Drogenhandel | Nummer 333 - März 2002

Anti-Koka-Fundamentalismus

Präsident „Tuto” Quiroga und die US-Botschaft marschieren im Gleichschritt gegen die Koka-Bauern

Unter dem gerade erst ein halbes Jahr amtierenden Präsidenten Jorge Quiroga, gerät der Kampf gegen die Koka in Bolivien immer mehr zu einem Kampf gegen die Koka-Pflanzer. Die US-Botschaft erhöht den Druck, die Auseinandersetzungen zwischen Militär und Cocaleros werden schärfer, die Menschenrechtsverletzungen nehmen zu, die Zahl der Toten steigt. Eine Lösung des Konfliktes rückt dabei in immer weitere Ferne.

Marc Zackel

In der Frage der Drogenpolitik ist Tuto Quiroga fest in die Fußstapfen von Ex-Präsident Banzer gestiegen. Als neuer Präsident hat er sich in Sachen Koka zum willfährigen Handlanger der US-Botschaft gemacht und sich deren Fundamentalismus zu Eigen gemacht. Radikaler noch als in den Zeiten seines Vorgängers Banzer setzte Quiroga bereits zu Beginn seiner Amtszeit auf die Ausmerzung (erradicación) der Koka-Felder im Chapare durch das Militär. „Null Koka” bis zum Ende seiner Amtszeit Mitte 2002 lautete erneut die Zielsetzung. Dabei hatte Hugo Banzer als Präsident das Erreichen der völligen Ausrottung der Koka im nördlich von Cochabamba gelegenen tropischen Tiefland bereits zu Jahresende 2000 stolz der nationalen und internationalen Öffentlichkeit präsentiert (siehe LN 310). Zwei Monate danach, im Februar des vorigen Jahres, sprachen die USA offiziell von 600 Hektar illegaler Koka-Felder in der Region. Zu Amtsantritt der Regierung Quiroga im August 2001 veröffentlichte die Regierung die Zahl von 6.000 Hektar – und gab damit Anlass für den Scherz, die Maxime von „Null Koka” würde sich auf das Anhängen einer Null an die jeweils vorher gültige Hektar-Zahl beziehen.
Zugespitzt hat sich die Lage im Januar 2002, als die Regierung begann, zwei bereits letzten November erlassene Dekrete umzusetzen: Das Verbot von Trocknung, Transport und Weiterverkauf von Koka-Blättern aus dem Chapare sowie die Schließung des Koka-Marktes in Sacaba. Die aufgebrachten Koka-Bauern besetzten daraufhin den Markt und es kam zu mehrtägigen schweren Auseinandersetzungen mit Polizei und Militär, in deren Verlauf drei Koka-Bauern, zwei Polizisten und zwei Soldaten erschossen, bzw. von der Menge zu Tode geschlagen wurden.
Nach diesem neuerlichen Höhepunkt der Gewalt ergriff Präsident Quiroga die Initiative, eine Art parlamentarisches Amtsenthebungsverfahren gegen den Vorsitzenden der Gewerkschaft der Koka-Bauern und Abgeordneten Evo Morales in die Wege zu leiten, da dieser der intellektuelle Anstifter der Lynchmorde sei. Gleichzeitig wurden mehr als 100 Personen, darunter praktisch alle Koka-Gewerkschaftsführer, verhaftet, obwohl diese eigentlich von einer Gewerkschafter-Immunität vor derartigen Übergriffen geschützt sein sollten. Die Ombudsfrau für Menschenrechtsfragen, Ana Maria Campero, legte offiziellen Protest gegen diese Maßnahme ein.
In seltener Einigkeit brauchten die Parlamentarier aller großen Parteien des Landes keine 48 Stunden, um Evo Morales wegen „ethischer Verfehlungen” aus ihren Reihen zu entfernen und ihm den Parlamentssitz abzuerkennen.
Es hagelte Proteste, nicht nur von Gewerkschaftsseite, sondern auch von anderen demokratischen Kräften der Gesellschaft, die das zynische Vorgehen der Parlamentarier heftig kritisierten. Es ist ein offenes Geheimnis, dass das Parlament seit Jahren etwa ein Dutzend mutmaßliche Straftäter in seinem Schoß vor dem Zugriff der Justiz beschützt.
Um den Anschein von Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit zu wahren, sah sich die politische Elite zum Bauernopfer gezwungen: Chito Valle, der Schwiegersohn von Ex-Präsident Banzer, der in seiner Zeit als Präfekt des departamento La Paz die Korruption zu – auch für bolivianische Verhältnisse – beachtenswerten Höhen geführt hat, wurde auserkoren: Damit Evo Morales kein Einzelfall bleibt, wurde auch ihm der Parlamentssitz aberkannt.

Gefährlicher Präzedenzfall

Wird in anderen Ländern Lateinamerikas versucht, durch die politische Integration von radikalen Kräften die Demokratie insgesamt zu stärken, geht Bolivien offensichtlich den entgegengesetzten Weg: Das Ausgrenzen und Kriminalisieren der Bevölkerung einer ganzen Region, sowie deren demokratisch legitimierten Vertretern ist ein gefährlicher Präzedenzfall für die weitere Polarisierung im Land. Es sollte nicht vergessen werden, dass der Gewerkschaftsführer Evo Morales der landesweit mit den meisten Stimmen (61,8 Prozent) gewählte Abgeordnete im bolivianischen Parlament war. Und es kann wohl getrost behauptet werden, dass er sich wie kaum ein anderer seiner Basis verpflichtet fühlte und mit großem persönlichen Einsatz in diesem Sinne sein demokratisches Mandat wahrnahm. Der Schaden für die Demokratie und das Vertrauen in die demokratischen Institutionen ist jedenfalls erheblich.

Die US-Botschaft bestimmt das Geschehen

Warum hier auch die oppositionelle MNR (Movimiento Nacional Revolucionario) mitspielte, anstatt die Bühne für eine Auseinandersetzung mit der Regierung über deren Verständis von Demokratie zu nutzen, lässt sich wohl nur durch den Einfluss der USA erklären. Auch die meist sehr einsilbigen und gleich lautenden Begründungen der Parlamentarier für den Ausschluss ihres Kollegen legen nahe, dass die US-Botschaft der zentrale Betreiber des Verfahrens zur „politischen Exekution” von Evo Morales war. Gerade in den Zeiten des Wahlkampfs will es sich kein Politiker mit den USA verscherzen, möglicherweise sogar wegen Nähe zum Drogenhandel sein Visum aberkannt zu bekommen. Die bolivianische Drogenpolitik wird mehr denn je von der Weltmacht im Norden bestimmt. Und die weiß, wie auch im Fall Afghanistan, ganz genau, wer gut und wer böse ist. Die „Achse des Bösen” hat auch in Bolivien ihre Ableger.
Der nun Ex-Abgeordnete Evo Morales war um seine parlamentarische Immunität beraubt und damit praktisch vogelfrei, woraufhin er sofort in Hungerstreik trat, denn die Regierung drohte bereits mit mehreren Gerichtsverfahren wegen Aufruhr, Anstiftung zum Mord, ökonomischer Schädigung des Landes und anderem mehr.
Es ist wohl nur den in verschiedenen Teilen des Landes sich heftig regenden Protesten (nicht nur unter den Koka-Bauern und Bauerngewerkschaften) zu verdanken, dass Evo Morales sich weiterhin auf freiem Fuß befindet und die Regierung ihn zähneknirschend als Verhandlungspartner der Koka-Bauern akzeptieren musste. Mittlerweile hatten sich die Proteste und Blockaden auch auf die Yungas, die zweite große Koka-Anbauregion des Landes, ausgeweitet. Und im Hochland blockierten erneut die campesinos von Bauernführer Felipe Quispe, genannt Mallku, die Straßen.
Bei den Verhandlungen dann, die unter Aufsicht von Kirche und Menschrechtsvertretern geführt wurden, verpflichtete die Regierung sich dazu, die beiden Dekrete vom November für 90 Tage auszusetzen und in der Zwischenzeit mit den Koka-Bauern eine Kompromissformel zu finden (siehe auch das Interview mit Evo Morales). Weiterhin verpflichtete sich die Regierung zur Freilassung der Verhafteten sowie zur Zahlung von Entschädigungen an die Hinterbliebenen der getöteten Koka-Bauern. Evo Morales wurde die weitere politische Betätigung garantiert, was konkret die Kandidatur bei den nationalen Wahlen im Juni bedeutet. Dieser komplette Rückzieher ist eine heftige Niederlage für die Regierung.

„Null Koka” bleibt unerreichbar

In der Diskussion um die Koka werden viele Fragen noch immer nicht gestellt, beziehungsweise viel zu wenig diskutiert. Dies gibt Anlass zu Vermutungen und Spekulationen über die wahren Hintergründe der US-amerikanischen Anti-Drogen-Politik in Bolivien: Wenn in Bolivien eine Drogenmafia existiert, illegal pasta base, das Kokain-Vorprodukt, hergestellt und aus dem Land geschmuggelt wird, warum ist in den letzten Jahren kein Einziger relevanter Drogenschmuggler oder Mittelsmann verhaftet worden? Warum wurde in all den Jahren in Bolivien keine nennenswerte Drogenmenge beschlagnahmt? Stattdessen zeigt die Regierung Bauersfrauen vor, die unter ihren voluminösen Röcken zwei oder drei Kilo pasta base transportiert haben. Oder sie lässt die Medienvertreter illegale „Drogenlabore” in kleinen Hinterzimmern von El Alto abfilmen, die in ihrer Armseligkeit mehr Mitleid erregen als den Eindruck von Kriminalität zu erwecken.
Soll der Öffentlichkeit vielleicht Glauben gemacht werden, die Koka-Pflanzer selbst würden Zwischenhandel und Vermarktung in den USA und Europa kontrollieren, wenn diese „nicht mal die eigenen Kartoffeln direkt vermarkten”, wie eine politische Beobachterin anmerkte?
Regierung und Medien beschwören gelegentlich die Existenz, beziehungsweise die Gefahr einer Narco-Guerrilla, bleiben aber die stichhaltigen Beweise schuldig. Die von der Regierung vorgezeigten alten Gewehre aus Armeebeständen und selbstgebauten Molotow-Cocktails jedenfalls legen eher nahe, dass man von einer organisierten bewaffneten Widerstandsbewegung glücklicherweise noch weit entfernt ist.
Wenig diskutiert werden die negativen ökonomischen Auswirkungen, welche die Koka-Ausmerzung unter Banzer für das Land gebracht hat. Von verschiedenen politischen Beobachtern wird die These vertreten, dass die Koka-Wirtschaft in den 80er und 90er Jahren einen wichtigen Ersatz für die ausbleibenden Erlöse aus dem zusammengebrochenen Bergbau waren und damit das ökonomische Fundament der seit 1982 begonnenen Demokratisierung bildet. Der seriöse bolivianische Wirtschaftswissenschaftler Gonzalo Chávez geht von Drogeneinnahmen in Höhe von 700 Millionen US-Dollar 1997 aus, die innerhalb von zwei Jahren auf weniger als 200 Millionen geschrumpft sind. Laut Daten der Regierung sind die Einnahmen aus dem illegalen Drogengeschäft von 8,5 Prozent am Bruttoinlandsprodukt (BIP) auf unter ein Prozent gesunken.
Tatsächlich hat die bolivianische Regierung wenig Spielraum für eine eigene Politik. Zum einen sind da die etwa 50.000 Koka-Bauern mit ihren Familien, die sich mit allen Kräften gegen die Zerstörung ihrer ökonomischen Lebensgrundlage wehren und auf einen cato, etwa ein Viertel Hektar Koka-Anbaufläche beharren. Auf der anderen Seite steht die US-Botschaft, die weder eine Modifizierung des von ihnen 1988 durchgeboxten Anti-Koka-Gesetzes („Ley 1008”, siehe LN 310) noch einen begrenzten Koka-Anbau zulässt, wie er von den Koka-Bauern gefordert wird. Mit der Kürzung bzw. Streichung von Wirtschaftshilfe sowie der Androhung des Visumentzuges für die USA verfügt die Kontrollmacht aus dem Norden über die entsprechenden Druckmittel der bolivianischen Regierung gegenüber.
Fest steht, dass mit demokratischen Mitteln das Ziel von „Null Koka” nicht erreicht werden kann. Die Koka-Bauern, überwiegend ehemalige Minenarbeiter und Bauern aus dem Hochland, sind gut organisiert und stehen in einer kämpferischen Gewerkschaftstradition; zu lukrativ ist der Anbau von Koka, verglichen mit den Erlösen, die sich beispielsweise mit Orangen oder Bananen erzielen lassen. So wird die Ausmerzung der Pflanzungen zu einem Katz-und-Maus-Spiel: die vormittags von jungen Rekruten mit der Wurzel ausgehackten Koka-Pflanzen werden unter Umständen schon am selben Abend durch neue Setzlinge ersetzt. Mit 500 US-Dollar und zwei Wochen Arbeitseinsatz lässt sich ein Hektar nachpflanzen. Diese Erkenntnis ist einerseits banal, hat aber eine verheerende Konsequenz: Jeder erreichte Tiefstand in Bezug auf die Koka-Anbaufläche kann sich binnen Monatsfrist bereits wieder verzehnfacht haben. Wie will unter diesen Umständen jemand die Nachhaltigkeit der Vernichtung des Koka garantieren?

KASTEN:
Auszug aus dem Interview mit dem Koka-Bauern-Führer Evo Morales

Das Abkommen über die Vermarktung der Koka-Blätter setzte die Regierung außer Kraft. Inwieweit glaubst du, dass die Regierung damit das Problem bis nach den Wahlen vom 30. Juni verschieben will?

Ich glaube, während dieser Regierung hat sich dieses Thema erledigt. Welche Regierung will schon ein Dekret ändern und es dann für nur zwei Monate anwenden – dazu noch mitten im Wahlkampf? Wir wollen das Vermarktungssystem für die Koka-Blätter verbessern. So ist das Aussetzen der Dekrete also nicht nur eine Niederlage für die bolivianische Regierung, sondern auch für die USA, die die Schließung des Koka-Marktes von Sacaba angewiesen haben. Die Regierung redet von „Null Koka” und unterschreibt auf der anderen Seite nun einen Vertrag, der die Vermarktung der gesamten Koka aus dem tropischen Tiefland des departamento Cochabamba im Koka-Markt von Sacaba vorsieht.

Der Hintergrund für deine Entfernung aus dem Parlament war, dich für die Wahlen aus dem Verkehr zu ziehen, die Bewegung der Koka-Bauern zu zerstören und die soziale und wirtschaftliche Struktur des Chapare zu verändern. Welche Garantien hast du bekommen, um bei den Wahlen im Juni teilnehmen zu können?

Die Regierung hat mir die Garantie gegeben, meine Gewerkschaftstätigkeit und meine politische Arbeit nicht anzutasten. Ich bin daran interessiert, ins Parlament zurückzukehren, aber dann mit 40 Abgeordneten. Das ist das Ziel des MAS (Movimiento al Socialismo, die Partei von Evo Morales). Wenn die Regierung will, dass die Bauernbewegung in die Demokratie vertraut, dann muss sie uns notwendigerweise größere Beteiligung zugestehen. Wenn sie uns marginalisieren und versuchen zu zerstören, geraten nicht nur die traditionellen Parteien, sondern die Demokratie selbst in Gefahr. Diese Niederlage der US-Regierung sollte ihnen als Lehre dienen, sich niemals wieder dermaßen massiv einzumischen.

Wie beurteilst du die bisherige Präsidentschaft von Tuto Quiroga? Er ist mit aller Kraft gegen die Koka vorgegangen, warum?

Es ist die schlimmste Regierung, die die Demokratie bisher gesehen hat; in nur sechs Monaten 30 Tote durch Bleikugeln, vier davon Polizisten, 26 Bauern. Das riecht mehr nach Diktatur. Der Schüler Quiroga ist besser als sein Lehrmeister Banzer, wenn es darum geht zu töten, zu unterdrücken und der Politik der USA nachzugeben. Wir fühlen uns angegriffen, gehasst, erniedrigt und diskriminiert von der politischen Klasse, die er repräsentiert.

Aus der bolivianische Wochenzeitung PULSO vom 15.-21.02.02
Übersetzung: Marc Zackel

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