Literatur | Nummer 309 - März 2000

Attraktiv und irritierend: haitianische Literatur in Deutschland

Peter Ripken

Das Bild, das wir von fernen, uns nicht bekannten Ländern haben, entspringt oft aus Projektionen und Legenden. Für Haiti ließe sich das so formulieren: Der anziehende Mythos von der ersten von Schwarzen gegründeten Republik ist längst überlagert von dem irritierend-abstoßenden Bild eines Landes, das von Armut, Gewalt und Chaos beherrscht wird. Zugleich verbinden wir mit Haiti eine Gesellschaft, wo die meisten Menschen wissen (und nicht nur glauben), daß die Toten leben, wo Vaudou praktiziert wird und übernatürliche Kräfte am Werk sind. In einem solchen Land blüht wenigstens die Poesie.
Die Vorstellungen über Land und Leute spiegeln sich in den Erwartungen an die haitianische Literatur wider: Sozialkritik auf der einen, exotische Folklore und erotische Ausschweifungen auf der anderen Seite.
Erfreulicherweise bedienen die Texte haitianischer AutorInnen, die es in deutscher Übersetzung gibt, derlei Projektionen nicht. Die Prosa von Edwige Danticat, René Depestre, Émile Ollivier und Evelyne Trouillot ist bei aller schillernden Sprachverliebtheit so wenig Klischee, wie es die (bezeichnenderweise vergriffenen) Romane von Jacques Stéphen Alexis und Jacques Roumain sind. Ein differenziertes Bild von der literarischen Aneignung der Wirklichkeit und der Imaginationskraft der HaitianerInnen liefern diese Bücher aber dennoch nicht. Auch wenn die Zahl der Übersetzungen statistisch betrachtet vielleicht gar nicht so niedrig ist und man sich fragen muß, ob es nicht tatsächlich mehr Poeten pro Einwohner gibt als zum Beispiel in Deutschland oder Dänemark. Dennoch ist die Liste der höchst interessanten haitianischen AutorInnen, die nur auf Kreol oder Französisch gelesen werden können, auf jeden Fall zu lang. Deshalb sei an dieser Stelle nur zur Lektüre von Louis-Philippe Dalembert, Jean-Claude Fignolé, Frankétienne, Dany Laferrière, Jean Métellus, Lyonel Trouillot und Gary Victor angeregt. Sie alle haben weit über Haiti hinaus Eindruck gemacht, sind aber hierzulande noch nicht angekommen.

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