Brasilien | Nummer 238 - April 1994

Anti – Lula verzweifelt gesucht

Präsidentschaftswahlen: Wer schlägt Lula?

1994 ist Superwahljahr auch in Brasilien: das Parlament, die Gouverneure und der Präsident werden im Oktober neu gewählt. Weil sich bis zum 2. April alle Kandi­datInnen aus öffentlichen Ämtern zurückziehen müssen, beginnt das Bild sich langsam zu klären, auch wenn die alte Unübersichtlichkeit der brasiliani­schen Politik damit keineswegs aufhört. Nur eins steht fest: Die große Heraus­forderung für das bürgerliche Lager bei diesen Präsidentschaftswahlen wird sein, Lula, den Kandidaten der PT (Arbeiterpartei) zu schlagen. In alter Manier wird jetzt schon versucht, Angst und Schrecken vor der “bärtigen Kröte” zu verbreiten. “Die PT hat ein Programm wie Rußland 1917”, erklärte der Direk­tor des Unternehmerver­bandes von Sao Paulo. Die billige Demagogie, die er der PT vorwirft, praktiziert er damit selbst. Denn die PT bemüht sich gerade darum, ein “moderates” Image zu entwickeln. “PT entfernt Sozialismus aus dem Pro­gramm”, titelte die “Folha de Sao Paulo” zum selben Anlaß (der Vorstel­lung des Entwurfes des PT- Regierungsprogramms) bei dem der Unternehmer­sprecher den “roten Oktober” witterte. Aber das Problem für das bürgerliche Lager bleibt: Nur auf den Gegner einzudreschen, macht noch keinen eigenen starken Kandidaten. Der “Anti-Lula” wird aber nicht nur verzweifelt gesucht, sondern auch dringend benötigt: Trotz aller Angstmache führt Lula mit 30 Pro­zent alle Umfragen einsam und allein an.

Thomas W. Fatheuer

Die Nummer 1 der Bürgerlichen, Fer­nando Henrique Cardoso, allgemein als FHC ab­gekürzt, war bisher Wirt­schaftsminister und hat jetzt seine Kandi­datur offen ver­kündet. In einem anderen, längst vergan­genen Leben war FHC ein leibhaftiger Vordenker der Dependenz­theorie und scharfer Kriti­ker des brasilia­nischen Kapitalismus. Heute jedenfalls ist er die erste Wahl bei der Besetzung der Rolle des “Anti-Lulas”. Er kandidiert für die PSDB, die Partei in Brasilien, die sich am inten­sivsten um ein “modernes” und “sozialdemokratisches” Image bemüht und die für viele in der PT als der wichtigste potentielle Bündnispartner angesehen wird. Im Augenblick bahnt sich allerdings ein ganz anderes Bünd­nis an. Die PFL (“Partei der liberalen Front”) biedert sich recht unverblümt an. Ein problematischer Bündnispart­ner für das moderne Image der PSDB, denn das inhaltliche Profil der PFL ist schwer auszumachen. Als Ab­spaltung der Partei der Militärs wurde sie erst 1985 gegründet, so daß sie rechtzeitig den Absprung schaffte, um mit der dama­ligen Opposition 1985 die erste zivile Re­gierung zu übernehmen. Architekt des un­erwarteten Bündnisses ist der Gouverneur von Bahia, Antonio Carlos Magalhaes, ein wahrer Überlebenskünstler der brasiliani­schen Politik. Noch 1992 ge­hörte er zu den letzten, die den korrupten Collor im Amt halten wollten.
Die Avancen der PFL werfen ein Schlag­licht auf die politische Situation Brasi­liens. Sie sind Ausdruck dafür, wie schwierig es für das rechte Lager ist, einen populären Kandidaten ins Rennen zu schicken. Alle Umfragen deuten darauf hin, daß kein Kandidat, der klar dem kon­servativen Lager zuzuordnen ist, in einem wahr­scheinlich notwendi­gen zweiten Wahl­gang eine Chance gegen Lula hätte. Die PFL will an­scheinend auch eine Lehre aus dem Desaster von 1989 ziehen. Da­mals hatte die Zer­strittenheit des bürgerli­chen Lagers dazu geführt, daß sich nur noch der linke Lula und der “newcomer” Collor als Alternative stellten. Lula ist also nur mit ei­nem Kandi­daten zu schla­gen, der in den zweifelhaf­ten politischen Zuord­nungen zumindest imagemäßig das Mitte-Links Spektrum repräsentiert.
Dafür ist FHC ideal. Ein jovialer Intel­lektueller mit linker Vergan­genheit, ein erfahrener Politiker und be­sonnener Ver­mittler, eben ein “concilador” (“Ver­söh­ner”); beliebt bei der Presse, den Unter­nehmerInnen und weiten Teilen der Mit­telschicht. Das große Pro­blem FHCs ist, daß sich mit diesem Image zwar Sympa­thie, aber kein Wahl­kampf gewinnen läßt. Das war die deutliche Lehre von 1989 für die PSDB. Über die Aussichten FHCs wird letzlich nur eins entscheiden: der Er­folg des Wirtschaftsplanes (vgl. LN 237), der seinen Namen trägt. Gelingt es dem Nachfolger FHCs im Amt des Wirt­schaftsministers, mit Hilfe des Plans die Inflation zu senken, ohne das Land in eine schwere Wirtschaftskrise zu stür­zen und ohne allzu drastische Einkommensver-luste, dann hat FHC sehr gute Chancen, Lula zu schlagen. Doch sollte der Plan ins Schlingern geraten, ist der hoffnungs-vollste “Anti-Lula” erledigt und damit wohl auch die Chancen des bürgerlichen Lagers, den Wahlsieg Lulas zu ver­hindern.
Die entscheidende Phase des Wirt­schaftsplans beginnt im Mai, wenn aus der an den Dollar gebundenen Rech­nungseinheit URV die neue Währung Brasiliens werden soll. Im Grunde läuft der Plan auf eine abgefederte Dollari­sierung hinaus. Er wird, und das unter­scheidet ihn von der Situation in Argenti­nien, von einer Regierung durchgeführt, die sich in den letzten Monaten ihrer Amtszeit befindet, der ein schwacher und unentschlossener Präsident vorsteht, und deren wichtigste personelle Stütze nun in den Wahl­kampf zieht. Die Gefahren für den Plan sind also insbesondere politi­scher Natur. Gegenwind im Parlament würde der Plan nicht überleben. Die of­fene Unterstützung von Präsident Itamar Franco für Cardoso macht die Sache nicht einfacher: Die Regierung steht im Wahl­kampf und braucht gleichzeitig politische Unterstützung. Nun wird auch klar, warum die PSDB das Angebot der PFL kaum ablehnen kann: Ohne schlag­kräftige Unter­stützung aus dem rechten Lager hat der Wirtschaftsplan (und damit die Kandi­datur von Fernando Henrique Cardoso) wenig Chancen. Problema­tisch ist aller­dings für die PSDB, daß damit ihr “mo­dernes” Image erheblich angekratzt wird und ein Teil der Partei wohl diese Kehrt­wende nicht mit­macht. Immerhin, alle an­deren Kandi­daten haben große Chancen, über­haupt kein Risiko für Lula zu werden.

Nr. 2 und 3: Die Problemkinder

Die PMDB, hervorgegangen aus der MDB, der legalen und offiziösen Opposi­tionspartei zu Zeiten der Mili­tärdiktatur, ist nach wie vor die größte politische Par­tei Brasiliens. Aber aus einer Bewegung, die einst auch große Teile der linken Op­position vereinte, ist inzwischen ein kon­turloser Wahl­verein geworden, der aber noch in vielen Teilen des Landes die lo­kalen Eliten organisiert. Es ist nur na­türlich, daß die größte Partei Brasiliens einen eigenen Kandidaten präsentiert. Und sie hat einen Politiker, der mit aller Macht Kandidat der Partei sein will: Orestes Quercia, Ex-Gouverneur von Sao Paulo. Und Quercia ist das große Problem der PMDB. Er ist vielleicht der geschickteste Politiker Brasiliens, sicherlich aber einer der skrupellose­sten und korruptesten. Galt er nach seiner recht populären Amtszeit in Sao Paulo als absolutes Schwergewicht in der brasilianischen Politik, so machen ihm seit zwei Jahren nachträgliche Enthüllun­gen der Presse das Leben schwer. Insbe­sondere hängt ihm ein Waffengeschäft mit Israel nach, bei dem für hunderte von Millionen US-Dollar überteuerte Waffen für die Polizei von Sao Paulo gekauft wurden.
Aber Quercia ist zäh und beherrscht große Teile des Apparates der PMDB. Nur ist seine Kandidatur in Zeiten, in denen nach den traumatischen Erfah­rungen mit Collor Politiker gefragt sind, die nicht korrupt sind, äußerst verwundbar. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß die PMDB sich wieder einmal selbst im Wege steht: Der Machiavellist Quercia hat große Chancen, sich in der Partei durchzusetzen, aber nicht beim Wahl­volk. Außer­dem ist klar, daß eine Kandidatur Quercias die Partei spalten würde, da der “progressive” Flügel wohl eher FHC als Quercia unterstützen würde.
Dabei könnte gerade dieser Flügel der Partei den idealen “Anti-Lula” auf­bieten: Antonio Britto, der als Arbeitsminister der jetzigen Regierung einen ausgezeichneten Eindruck machte, liegt bei den meisten Umfra­gen schon auf Platz zwei hinter Lula. Viele halten eine Liste FHC/Britto für unschlagbar. Und Britto hätte den Vorteil, ungefähr das gleiche Image zu verkörpern wie FHC, ohne aber so stark von dem Erfolg des Planes ab­hängig zu sein. Einziger Haken: Er ist nicht Kandi­dat und hätte es wohl auch schwer, sich in der PMDB gegen Quercia durchzusetzen. Der schießt auch schon mit hartem Kali­ber ge­gen Britto, bezeichnet ihn als Gau­ner und ließ ermitteln, Britto sei als fünfzehnjähri­ger(!) wegen eines angebli­chen Dieb­stahls von der Schule geflogen. Britto selbst will anscheinend lieber Gouver­neur in einem Bundesstaat werden, als sich auf das Abenteuer Präsident­schaftswahlkampf einzulassen. Geriete aber FHC frühzeitig ins Schlingern, könnte er doch noch als Joker des “Mitte-Links Lagers” ins Ren­nen ge­schickt wer­den.
Ein anderer hingegen zweifelt nicht und ist Kandidat. Paulo Maluf, Bür­germeister von Sao Paulo und starker Mann der PPR, die aus der Partei der Militärs hervorge­gangen ist. Er reprä­sentiert den rechten Flügel des bürger­lichen Lagers und profi­liert sich durch einen lautstarken “law and order”-Dis­kurs. Er ist sicherlich die unerfreulich­ste Erscheinung im Wahl­kampf, und glücklicherweise reicht seine Populari­tät kaum über Sao Paulo hinaus. Aber wenn es ihm gelingt, die Wahlen mit Hilfe des Themas “Innere Sicherheit” zu polarisieren, könnten seine Wahlchancen doch noch steigen. Die Strategen im bür­gerlichen Lager befürchten allerdings, daß Maluf im zweiten Wahlgang die allerwe­nigsten Chancen gegen Lula hätte.

Die PT: Streits und Hetze

Es kann nicht verwundern, daß das bür­gerliche Lager mit schweren Ge­schützen auf Lula schießt. Ein Gewerkschafter, Ar­beiterführer und Chef einer Partei, die sich zum Sozia­lismus bekennt, als künfti­ger Präsident Brasiliens?! Nachdem eine Schmutz­kampagne gegen den der PT naheste­henden Gewerkschaftsverband CUT – ein Mord wegen persönlicher Aus­einandersetzungen sollte der PT in die Schuhe geschoben werden – nicht recht greifen wollte, schwenkt die Presse auf eine andere Linie ein. Lula, der als Super­star dargestellt wird (Luis Ignacio “Sinatra” da Silva), ist zwar po­litisch un­erfahren (kein administratives Amt bis­her), aber eigentlich ein guter Kerl. Böse hingegen sind die Radika­len in der PT, die “Schiiten”, welche die Partei beherrschen und Lula dominie­ren wollen. Die inner­parteilichen Aus­einandersetzungen, die es in der PT zweifelsohne gibt, werden von der Presse gnadenlos ausgeschlachtet.
Dem hat die PT auch durch nutzlose Streitigkeiten Vorschub gelei­stet. Zuerst ging es um die Frage der Bündnisse, vor allem mit der PSDB. Der “rechte” Flügel der Partei wollte unbedingt schon im er­sten Wahlgang eine Allianz mit dem bür­gerlichen La­ger eingehen, die aber schon aus man­gelndem Interesse der anderen Seite gar nicht zur Debatte stand. Zum an­deren wollte die Parlamentsfraktion der PT unbedingt an der Verfassungsre­form mitwirken, die die Partei boykot­tiert. Re­sultat: ein endloses Gezerre zwischen Fraktion und Parteivorstand, ein gefun­denes Fressen für die Presse.
Die Hauptlinie aber zeichnet sich schon ab: Die PT soll als Partei eines archai­schen und gescheiterten Sozia­lismus er­scheinen, deren Machtergrei­fung ein Abenteuer wäre, das Brasilien auf jeden Fall erspart werden müßte. Und die PT reagiert da bisher eher negativ: Insbeson­dere Lula (“Lula 94”) versucht sich als se­riös und moderat zu verkaufen: Die Suche nach der Mehr­hit bestimmt die Politik.

Auf der Suche nach den verlorenen Inhalten

Bisher war mehr von Image- und Design­fragen die Rede als von Inhal­ten. Nicht ohne Grund. Tatsächlich sind inhaltliche Differenzen im bürger­lichen Lager in den großen Fragen kaum noch auszumachen. Der Präsi­dent der PFL, Jorge Bornhausen (Ex-Minister unter den Militärs und Col­lor) beschreibt die programmatischen Grundlagen seiner Partei folgender­maßen: “Wir wollen die Verkleinerung des Staa­tes. Wir wollen die Privatisie­rung. Wir wollen einen modernen Staat, in dem der Bürger respektiert wird, und der sich um Erziehung, Ge­sundheit und Sicherheit kümmert.” Hinter diesem Mainstream­motto steht wohl das gesamte bür­gerliche Lager. Die relativ beliebi­gen Bündnisse zeigen schon die fehlenden inhaltlichen Konturen. Zerstritten bleibt das bürgerli­che Lager, aber dabei geht es eben darum, Macht und Einfluß zu sichern, und nicht um gesellschaftliche Grundkon­zepte.
Aus diesem Schema bricht – trotz al­lem – die PT deutlich heraus. Sie be­müht sich um eine breite programma­tische Diskus­sion innerhalb der Partei und sucht ernst­haft nach ein Konzept für linke Politik heute in Brasilien. Sie hat deshalb mehr verdient als süffisante Randbemerkungen. Zum 1. Mai wird auf einem Parteitag der PT das Regie­rungsprogramm des Kandi­daten Lula diskutiert und verabschiedet werden.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren