Literatur | Nummer 503 - Mai 2016

AUF ORIENTIERUNGSLOSIGKEIT FOLGT DIE AUSSICHTSLOSIGKEIT

Die argentinische Schriftstellerin Samanta Schweblin nimmt in ihrem ersten Roman Das Gift die Leser*innenschaft mit auf eine Reise gegen die Zeit

Dunkelheit. Zwei Stimmen. Und die Zeit ist knapp. Samanta Schweblin schafft es in kürzester Zeit, die Leserschaft mit auf Amandas Horrortrip zu schicken. Wie jede Gruselgeschichte beginnt auch diese harmlos.

Von Mirjana Mitrovic

Dunkelheit. Zwei Stimmen. Und die Zeit ist knapp. Samanta Schweblin schafft es in kürzester Zeit, die Leserschaft mit auf Amandas Horrortrip zu schicken. Wie jede Gruselgeschichte beginnt auch diese harmlos. Amanda fährt mit ihrer kleinen Tochter Nina im Urlaub in ein Ferienhaus auf dem Land. Dort lernt sie Carla kennen, die mit ihrem kleinen Sohn David in der Gegend wohnt. Doch irgendetwas stimmt mit David nicht und der von Amanda immer wieder beschriebene „Rettungsabstand“, bei dem sie innerlich ihre flexible Entfernung zu Nina misst, lässt Böses erahnen.
Der gesamte Roman ist ein Dialog zwischen David und Amanda. Davids Stimme, in kursiv geschrieben, hat die Kontrolle über das Gespräch. Er bestimmt, was wichtig und was unwichtig ist. An einigen Stellen fragt er nach, doch wenn er meint, sie würde abschweifen, drängt er Amanda schneller zu erzählen. Sie hingegen erzählt und  verzweifelt. „Das ist alles nicht wichtig. Wir verlieren Zeit. Aber es stimmt doch, oder? Dass ich sterben muss.“
Der Schrecken der Geschichte breitet sich wie die rote Dunstwolke auf dem Cover und das Gift in Amandas Körper langsam aus. Es ist nicht sicher, wer wen und auf welche Art vergiftet und auch nicht, um welche Art Gift es sich handelt. Zwar war es eine Motivation Samanta Schweblins die Situation der Bäuerinnen und Bauern, die in Argentinien auf dem Land mit schwerwiegenden Folgen agrochemischen Substanzen ausgesetzt waren, zu beleuchten, jedoch wird sich nicht immer konkret darauf bezogen – manchmal scheint es eher ein Fluch zu sein, der über dem Dorf liegt. Sicher ist, dass Amanda und ihre Tochter Opfer geworden sind – und nicht die einzigen Opfer. Realität und unheimlicher Fantasie lassen sich schnell nicht mehr auseinanderhalten.
Amanda nimmt die Leserschaft mit: Aus einem scheinbar normal beginnenden Urlaub wird der schlimmste Albtraum. So wie das Gift bei Amanda mehr und mehr einsetzt, breitet es sich auch in der Geschichte aus und nährt das unwohle Gefühl dem kleinen David gegenüber; „Du bringst da was durcheinander, und das ist nicht gut für diese Geschichte. Ich bin ein ganz normaler Junge. Das hier ist nicht normal, David. Es gibt nichts als Dunkelheit, und du flüsterst mir ins Ohr. Ich weiß nicht mal ob das alles hier wirklich passiert.“ Vieles bleibt im Dunkeln. Auch die Antwort auf die Frage, was genau mit David los ist.
Das Bild von gruseligen Kindern wurde zwar schon oft in Horrorgeschichten benutzt, Samanta Schweblin ist jedoch eine Meisterin darin, Bilder im Kopf entstehen zu lassen. Dadurch gelingt es ihr, dieses doch inzwischen etwas abgedroschene Motiv neu zu beleben. Die Fähigkeit, Szenarien im Kopf entstehen zu lassen, liegt sicherlich mit an ihrem Studium der Filmwissenschaften. Die dort erlernten Techniken verbindet sie auf wunderbare Weise mit den Vorteilen der Literatur. Ihr Roman ist von Leerstellen nur so gespickt, wodurch die Leserschaft sich selbst Vieles ausmalen und erklären muss; trotzdem wird sie nicht allein gelassen.
Die 1978 in Buenos Aires geborene Wahl-Berlinerin hat bereits mehrere Erzählungen veröffentlicht, für die sie Preise erhalten hat. Die Schaffung verstörender Momente sind ihr Markenzeichen. Es ist nicht verwunderlich, dass ihr vorausgesagt wird, eine der vielversprechendsten Schriftstellenden ihrer Generation zu sein.
Dieser Roman ist ein absolutes Muss für alle begeisterten Leser*innen von Horrorgeschichten, in denen sich Realität und Albtraum vermischen und die genug Fantasie für die schlimmsten Vorstellungen übrig lassen.

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