlen erklären kann. Es gibt in Chile einen relevanten Teil der Bevölkerung, der Alternativen zu den beiden großen Koalitionen sucht. Die denken, dass Chile grundlegende strukturelle Veränderungen braucht. Vor allem seit der Studierendenbewegung 2011 wird der offizielle Diskurs hinterfragt. Nicht nur die Frage, warum Bildung so teuer ist, sondern auch: Warum muss ich mich verschulden? Warum ist die Rente meiner Eltern so niedrig? Dass Wirtschaftswachstum das wichtigste sei. Dass wir die Jaguare Lateinamerikas seien. Die FA taucht als Antwort dieser Entwicklungen in Chile auf. Wir haben es geschafft, aufzunehmen, was in Chile passiert und diesen Gedanken Ausdruck zu geben.

Die FA strebt an, Politik anders zu machen, weder links noch rechts. Dieser Diskurs klingt fast schon nach europäischem Rechtspopulismus.

Wir beschreiben uns selber nicht als weder links noch rechts. Weil ich denke, es ist überall so, dass Leute, die behaupten sie seien weder links noch rechts, eher rechts sind (lacht). Wir sagen, dass die Logik von rechts und links ein bisschen überwunden ist, wobei ich mich als Kandidatin immer als linke Demokratin positioniert habe. Wir von der FA wollten uns für Organisationen öffnen, deren politische Repräsentation diverser ist. Wir haben uns auf Punkte geeinigt, die unabdingbar sind: Die Trennung zwischen Geschäft und Politik, eine Verfassunggebende Versammlung, die Menschenrechte. Wir wollen die Logik von links und rechts nicht überwinden, sondern mit den Leuten darüber reden, wie ihre Rechte respektiert werden und uns öffnen. Jede Gruppe definiert klar, wofür sie steht.

Bei der Wahl waren die Nichtwähler*innen die größte Fraktion, sowohl aus Desinteresse, als auch wegen des Gedankens, dass innerhalb dieses Systems wenig zu erreichen ist. Gleichzeitig gibt es die Erfahrung, dass Parteien, trotz bester Absichten, einmal an der Macht ihre Ideale über Bord werfen. Hat die FA Strategien, um solchen Prozessen entgegenzuwirken?

Wir wollen, dass Chile partizipativer wird. Das ist ein Teufelskreis. Je kleiner die Räume für Partizipation, desto weniger nehmen Leute Teil. Wenn man Räume dafür öffnet, muss man Partizipation aufbauen. Ich habe gelernt, dass die Leute ihre Entscheidungen selber treffen wollen. Man könnte sagen, wir wollen an die Macht kommen, um Macht abzugeben. Chile muss sich dezentralisieren. Wir wollen bindende Plebiszite und eine neue Verfassung, die Räume für diese Partizipation öffnet. Das ist ein Weg, nicht den Kontakt dazu zu verlieren, was außerhalb der Parlamente passiert.

Glauben Sie, dass dieser Wandel innerhalb der Institutionen, die ja von der Militärdiktatur geerbt wurden, erreicht werden kann?

Institutionen sind auch die Personen, die in ihnen vertreten sind. Eine grundlegende Institution, die geändert werden muss, ist die Verfassung. Wir werden in Chile hoffentlich eher früher als später eine Verfassunggebende Versammlung haben, sonst werden wir es bereuen. Um ein Beispiel zu geben: Das aktuelle Rentensystem ist kritisch. Denn in 20 Jahren wird es der Staat sein, der die Verantwortung für hunderttausende Senioren übernehmen muss, denen die Rente nicht zum Überleben reicht. Eine neue Verfassung, ein Wandel, ist also kein Fetisch, sondern etwas, das wir machen müssen!

Die FA hat für den zweiten Wahlgang am 17. Dezember keine Wahlempfehlung für Guillier, den Bewerber der Nueva Mayoría, abgegeben. Warum? Der rechte Piñera ist doch ein viel größeres Übel.

Ich glaube, dass die Leute wissen, was sie wollen. Das muss man kanalisieren und ihnen nicht aufzwingen, was man glaubt, was sie denken. Wir als FA werden niemals den Leuten sagen, was sie wählen sollen oder ihnen unsere Positionen aufdrängen. Die Wählerstimmen haben keinen Eigentümer. Die Wahl ist uns aber nicht egal. Mir ist es nicht egal ob Sebastián Piñera oder Alejandro Guillier gewinnt. Piñera wäre ein Unheil für das Land. Guillier hingegen war zweideutig. Er hat zwar gesagt, dass ihm bestimmte Ideen der FA gefallen würden, muss aber ein Signal senden. Nicht an mich, nicht an die FA, sondern an die Leute, die für uns gestimmt haben. Ich selber werde für Guillier stimmen, das heißt aber nicht, dass wir dazu aufrufen.

Wie wird die politische Arbeit der FA in den nächsten vier Jahren aussehen?

Wir werden so oder so Oppositionsarbeit machen. Wir sind ja auch nicht Teil der Nueva Mayoría. Unser Programm grenzt ein, was die Parlamentarier machen werden. Wenn Guillier gewählt werden und in eine bestimmte Richtung gehen sollte, hat er 21 Abgeordnete die ihn unterstützen werden. Das bringt die Nueva Mayoría in eine andere Position. Wenn sie wirklich was ändern will, hat sie hier ihre Stimmen. Wir werden unserem Programm treu bleiben.

Sebastián Piñera hat ja behauptet, es habe im ersten Wahlgang Wahlfälschung gegeben

Das ist indiskutabel. Die Rechte ist verzweifelt wie noch nie. Indem er die Legalität des Wahlprozesses in Frage gestellt hat, hat er eine Grenze überschritten, die er nicht hätte überschreiten dürfen. Und das, nur um gewählt zu werden! Ein Präsident wie er wäre ein Risiko für Chile!

Sie haben angekündigt, eine feministische Regierung machen zu würden. Was bedeutet das?

Die Hierarchien, die es in Chile, wie in anderen Ländern auch gibt, abzuschaffen. Wir Chileninnen sind Bürgerinnen zweiter Klasse. Als Frau in Chile zu leben ist sehr schwierig, weil wir in eine Rolle gezwängt werden. Ich habe das auch als Kandidatin gemerkt. Was wir sagen können, wie wir es sagen, wie wir aussehen müssen, wie lang unsere Haare sein sollen, was wir studieren, das alles ist fast vorgeschrieben. Und Männern passiert fast das Gleiche. Das ist eine Rebellion gegen diese klar definierten Rollen. Wenn man sich als Feministin erklärt, ist das auch im Interesse der Männer. Ich glaube nicht an diese Rollen.
Wenn ich von einer feministischen Regierung spreche, dann heißt das, mit diesen Hierarchien Schluss zu machen. Und auch Gesetze anzuwenden, die es schon gibt; Frauen vor Gewalt, vor sexueller Belästigung auf dem Arbeitsplatz zu beschützen, weil die bereits vorhandenen Gesetze in dieser Form nichts bringen. Das abgrundtiefe Lohngefälle zu bekämpfen. All das ist eine Form von permanenter Gewalt gegen uns. Eine feministische Regierung macht Politik, die die Verantwortung übernimmt, diese Formen von Hierarchien zu verhindern. Heute wird fast jede Woche eine Frau durch machistische Gewalt umgebracht. Das ist nur wegen dieser alltäglichen Gewalt möglich, die wir mit all ihren Facetten überwinden müssen – auch um ein demokratischeres Land zu werden. Das wäre eine feministische Regierung.

 

Beatriz Sánchez (46) war Präsidentschaftskandidatin der Frente Amplio für die chilenischen Präsidentschaftswahlen. Bevor sie in die Politik gegangen ist, hat sie jahrelang als Fernseh- und Radiojournalistin bei den wichtigsten Radiosendern Chiles gearbeitet. U.a. Radio Bío Bío, Radio ADN und Radio Cooperativa.

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