Argentinien | Nummer 318 - Dezember 2000

Beruf Grenzgänger

Der informelle Handelsaustausch prägt die Grenzregion von Argentinien und Paraguay

Im nordöstlichen Argentinien bildet der Río Paraná die natürliche Grenze zum Nachbarland Paraguay. Ein schwunghafter halblegaler bis illegaler Grenzhandel zwischen den beiden Ländern stellt für viele Menschen, die in der Grenzregion leben, die Einkommensquelle dar. Sie sind als paseros tätig, das heißt als Grenzgänger. Vermutlich halten sich deshalb die sozialen Spannungen in dieser Region in Grenzen.

Stefan Kunzmann

Als kleiner Junge hat Cristian sich immer gefragt, was das für ein Land sei, dort auf der anderen Seite des Flusses. Mit seiner Großmutter überquerte er zum ersten Mal den Río Paraná, den Grenzfluss zwischen Argentinien und Paraguay, der die beiden Städte Posadas und Encarnación trennt. Seit mehr als 40 Jahren arbeitet Cristians Großmutter als pasera, als Grenzgängerin. Die Familie teilt sich die Arbeit auf: Die Einen holen die Ware in Encarnación, die Anderen verkaufen sie in Posadas. „Beim Grenzübergang zahlst du dem Zollbeamten ein paar Pesos, damit er dich passieren lässt. Wenn du Pech hast, nimmt er dir alles ab. Das hängt ganz davon ab, mit wem du es zu tun hast“, erzählt die alte Frau und zischt verächtlich durch die wenigen, ihr noch verbliebenen Zähne: „Die sind alle korrupt“. Gabi, Cristians älterer Bruder, ruft dazwischen: „Einem Freund nahmen sie das Auto ab, weil er keine Papiere hatte. Um es zurückzukriegen, hätte er den Wert des Autos zahlen müssen“.
Mit 18 hatte Cristian seine Familie verlassen, um sein Glück in Buenos Aires zu versuchen. Er heiratete und ist nun stolzer Familienvater. Der heute 21-Jährige arbeitet als Kellner in einem Restaurant, von morgens neun Uhr bis Mitternacht, sechs Tage in der Woche. Er bekommt dafür rund 500 US-Dollar monatlich. Das ist fast das Vierfache des durchschnittlichen Monatseinkommens in seiner Heimatprovinz Misiones.
Wie eine Umfrage des Sozialforschungsinstituts Equis kürzlich ergab, leben mindestens 7,4 Millionen ArgentinierInnen, rund 20 Prozent der Bevölkerung, von etwa 65 US-Dollar monatlich. Die Kluft zwischen Arm und Reich hat weiter zugenommen: Unter den zehn Prozent der ärmsten ArgentinierInnen sank das durchschnittliche Einkommen laut Equis-Untersuchung in den vergangenen drei Jahrzehnten um 55 Prozent, das Einkommen des reichsten Zehntels der Bevölkerung stieg hingegen um fast 60 Prozent.
Zu dieser Polarisierung trug die neoliberale Privatisierungspolitik unter Ex-Präsident Carlos Menem (1989–1999) erheblich bei. Umso mehr verband die Mehrheit der ArgentinierInnen den Amtsantritt seines Nachfolgers Fernando de la Rúa im vergangenen Dezember mit neuen Hoffnungen. Doch der Optimismus ist verflogen. De la Rúas Sparpolitik, Lohnsenkungen bei den öffentlichen Angestellten, Steuererhöhungen und öffentliche Ausgabenkürzungen haben die nun schon zwei Jahre anhaltende Rezession verschärft und die Arbeitslosigkeit erneut steigen lassen. Die Arbeitslosenquote ist offiziell wieder auf mehr als 15 Prozent geklettert, die Wachstumsprognosen der Wirtschaft für das Jahr 2000 wurden inzwischen auf 0,6 Prozent nach unten korrigiert. Damit verzeichnet Argentinien in diesem Jahr die schwächste Wirtschaftsentwicklung unter den sieben größten Volkswirtschaften Lateinamerikas.
Besonders von Arbeitslosigkeit und Rezession betroffen sind die Provinzen im argentinischen Norden: In Salta, im Nordwesten des Landes, leben 56 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, die Ärmsten leben von wenig mehr als einem US-Dollar pro Tag, während die Abgeordneten im Regionalparlament mehr als 500.000 US-Dollar jährlich einstreichen. Im Frühjahr war es in acht Provinzen zu gewaltsamen Massenprotesten gekommen, unter anderem in Salta, Formosa und im Chaco (vgl. LN 312). Laut Artemio López von Equis fanden die Proteste vor allem in jenen Provinzen mit der größten Kluft zwischen gut verdienenden Abgeordneten und verarmten Massen statt.

Zwischen Posadas und Encarnación

Dass es in der nordöstlichen Grenzregion um Posadas noch nicht zu größeren Ausschreitungen gekommen ist, könnte daran liegen, dass ein Großteil der Bevölkerung im informellen Sektor, das heißt in diesem konkreten Fall im halblegalen bis illegalen Grenzhandel, tätig ist. So auch Cristians Familie, die noch am Ufer des Río Paraná lebt.
Für Cristians Eltern, seine fünf Brüder und die zahlreichen Verwandten hat der Paraná immer noch große Bedeutung. Zwei bis drei Mal täglich überqueren die Frauen den Fluss in das paraguayische Encarnación und kommen voll beladen zurück. In ihren Taschen bringen sie Zigaretten, Kleider und Haushaltswaren aus Paraguay mit, die sie dann auf dem Mercado La Placita, dem Markt von Posadas, verkaufen. Auf dem Markt gibt es alles von der Unterhose bis zum Büstenhalter, vom Spielzeug bis zu Armbanduhren und CDs.
Rund 11.000 Menschen überqueren täglich die Brücke Roque González de Santa Cruz. Drüben in Paraguay ist die Stange Zigaretten um die Hälfte billiger. Das Geschäft lohnt sich also. Doch richtig rentabel wird es erst, wenn man ein Auto hat: Für einen Kofferraum voll geschmuggelter Videokassetten springen schon einmal 100 bis 150 US-Dollar heraus.
Trotz Mercosur, dem gemeinsamen Markt von Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay, hat sich in der Provinz Misiones wenig geändert. Geschmuggelt wird weiterhin. Böse Zungen behaupten, dass die 32.000 EinwohnerInnen Encarnacións nur davon leben. Die „Perle des Südens“, wie die Stadt euphemistisch genannt wird, steckt tief in der Krise. In den vergangenen Jahren mussten zahlreiche Firmen, Geschäfte und Restaurants schließen. „Die Leute haben kein Geld. Nicht einmal für ein Huhn für den heimischen Kochtopf“, sagt Vicente, der seit seiner Geburt in Encarción lebt. Seine Frau habe ihn verlassen, nachdem hier alles den Bach runterging, erzählt er. „Nach Buenos Aires ist sie, wie viele Paraguayos“, vermutet der Mittvierziger. Doch in der argentinischen Hauptstadt erwartet die Zugezogenen wenig anderes als erneutes Elend. Für viele Menschen aus dem Norden, die die Illusion hatten, einen Job zu finden, endet die Reise in der Sackgasse aus Arbeitslosigkeit, Armutskriminalität und einem Leben in den Elendsvierteln der Megalopolis am Río de la Plata.
Cristian hat Glück gehabt: Mit seinem Verdienst und dem seiner Frau lässt es sich einigermaßen leben in der Hauptstadt. Wenn am Monatsende etwas Geld übrig bleibt, schickt er es seinen Verwandten nach Posadas. Oft muss er an sie denken.
Verändert hat sich in seiner Heimat nur wenig: Den Menschen an der Grenze bleibt nichts anderes übrig, als zu schmuggeln. Arbeitsplätze gibt es kaum und die wenigen sind zudem miserabel bezahlt. Wer nicht schmuggelt, ernennt sich selbst zum Zöllner: Hat ein pasero die Grenze einmal überquert, ist längst nicht alles überstanden. Dann kommen Diebesbanden, bewaffnete Wegelagerer, einige von ihnen sogar in falschen Uniformen, und fordern ihren Zoll. Besonders auf Lastwagen haben es die Grenzpiraten abgesehen. Dabei verschwinden mitunter ganze Ladungen. Die Diebe nehmen, was ihnen zwischen die Finger kommt: Handys, Hifi-Anlagen oder Fotoapparate, und auch schon mal eine Lieferung tiefgekühlter Hähnchen.
Die meisten Jugendlichen in Posadas sind arbeitslos, so auch Cristians Brüder. Wenn sie nicht gerade „organisieren“ gehen, hängen sie herum, trinken, vergnügen sich bei Cumbia-Musik mit Mädchen, oder gehen zum familieneigenen Schießstand, um ein bisschen auf leere Bierflaschen oder selbst gebastelte Zielscheiben zu ballern. Eine Waffe sei leicht zu bekommen, sagt Carolina, Cristians Frau. Sie weiß auch, dass die Männer der Familie einen Großteil ihres Geldes damit verdienen, Fernfahrern Wegegeld abzukassieren.
Rund 25 Kilometer von Posadas entfernt liegt Candelaria, ein Ort, der wie ausgestorben wirkt. Auf der Straße trifft man nur ein paar Rudel streunender Hunde und eine handvoll Polizisten. Vor allem nachts gehen sie auf Patrouille, denn hier ist der Río Paraná schmal und lädt zu nächtlichen Schmuggelfahrten ein. Jeder weiß, dass die Polizei kräftig am „Geschäft“ mitverdient. „Ganz Candelaria lebt vom Schwarzhandel“, gesteht ein vor sich hin dösender Kioskbesitzer.
Es sei gefährlicher geworden, sagt der Alte, der von seinen 50 US-Dollar Rente allein nicht leben kann. „Wenn es dunkel wird, traut sich niemand mehr auf die Straße. Eine Bande aus Paraguay treibt ihr Unwesen, angeführt von einer Frau. Kaum jemand hat sie jemals zu Gesicht bekommen. Aber wer ihr nicht passt, mit dem macht sie kurzen Prozess.“

Regenschirme und Schweineleder

Das Misstrauen zwischen ArgentinierInnen und ParaguayerInnen sitzt tief. Die paraguas (Regenschirme), wie Letztere genannt werden, seien alles Diebe, klagt der Mann am Kiosk: „Wenn du nicht Acht gibst, fallen sie über dich her.“ Und für die „Regenschirme“ sind die Argentinier curepís, das heißt in der Indianersprache Guaraní so etwas wie „Schweineleder“. Manche sagen auch schlicht „weiße Schweine“.
Zurück in der „geteilten Stadt“: Eine endlose Schlange von Autos bewegt sich zäh Richtung Argentinien. Die Hitze lähmt. Der Asphalt scheint zu kochen. Die argentinische Regierung hat die Kontrollen verschärfen lassen, nicht erst seit kürzlich ein Gendarm erschossen wurde. Immer mehr Schmuggler seien bewaffnet, heißt es. Die Polizei sucht nun verstärkt nach Rauschgift. In der oberen Liga der Schmuggler und Diebe wird mit gestohlenen Autos, Kleinkindern und Drogen gehandelt. Erst vor kurzem hatte die Polizei Marihuana im Wert von einer halben Million Dollar sicher gestellt. Auch einige ihrer Kollegen waren in den Deal verwickelt.
Argentinien hat sich in den vergangenen Jahren nicht nur zum Umschlagplatz für Drogengelder entwickelt. Es ist auch zum Transitland für Kokain in Richtung Europa geworden. Unter den Sitzen der Autos vermuten die Polizeibeamten das „weiße Gold“. Doch mit den schärferen Kontrollen gehen der argentinischen Polizei vor allem mehr paseros ins Netz, kleine Fische, die sie schröpfen können, während die großen ungeschoren bleiben und ihre Yachten irgendwo in einem sicheren Hafen liegen haben.

Die Korruption macht Politik

Nach den Protesten in den Provinzen sah sich die argentinische Regierung zum Handeln gezwungen. De la Rúa kündigte einen Fonds zur Bekämpfung der Armut an. Doch soziale Hilfsmaßnahmen scheiterten bisher stets an einem ungeschriebenen Gesetz der armen Regionen: der Korruption. Die Ressourcen teilten die LokalpolitikerInnen unter sich selbst auf, die Gelder landeten entweder in ihren eigenen Taschen oder in denen der SympathisantInnen.
Die Offensive der argentinischen Regierung, den Schmuggel an der argentinisch-paraguayischen Grenze zu stoppen, hat zudem nur dazu geführt, vielen GrenzgängerInnen am Río Paraná die Lebensgrundlage zu rauben. Denn eine Alternative für die tägliche Reise über den Fluss haben die Menschen dort noch nicht gefunden.

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