Nummer 274 - April 1997 | Sport

Argentiniens Kampf gegen die Haare

Qualifikation für die Fußballweltmeisterschaft – Teil II

Neben Titelverteidiger Brasilien werden bei der Welt­mei­ster­schaft 1998 in Frank­reich noch vier weitere süd­ame­ri­kanische Mannschaften antreten. Alle neun Ver­bän­de mel­deten sich für die Ausscheidungsrunde an, jeder spielt ge­gen jeden und die Hin­runde ist nun abgeschlossen. Vor dem Beginn der Qualifikation galten Ko­lum­bien und Ar­gen­tinien als unanfechtbar, Venezuela als chancenlos und der Rest war gu­ter Hoffnung. Nur Venezuela konnte die Er­war­tungen voll erfüllen, Argenti­nien ließ mehr und Ta­bel­lenführer Kolumbien weniger Federn, Paraguay über­raschte und Ecuador spielte mit der bolivianischen Taktik.

Martin Ling

Summa summarum war Ar­gen­tinien in den letzten 20 Jah­ren die er­folg­reichste la­tein­ame­ri­ka­ni­sche Mann­schaft. Zweimal Welt­meister (1978 und 1986) und zweimal Amerikameister (1991 und 1993). Seitdem ist al­ler­dings der Wurm drin. Bei der Qua­lifikation zur WM 94 setzte es in Buenos Aires mit dem 0:5 ge­gen Kolumbien die höchste Heim­schlappe in der Länder­spiel­geschichte, bei der WM selbst wurde Maradona des Do­pings überführt und Argentinien schied ohne ihn und den ver­letz­ten Caniggia bereits im Ach­tel­fi­nale aus. Der Trainer Al­fredo Ba­sile wurde entlassen und durch Maradonas Intimfeind Da­niel Passarella ersetzt. Passarella, der Kapitän der Weltmeister­trup­pe von 1978, ist bis heute sauer auf Maradona, den Welt­mei­ster­ka­pitän von 1986. Der Grund: Pas­sarella gehörte 1986 noch zum WM-Aufgebot und hätte als er­ster Argentinier zum zweiten Mal Weltmeister werden können. Spie­len durfte er indes nicht, sei­ner Meinung nach we­gen Mara­do­na, der ihm den Ruhm nicht gönnte und deswe­gen für José Luis Brown als Li­bero plädierte. Je­denfalls stellte Trainer Carlos Bi­lardo Brown auf, Argentinien wur­de Weltmei­ster und die In­tim­feindschaft Passarella-Mara­do­na nahm ihren Lauf.
Kettenraucher Passarellas er­ste Amtshandlung war denn auch ziel­gerichtet: Spieler mit langen Haaren und/oder mit Ohrringen hät­ten in der Nationalmannschaft fort­an nichts mehr zu suchen. Klar wem diese Maßnahme in er­ster Linie galt: dem ohrbe­ring­ten Maradona und dessen lang­mäh­nigem Freund Caniggia. Ei­ne glatte Überreaktion, war doch Ma­radona wegen seines Do­ping­ver­gehens ohnehin 15 Mo­nate ge­sperrt und damit für die Na­tio­nal­mannschaft kein Thema. Ca­nig­gia wiederum war in Europa wie­der einmal auf Ver­einssuche un es war äußerst un­klar, ob er über­haupt weiter für die Aus­wahl spielen wollte. Über­re­ak­tion aber insbesondere des­we­gen, weil neben Caniggia auch zwei andere Starspieler der Mann­schaft, Mittelfeldspieler Fer­nando Redondo und Torjäger Gab­riel Batistuta lange Mähnen zier­ten.

Der Trainer als Frisör

Die Reaktionen fielen un­ter­schiedlich aus: Caniggia wollte erstmal eine Pause einle­gen, Redondo machte klar, daß sei­ne langen Haare ein Teil sei­ner Persönlichkeit seien und er un­ter diesen Bedingungen nicht wei­ter spielen würde, Batistuta be­suchte hingegen flugs den Fri­sör und ließ sich die Haare schnei­den. Für ihn stand auch am mei­sten auf dem Spiel. Schließ­lich war er auf dem besten We­ge, Maradona als Rekordtor­schütze der Nationalmannschaft zu verdrän­gen, Pausen à la Ca­nig­gia kämen da ungelegen.

Die Krise geht weiter

Passarellas erstes Turnier, die Copa America 1995 in Uruguay, wur­de zum Fehlschlag. Mara­do­na ließ sich von seinem Feri­enort ein­fliegen, begutachtete die Spie­le und lästerte über die Dar­bie­tungen. Vor allem die bla­mab­le 0:3 Niederlage gegen die USA gab ihm dafür reichlich Muni­tion. Das unglückliche Aus­schei­den gegen Brasilien folgte auf dem Fuß, der Hausse­gen hing schief. Nur noch ein knap­pes Jahr bis zur Qualifika­tion und der argentinische Fuß­ball in der großen Sinnkrise. Zwei Tur­nie­re hintereinander frühzeitig ge­scheitert, die ein­stige Tur­nier­mann­schaft par ex­cellence be­gann an sich zu zwei­feln.

Ein haariger Kompromiß

Maradonas Sperre war unter­des­sen abgelaufen und Caniggia nach Argentinien zurückgekehrt. Bei seinem letzten Klub in Eu­ro­pa, Benfica Lissabon, war Ca­nig­gia wegen unmotivierten Auf­trit­ten bei den Fans derart in Un­gna­de gefallen, daß er auf of­fener Straße eine Abreibung ver­paßt be­kam. Daraufhin kehrte er der eu­ropäischen Diaspora den Rük­ken, zumal Maradona bei Boca Ju­niors sehnsüchtig auf seinen er­klärten Lieblingsmit­spieler war­tete. Wenn sie zu­sammen spiel­ten, harmonierten sie wie Zwil­linge. Wenn, denn oft war der eine oder der andere verletzt, be­ziehungsweise wegen roter Kar­ten gesperrt. Titel blie­ben so für Argentiniens populär­sten Club Boca Juniors de Bue­nos Aires aus.
Dennoch geriet Passarella zu­neh­mend unter Druck. Er mußte den Kader für das erste Qualifi­ka­tionsspiel gegen Bolivien be­nen­nen und Caniggia spielte im­mer stärker. Wiedereinmal mischte sich der Fuß­ball­fan und Staatspräsident Menem ein. Caniggia sei unver­zicht­bar, Maradona eigentlich auch, aber der würde ja nicht mehr wollen.
Was nun Passarella?
Caniggia zeigte sich kom­pro­miß­bereit. Um ganze drei Zen­ti­me­ter ließ er sich die Haare schnei­den. Passarella konnte an die­ser Geste des guten Willens nicht vorbeigehen und berief Ca­nig­gia ins Aufgebot. Alles in But­ter, da sich das Problem Re­don­do wegen dessen Verletzung zu diesem Zeitpunkt nicht stellte. Caniggia kam, sah und siegte. Ar­gentinien schlug Bolivien 3:1, Caniggia wurde zum man of the match gewählt und der große Fa­vo­rit schien wieder auf den Er­folgs­pfad zurückgekehrt zu sein.

Ecuadors bolivianische Taktik

Nach dem Heimspiel in Bue­nos Aires stand das Auswärts­spiel in Ecuador an. Ecuador konnte sich noch nie für eine Welt­meisterschaft qualifizieren. Bis 1994 hatten sie diese Bilanz mit Bolivien gemeinsam. Boli­vien setzte damals auf die Karte La Paz, Fußball in der Höhe von 3600 Meter, da geraten die Flach­landbewohner aus Argenti­nien, Uruguay und Brasilien aus der Puste. Nun, Ecuador besann sich seiner geographischen und kli­matischen Möglichkeiten und terminierte die Partie auf High Noon in der Höhe von 2700 Me­ter in Quito bei Temperaturen von 28 bis 30 Grad. Passarella be­zeichnete die Höhe als zusätz­li­chen Spieler Ecuadors. Mit 20 Li­tern Sauerstoff sollte dieser zu­sätzliche Spieler bekämpft wer­den. Es war vergebens und der ecuadorianische Torwart Car­los Morales behielt Recht: “Ba­tistuta und Caniggia werden Schwindel­anfälle bekommen und sich zeitweise nicht bewegen kön­nen”. Das argentinische Stür­mer­duo war wirklich nur ein laues Lüftchen, die 0:2 Nieder­lage die logische Konsequenz. Ecua­dor hat nebenbei bemerkt mit dieser Strategie vier seiner bis­herigen fünf Heimspiele ge­won­nen, nur gegen die Allklima­spie­ler aus Kolumbien gabs eine 0:1 Niederlage. Auch die Aus­wärts­bilanz Ecuadors spricht für sich: drei Spiele, ein Tor, null Punkte. Bisher reicht das für den vier­ten Platz.

Zurück in der Krise

Das nächste Auswärtsspiel Ar­gentiniens war nun in Perus Haupt­stadt Lima. Ausreden gebe es hier nicht, meinte Passarella. Mit viel Glück konnten die Ar­gen­tinier ein torloses Unent­schie­den retten. Neben dem Tor­wart Burgos war Abel Balbo der auf­fälligste Spieler Argenti­niens: Mit einem brutalen Foul setzte er sich gekonnt in Szene und durfte schon nach einer hal­ben Stunde duschen gehen. Ca­niggia übte nach dem Spiel Selbstkritik: “Ich schä­me mich nicht, zuzugeben, daß ich gegen Peru schlecht ge­spielt habe. Ich suche keine Ent­schul­digungen, ihr (die Medien) müßt schon die fragen, die nach Ent­schuldigun­gen suchen.” Vor­erst war es wiedereinmal das letzte Spiel Caniggias. Seit Juli 1996 macht er wieder Pause, suchte bisher erfolglos einen Ver­ein in Europa und befindet sich nun wieder in Ver­hand­lun­gen mit Boca, wie auch Spezi Diego Maradona.
Ohne seinen gewohnten Sturm­partner Caniggia machte sich Gabriel Batistuta im näch­sten Spiel gegen Paraguay auf die Socken, Maradonas Länder­spiel­torrekord von 34 zu über­bie­ten. Ein Schuß, ein Tor und Batigol hatte sein Ziel erreicht. Die Show wurde ihm dennoch ge­stoh­len. Im Tor Para­guays steht nämlich José Luis Chi­la­vert, Torhüter und Torjäger in ei­ner Person. Der Keeper des ar­gen­tinischen Vereins Velez Sars­field hatte vor dem Spiel an­ge­kün­digt, einen Treffer zu ver­sen­ken. Nichts ungewöhnliches für Chi­lavert, der schon über 30 Elf­meter- und Freistoßtore zu Buche stehen hat. Er hielt Wort, schnapp­te sich kurz vor Ende des Spiels den Ball und traf mit ei­nem Freistoß zum 1:1 Endstand. Ar­gentinien war schwer getrof­fen. Ausgerechnet der Gastar­bei­ter. Wenige Tage später stand eine Sportgerichtsverhandlung an. Chilavert hatte während eines Punkt­spiels eine leichte Tätlich­keit begangen, die nun schwer ge­ahndet wurde. Mehrere Mo­na­te Ausschluß vom Spielbetrieb lau­tete das erste Urteil. Chilavert war mit Recht sauer und kün­dig­te seinen Weggang aus Ar­gen­ti­nien zum Jahresende 1997 an. Das Urteil wurde revidiert, Chi­la­vert spielt und trifft weiter, aber nicht immer. Kürzlich ver­lor er seinen Nimbus als unfehl­ba­rer Elfmeterschütze und ver­sieb­te gleich deren zwei in einem Punkt­spiel. Paraguay hat es indes in erster Linie seinen Leistungen zu verdanken, daß es nach Ab­schluß der Vorrunde hinter Ko­lum­bien an zweiter Stelle steht, punkt­gleich mit dem Ersten und ge­radezu selbstverständlich mit den wenigsten Gegentoren.
Argentiniens Selbstbewußt­sein war heftig angeknackst, ge­gen Mannschaften wie Peru und Pa­raguay nicht zu gewinnen, war reich­lich ungewohnt. Venezuela kam da als Aufbaugegner gerade Recht. Jahrelang hatte das vene­zo­lanische Team kein Länder­spiel gewinnen können, von Punk­ten bei Qualifikationsspie­len ganz zu schweigen. Diesmal stand derweil schon ein Punkt aus dem Spiel gegen Chile zu Buche, deren Trainer daraufhin zu­rücktrat. Gegen Argentinien lang­te es immerhin zu einem Füh­rungs- und Anschlußtor. Zwei Tore in einem Spiel. Die Vene­zolaner hatten getroffen wie nie zuvor und doch verloren wie fast immer. Überzeugen konnten die Argentinier trotz ihrer fünf Tref­fer nicht, das Ziel Selbstbe­wußt­sein für die anstehenden Spie­le zu tanken, schlug fehl.
Die folgenden zwei Spiele gegen Chile und in Uruguay brach­ten das alte Leid. Krampf und Kampf und zwei schmei­chel­hafte Unentschieden. Und nur noch vier Wochen bis zum letz­ten Vorrundenspiel beim bis dato ungeschlagenen Tabellen­füh­rer Kolumbien. Unterdessen glänz­te der wiedergenesene Re­don­do beim designierten spani­schen Meister Real Madrid wäh­rend Passarella ungewohnte Töne von sich gab. Hatte er noch eini­ge Monate zuvor Maradona als abschreckendes Beispiel für den argentinischen Fußball be­zeich­net, jammerte er nun ge­gen­über dem Präsidenten von Lazio Rom, Dino Zoff: “Argentinien sehnt sich nach großen Namen. Wie Italien, das Zoff, Bettega, Causio und Paolo Rossi verloren hat. Wir in Ar­gentinien haben kei­nen Mara­dona mehr, das ist viel schlim­mer.” Maradona zu be­rufen kam im natürlich nicht in den Sinn, zum einen war die­ser vereinslos und zudem hatte er in seiner vor­erst letzten Spielzeit bei Boca vorallem dadurch auf sich auf­merksam gemacht, daß er sage und schreibe fünf Elf­meter hin­tereinander ver­schos­sen hatte. Von den gegnerischen Fans ver­spottet, von Selbst­zwei­feln ge­plagt, machte er sich dann zwecks Entziehungskur und Er­ho­lung Richtung Europa auf, um nach seiner Rückkehr nun wieder die Medien mit immer neuen Ver­tragsvorstellungen auf Trab zu halten. Maradona also nicht, den vereinslosen Caniggia auch nicht, da blieb nur noch Re­don­do. Dieser wurde berufen, kam aber nicht. Der Streit um die Haare war für ihn noch aktuell und in der Annahme, daß er sei­ne Haare mindestens um drei Zen­timeter kürzen müßte, sagte er ab. Batistuta war zudem we­gen einer Formkrise nicht mal be­rufen worden, so daß Argenti­nien zum ersten Mal seit der WM ohne einen der drei damali­gen langhaarigen Leistungsträger Re­dondo, Batistuta und Caniggia an­trat. Argentinien gewann 1:0 und ist nun Dritter. Die Zeichen ste­hen seitdem wieder auf Kurz­haar­schnitt, aber bis zur WM 1998 ist noch Zeit und Caniggia wird nicht ewig Pause machen.

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