Film | Nummer 308 - Februar 2000

Aus der Rolle fallen

Geschlechterverhältnisse und der weibliche Blick

Bettina Bremme

Die Telefonistin Julia, alleinerziehende Mutter in Mexiko-Stadt, hat eine große Leidenschaft: den Danzón. Einmal in der Woche steckt sie sich Kunstblumen ins Haar, schlüpft in ihre hochhackigen Schuhe und zieht zum Tanzen. Von ihrem Partner Camilo weiß Julia nur, daß der elegante ältere Herr dort jeden Sonntag auf sie wartet. Doch eines Tages ist Camilo nicht da – das erste Mal in zehn Jahren. Für Julia bricht eine Welt zusammen. Sie kauft sich eine Fahrkarte nach Veracruz, um den Verschwundenen zu suchen – und gerät dabei unversehens in ganz andere Geschichten hinein…
„Danzón“, Maria Novaro (Mexiko, 1993)

Eines Tages schmeißt Antuca, Hausangestellte in Lima, das Putztuch. Sie hat von allem die Nase voll: von den keifenden und neurotischen Oberschichtsdamen, die ihren Frust an ihr auslassen. Von den Angrabschereien durch deren Ehemänner oder verzogene Söhnchen. Und auch Antucas Freund geht ihr auf den Geist mit seinen Macho-Allüren. Lediglich die Treffen in der Hausangestelltengewerkschaft bringen gewisse Lichtblicke und Anregungen. Spontan faßt Antuca einen Entschluß: sie will in ihr Dorf in den Anden zurück…
„Antuca“, Maria Barea (Peru, 1991)

Dalva, eine junge Friseurin aus Sao Paulo, ist gerade dabei, die Koffer zu packen. Sie hat ein Stipendium, um in Miami an einem Wettbewerb teilzunehmen. Die langersehnte Gelegenheit, das Weite zu suchen. Da klingelt es an der Tür. Dalvas Ex-Freund Victor verschafft sich Einlaß. Er versucht, sie von der Reise abzuhalten – mit allen Mitteln. Sexuell fühlt sich Dalva immer noch wahnsinnig zu Victor hingezogen. Gleichzeitig hat sie seine Dominanz satt, seine Brutalo-Manieren, seine Ziellosigkeit. Innerhalb des schäbigen Appartements, das Dalva mit ihrer Mutter bewohnt, eskaliert die Haßliebe zwischen den beiden…
„Um céu de estrelas“; Tata Amaral (Brasil. ’96)
Wenn man sich Filme von lateinamerikanischen Regisseurinnen der Neunziger anguckt, taucht ein Motiv immer wieder auf – ein scheinbar banaler Akt, der alles auf den Kopf stellt: der Kauf einer Fahrkarte. Mit dem Zug von Mexiko-Stadt nach Veracruz, mit dem Bus von Lima in die Anden, mit dem Flugzeug von Sao Paulo nach Miami oder von Caracas nach Paris.
Die Reise symbolisiert das Ausscheren aus dem Trott, den Aufbruch ins Ungewisse. Die Motive sind so vielfältig wie die Frauengestalten in den Filmen: Mal stecken ein vehementer Leidensdruck oder eine bohrende Sinnkrise dahinter. Mal sind einfach die Träume und Ausbruchsgelüste stärker als die Schwerkraft des Alltags. Und oft sind Frust und Lust überhaupt nicht voneinander zu trennen.

Aufbruch aus der Opferrolle

Die Reise als Vehikel für die Suche nach der eigenen Identität ist ein klassisches Filmmotiv. Unzählige Roadmovies haben es immer wieder variiert. Wer kennt sie nicht, diese jugendlichen Helden, die Hals über Kopf das Weite suchen? Aus der Rolle zu fallen und sich den Wind um die Nase wehen zu lassen, das war allerdings jahrzehntelang – nicht nur im lateinamerikanischen Kino – fast ausschließlich „echten Kerlen“ vergönnt. Grenzüberschreitungen, in welcher Form auch immer galten als Privileg der Männer. Frauengestalten, die sich ohne männliche Begleitung auf neue Wege begaben, waren rare Wesen und endeten laut Drehbuch zumeist als gescheiterte Existenzen.
Die Filmgeschichte wimmelt von weiblichen Opferlämmern. Gestrauchelte, die als Huren in der Gosse landen. Oder die andere Seite der Medaille: schmerzensreiche Madonnen, die unter größten Opfern Kinder großziehen, welche die Eskapaden ihrer Männer erdulden und auch sonst als seelische Fußmatte fungieren. Oder die ebenfalls sehr beliebte Variante, Frauengestalten als Projektionsfläche zu benutzen: als Muse zu verklären, als unerreichbare Geliebte anzuschmachten, als Allegorie für Leben oder Tod zu glorifizieren oder zu verdammen: Kurzum, die Frau, das unbekannte (Zauber-)Wesen. Eine Kunstgestalt, die für Drehbuchautoren und Regisseure den Vorteil hat, daß man sich nicht genötigt sehen muß, sich über deren Alltag oder etwaige Probleme Gedanken zu machen. Wer will schon im Film eine „Muse“ vorgeführt bekommen, wie sie gerade den Abwasch erledigt oder Menstruationsbinden kauft?

Startschwierigkeiten und der große Aufbruch

Die Filme des „Neuen lateinamerikanischen Kinos“ haben teilweise mit diesen Traditionen gebrochen und sich bemüht, facettenreichere Frauenfiguren zu kreieren. Die Befreiung der Frauen wurde beispielsweise im revolutionären kubanischen Kino als Teil des sozialen Kampfes verstanden. Trotz einiger sehr gelungener Filme zum Thema Geschlechterverhältnisse, die in den Sechzigern und Siebzigern von Männern gedreht wurden, blieb das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen innerhalb der Filmszene selbst lange Zeit unangetastet. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, waren Frauen nur als Schauspielerinnen, Cutterinnen, Scriptgirls oder in ähnlichen klassischen Bereichen präsent. Bis in die späten Siebziger hinein müssen Regisseurinnen fast mit der Lupe gesucht werden – ein Zustand, der allerdings in ähnlicher Weise auch für andere Gegenden der Welt gilt.
Die wenigen Ausnahmen waren oft ehemalige Schauspielerinnen, denen es gelang, unter großem Energieaufwand eigene Filme zu produzieren. Beispiele sind die Mexikanerin Matilde Landeta, die 1949 den Film „La negra Angustias“ (Die Schwarze Angustias) drehte und die Brasilianerin Carmen Santos, die sich in den Zwanzigern und Dreißigern als Schauspielerin, Regisseurin und Produzentin einen Namen machte.
Erst im Laufe der Siebziger, als sich die Ideen der Frauenbewegung auch in Lateinamerika verbreiten und die Unzufriedenheit vieler Frauen mit den klassischen Vertretern des gesellschaftlichen „Fortschritts“ – wie linken Parteien, Gewerkschaften, Künstlergruppen – wächst, beginnt sich auch im Filmbereich etwas zu regen. Hinzu kommt, daß es in den Sechzigern und Siebzigern aufgrund der Gründung etlicher Filmhochschulen erstmals möglich wird, außerhalb der Seilschaften der Filmindustrie eine professionelle Ausbildung zu bekommen – was die Startchancen für Frauen erheblich verbessert hat.
Anders wäre beispielsweise die starke Präsenz von Regisseurinnen wie María Novaro und Dana Rothberg im aktuellen mexikanischen Kino schwer möglich gewesen. Zwar sind auf dem ganzen Kontinent die Filmemacherinnen oder Produzentinnen immer noch stark in der Minderheit. Jedoch sind ihre Werke oft so interessant und prägnant, daß sie aus der Durchschnittsproduktion herausragen. Ein Phänomen, das wir aus der ganzen Welt kennen: Wenn es Frauen denn nun schaffen, in einem so heiß begehrten und hart umkämpften Metier wie dem Kino Fuß zu fassen, sind sie meistens nicht nur gut, sondern sehr gut. So meint der mexikanische Produzent Jorge Sánchez 1994 zu einem deutschen Fernsehteam: „Für mich sind die Regisseurinnen das wichtigste am mexikanischen Film der letzten Jahre. Ihr Beitrag ist für mich ohne jeden Zweifel die Vorstellung von Mexiko, die mir am besten gefällt.
Frausein allein ist natürlich noch lange kein Programm. Diese banale Wahrheit gilt natürlich auch für die Arbeit von Regisseurinnen. Auch die wenigen Filme, die von Frauen gedreht wurden, hatten lange Zeit die Tendenz, Frauen eindimensional als unterdrücktes Opfer oder stoische Heldin zu stilisieren. Ein Schema, das zum Glück seit den letzten zwanzig Jahren zunehmend durchbrochen wird.
Zwar wimmelt nach wie vor die filmerische Dutzendware von schablonenhaften Frauen- und Männerbilden. Die schöne neue Welt der Fernsehwerbung und der Telenovelas, die auch in Lateinamerika längst dem Kino den Rang als Unterhaltungsmedium Nummer Eins abgelaufen hat, wird von blondierten barbiepuppenhaften Oberschichtsdamen und demütigen „eingeborenen“ Domestikinnen, intriganten Femmes fatales und unehelich geschwängerten Unschuldslämmern bevölkert.
Bei den FilmemacherInnen, die eine gewisse künstlerische Qualität für sich reklamieren, gehört es dagegen – wie auch in anderen westlichen Ländern zunehmend zum „guten Ton“, die Geschlechterverhältnisse differenzierter zu zeichnen.

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