Nummer 391 - Januar 2007 | Queer

Aus dem Schrank kommen

Lesbisch, schwul, bi- und transsexuell leben und lieben in Lateinamerika

Annette Nana Heidhues/Anja Witte

Salir del closet“, „sair do armário“ (Aus dem Schrank kommen), so heißt es in Lateinamerika, wenn sich jemand als schwul, lesbisch, bi- oder transsexuell outet. In dieser Schwerpunktausgabe wollen wir einen Blick in diesen Schrank werfen, genauer gesagt, vor den Schrank. Auf jene, die irgendwann in ihrem Leben „herausgekommen“ sind. Auf Frauen die Frauen begehren, auf Männer die Männer begehren, auf Menschen, die Frauen und Männer begehren oder sich selbst nicht eindeutig als Frau oder Mann fühlen.Dieses „Herauskommen“ ist immer auch eine politische Entscheidung. Und in den folgenden Texten spielen immer auch diejenigen eine Rolle, die ihre sexuelle Identität nicht öffentlich machen wollen und die weiterhin „im Schrank“ leben.
Unter dem Begriff Queer (von englisch: unterlaufen) sammelt sich eine Vielfalt an Lebensweisen, an politischen Projekten und Strategien. In Lateinamerika wird dafür oft die etwas sperrige Buchstabenkombination LGBT genutzt: Lesbianas, Gays, Bisexuales, Transgeneros. Öffentlich homo-, bi- oder transsexuell zu leben und zu lieben, das bedeutet in Lateinamerika – und nicht nur dort – als „anders“ wahrgenommen zu werden. Heterosexualität ist die hegemoniale Norm, und wer dieser nicht entspricht, hat mit Vorurteilen und Diskriminierung zu rechnen. Das gilt, wie die folgenden Beiträge zeigen, für die sehr katholisch-konservativen Gesellschaften Zentralamerikas ebenso wie für das oft als „bunt“ gerühmte Brasilien oder die europäisch geprägten Gesellschaften Argentiniens und Chiles.
Bilder von rauschenden Gay-Paraden beim Christopher Street Day in Mexiko-Stadt und Bogotá, von plateaubeschuhten Transvestiten in Glitzerkleidern beim Karneval in Rio oder von sich küssenden Männern im argentinischen Kino sind inzwischen nichts Außergewöhnliches mehr. Doch wie verläuft das Leben von Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen in Lateinamerika abseits von Show und Leinwand? Wie sieht der Alltag aus? Wie der oft jahrelange Kampf um Rechte? Welche Ideen, Projekte und Strategien entwerfen Menschen, um so leben und lieben zu können, wie sie möchten?
Mit unserer Artikelserie haben wir versucht, verschiedene Aspekte queeren Alltagslebens einzufangen. In den Beiträgen geht es um Leben und Überleben in einer Umwelt, die geprägt ist von Unverständnis, Diskriminierung und Gewalt. Gleichzeitig werden kreative Wege und Strategien offen gelegt, die die AkteurInnen einschlagen, um in der Gesellschaft sichtbarer zu werden und das Recht auf eine freie sexuelle Identität als Menschenrecht zu etablieren. Nicht zuletzt wird auch die Schwerfälligkeit deutlich, mit der sich sowohl konservative als auch progessive Regierungen gegenüber alternativen Formen von Partnerschaft und Familie öffnen.
Es werden aber auch anpassende und ausschließende Verhaltensweisen innerhalb der Queer-Szene, seien dies rassistische Vorurteile weißer Homosexueller gegenüber indigenen Schwulen oder die Tatsache, dass Transvestiten mitunter auch von homosexuellen Teilen der Gesellschaft Ablehnung erfahren. Zu beobachten ist außerdem, dass Schwule immer mehr als Konsumenten entdeckt werden und schwuler Lifestyle teilweise im Mainstream angekommen ist – Lesbischsein jedoch nicht.
Die Beiträge zeigen, dass politischer Aktivismus aus der lateinamerikanischen LGBT-Szene keineswegs auf sexuelle Rechte und Identitätspolitik beschränkt ist, sondern weit darüber hinaus geht. Nicht zuletzt bieten sie einen spannenden Einblick in kreative Protestaktionen und Ausdrucksformen queerer Identität. Da wird im Kampf um ein Gesetz für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften in Mexiko Stadt eine lesbische Hochzeit ausgerichtet – in Brautkleidern aus Papier. Ein „beijo gay“, ein schwul-lesbischer Massenkuss, bringt vor dem Regierungspalast in Brasilia die Empörung über die Zensur eines schwulen Fernsehkusses zum Ausdruck. Und in einer bolivianischen Fußgängerzone wird ein Bett aufgestellt – mit zwei Frauen drin.
Markus Plate gibt einen Überblick über politische Entwicklungen in den Queer-Szenen Lateinamerikas. Er lotet auch die Überschneidungen und Widersprüche zwischen linken Zusammenhängen und queeren Projekten aus.
Lohana Berkins schildert Lebenssituation und Selbstverständnis von Transvestiten in Argentinien. Sie erzählt von Gewalt und Kriminalisierung, aber auch von den Strategien der AktivistInnen, den Begriff Travesti politisch neu zu definieren und die herrschende Logik der zwei Geschlechter zu durchbrechen.
Louise Thiel hat schwule Gewerkschaftsaktivisten begleitet, die in Weltmarktfabriken an der m+exikanischen Nordgrenze arbeiten. In ihrer Reportage wird deutlich, wie in den Maquilas in Ciudad Juárez die Grenzen zwischen Heterosexualität, Homosexualität und Machismo verschwimmen.
Dass es auch lebensbedrohlich sein kann, eine „andere“ Sexualität zu leben, erfuhr Annette Nana Heidhues im Interview mit dem kolumbianischen Psychologen Pedro Patiño. Er erzählt von Ablehnung und Gewalt gegen Homo- und Transsexuelle und von der Arbeit des landesweit ersten Beratungszentrums für die LGBT Gemeinde, das derzeit in Bogotá aufgebaut wird.
In Nicaragua ist Homosexualität strafbar. Silke Heumanns Beitrag zur Geschichte der Homosexuellen-Bewegung in Nicaragua zeigt, dass diskriminierende Politik von linken wie von rechten Regierungen ausgeht. Wurden die Rechte von Lesben und Schwulen unter der sandinistischen Regierung größtenteils als Nebenwiderspruch ausgeblendet, so öffneten sich nach dem politischen Umbruch neue Räume. Der Strafrechtsparagraph ist jedoch bis heute nicht abgeschafft worden. Der AIDS- Aktivist Guillermo Murillo erzählt im Interview mit Markus Plate, wie sich die anfangs schwul dominierte AIDS-Bewegung Costa Ricas in der Zusammenarbeit mit heterosexuellen Frauen verändert hat.
Inwiefern Homosexualität inzwischen im kulturellen Mainstream angekommen ist, untersucht Gundo Rial y Costas in seinem Beitrag über die Darstellung von Schwulen und Lesben in brasilianischen, argentinischen und chilenischen Telenovelas.
Barbara Kastner sprach mit dem Schauspieler und Regisseur Flavio Sanctum, der in Rio de Janeiro mit homosexuellen Jugendlichen arbeitet, über die Angst vor dem „ganz normalen Schwulen“ in der brasilianischen Gesellschaft.
Die letzten drei Artikel widmen sich politischen und künstlerischen Gegen-Strategien zur heterosexuellen Norm. Ina Riaskov streift durch die lesbische Szene von Mexiko-Stadt und stößt auf eine Vielzahl von Aktivistinnen und Künstlerinnen, die ihrem politischen Standpunkt auf ebenso humorvolle wie kreative Weise Ausdruck verleihen. Katharina Severin traf sich mit dem chilenischen Künstler und Anna-Seghers-Literaturpreisträger Pedro Lemebel, der mit exzentrischen Performances und bissigem Humor die chilenische Gesellschaft bereits zu Zeiten der Diktatur provozierte.
Den Abschluss bildet Jens Kastners Portrait des bolivianischen Frauen-Kollektivs Mujeres Creando, in dem indigene und weiße, lesbische und heterosexuelle Feministinnen gleichermaßen aktiv sind. Bei ihren Aktionen im öffentlichen Raum greifen sie zwar oft lesbische Themen auf, betonen jedoch, dass es ihnen nicht um Homosexualität als Identität stiftendes Merkmal gehe, sondern um eine weiter gefasste „Strategie des Ungehorsam“ gegen rassistische und sexistische Herrschaftsverhältnisse.
Wir danken Rotmi Enciso, die uns die Fotostrecke für diesen Schwerpunkt zur Verfügung gestellt hat. Sie lebt und arbeitet als lesbische Künstlerin, Schauspielerin, Filmemacherin und Fotografin in Mexiko-Stadt. Ihre Arbeiten, die sie als politische Interventionen versteht, kreisen um Themen wie lesbische Identität, Frauenrechte und widerständische Strategien. Hinter der Kamera lässt sie sich „vom Blick des Gegenübers inspirieren, in dem sich die Vielzahl anderer Blicke und ein Stück geformte Geschichte widerspiegeln.“

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