Argentinien | Nummer 325/326 - Juli/August 2001

Beruhigungspillen ohne Wirkung

Soziale Proteste, Repression und Tote im Norden Argentiniens

Anderthalb Jahre nach dem Wahlsieg des Kandidaten des Mitte-Links-Bündnisses Alianza, Fernando de la Rúa, befindet sich Argentinien in einer dramatischen Situation. Neben der gravierenden Wirtschaftskrise, die im März zur praktischen Auflösung der Regierungskoalition geführt hat, und dem Anfang Juni verhängten Hausarrest gegen Expräsident Carlos Menem wegen illegaler Waffengeschäfte, wird das Land von schweren sozialen Unruhen heimgesucht.

Emilio Ruchansky, Olga Burkert

Am 17. Juni diesen Jahres, es ist Vatertag in Argentinien, möchte Carlos Santillán, ein 27-jähriger Metallarbeiter, das Grab seiner kleinen Tochter besuchen. Er stirbt paradoxerweise auf dem Friedhof, von einer verirrten Kugel in den Kopf getroffen. Ganz in der Nähe hatten Arbeitslose aus Protest eine Straße besetzt. Auch dort wurde eine weitere Person durch Schüsse der Polizei schwer verletzt und dann durch die in Panik geratene Menge zu Tode getrampelt. Beide Opfer lebten in General Mosconi, einer kleinen Stadt mit 10.000 EinwohnerInnen in der Provinz Salta im Norden Argentiniens.
Ende der 60er Jahre galt General Mosconi auf Grund der Erdölvorkommen als Hoffnung vieler Arbeiter. Heute liegt die Arbeitslosenquote bei 40 Prozent. 400.000 ArbeiterInnen wurden in Folge der Privatisierung der argentinischen Erdölförderungsgesellschaft YPF (Yacimientos Petrolíferos Fiscales), die an die spanische Firma Repsol verkauft wurde, entlassen.
Mit der Blockade der Bundesstraße 34 wollten die Arbeitslosen auf ihre soziale Situation aufmerksam machen. Unterstützt wurden sie von Arbeitern, die bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne forderten. Angefangen hatten die Proteste am 30. Mai, als eine Gruppe von Maurern, die das Krankenhaus General Mosconi bauen, einen Mindestlohn von 2,50 US-Dollar forderten und ihnen dieser nicht bewilligt wurde.

Rebellen und Aufrührer

Als die Proteste andauerten, wurden ab dem 14. Juni Polizeikräfte in General Mosconi zusammengezogen. Am darauf folgenden Sonntag eskalierte die Situation, als die Polizei plötzlich mit repressiven Maßnahmen reagierte, mit Tränengas und bis an die Zähne bewaffnet gegen die Protestierenden vorging und die seit 18 Tagen blockierte Straße stürmte. Zu dem Zeitpunkt waren nur wenige Protestierende anwesend, die Aktion rief jedoch sofort heftige Reaktionen hervor und viele BewohnerInnen kamen herbei, Schüsse waren zu hören.
Neben Carlos Santillán wurde auch der 17-jährige Oscar Barrios bei den Auseinandersetzungen getötet. 30 weitere Menschen wurden verletzt, Häuser zerstört und Geschäfte verwüstet.
Nach dem Bekanntwerden der Zwischenfälle wurden die Protestierenden von Seiten der Regierung als Guerrilleros, Rebellen und eine linke Gruppe von Aufrührern bezeichnet. Weiterhin verbreitete sich die Version, die piqueteros (Streikenden) seien der lange Arm einer Bande von Drogenhändlern aus Bolivien und eine andere schrieb ihnen von den kolumbianischen FARC kommende Instruktionen zu. Außerdem sollten angeblich 500 gestohlene Waffen in ihrem Besitz sein. Das wurde schließlich auch als Vorwand benutzt, mit massiver Staatsgewalt gegen die Straßenblockade vorzugehen, „um die Verschwörung linksgerichteter Gruppierungen“ zu verhindern.
Der Gouverneur der Provinz Salta, Juan Carlos Romero, bezeichnete die Protestierenden als eine politische Gruppe, die keine friedliche Lösung des Konflikts wolle. So rechtfertigte er den Polizeieinsatz und sagte, die Polizisten seien beschossen worden.
Gegen diese Behauptungen wehren sich die Protestierenden jedoch vehement. Seit Jahren würden die Arbeitslosen diese Form des Protestes benutzen und nie sei einer bewaffnet gewesen, nie wären von ihnen Straftaten begangen worden.
Trotz der massiven staatlichen Repression breiteten sich die Proteste schnell über weitere Provinzen im Norden Argentiniens, wie zum Beispiel Jujuy, Chaco, Catamarca und Tucumán, aus. Dort gab es sofortige Reaktionen, viele Arbeitslose erklärten sich solidarisch und errichteten ebenfalls Straßensperren.
Währenddessen schob der Präsident Fernando de la Rúa die blutigen Vorfälle der Politik von Juan Carlos Romero in die Schuhe. Er warf dem Gouverneur von Salta, der dem konservativen Partido Justicialista angehört, vor, dass die getroffenen Maßnahmen zur Bekämpfung der sozialen und ökonomischen Missstände völlig unzureichend seien. Den politischen Preis, das heißt die Toten und das schlechte aber reale Bild, das der Konflikt hinterlässt, müsse die Landesregierung bezahlen. Romero reagierte auf die Kritik indem er darauf hinwies, dass die Regierung seine Provinz bei der Verteilung staatlicher Gelder diskriminiere, da sie von einer oppositionellen Partei regiert werde.
Dies ist ein schon immer schwelender Streit zwischen der Hauptstadt Buenos Aires und den Provinzen, zwischen der Bundes- und den Landesregierungen. Traditionell besteht Feindlichkeit zwischen den porteños (BewohnerInnen von Buenos Aires) und den provincianos. Die BewohnerInnen der Provinzen fühlen sich benachteiligt gegenüber Buenos Aires, das sich schon immer einbildete, wichtiger als das übrige Argentinien zu sein.
Unabhängig von diesem Parteienstreit hat es in General Mosconi in wenig mehr als einem Jahr drei Straßenblockaden gegeben. Im Dezember 1999 gab es die erste Straßenblockade, mit der Präsident de la Rúa kurz nach seinem Amtsantritt konfrontiert wurde. Zwei Arbeiter kamen bei den Protesten ums Leben. Ein Jahr später wurde ein 37-jähriger LKW-Fahrer, der seinen seit einem Jahr ausstehenden Lohn einforderte, erschossen. Den Statistiken der Polizei zufolge, hatte die Regierung de la Rúas im Durchschnitt mit einer Straßenblockade pro Tag zu kämpfen. In 301 Tagen des Jahres gab es 307 Demonstrationen.
Damals hatte De la Rúa den Arbeitslosen Unterstützung zugesichert. Es wurden Nahrungsmittel und 3.000 Arbeitsplätze zur Verfügung gestellt, die mit einem Stundenlohn von umgerechnet drei Mark vergütet wurden. Dieses „Trinkgeld“ sollte als Beruhigungspille gegen ein immer gefährlicher werdendes Ungeheuer dienen: die Verzweifelung.
Ein Sprecher des Innenministeriums ließ verlauten, dass man eine verstärkte Aktivität von linken Gruppen beobachtet habe, welche zunehmenden Einfluss auf die Bevölkerung von Salta ausübe. Er sagte, in der Regierung gebe es “große Sorgen, dass es zu noch schlimmeren Vorfällen kommen wird, wenn man es nicht schafft, den politischen Extremismus von der Bevölkerung zu isolieren“. Alarmiert durch die gespannte Lage im Norden Argentiniens, die auch schnell im Rest des Landes um sich greifen kann, muss De la Rúa nun eine Strategie definieren, mit der er der Situation entgegentreten kann. Nach der Logik der Regierung gibt es nur zwei Optionen: weitere Verabreichung von „Beruhigungspillen“ oder Repression. Der Präsident scheint sich für die zweite Option entschieden zu haben. De la Rúa war federführend bei der Verabschiedung eines neuen Gesetzes, welches die Kompetenzen der Polizei ausdehnt, „damit sie bessere Möglichkeiten hat, Verbrechen vorzubeugen und die Kriminalitätsrate zu senken“. Verschiedene Menschenrechtsbewegungen kritisierten die Reform, da sie die Tür für weiteren polizeilichen Missbrauch öffne und damit gegen die institutionellen Garantien der Verfassung verstoße.
Anfang Juli wurden aus Protest gegen die Vorgehensweise der Regierung und der Polizei in Salta auch in Buenos Aires Straßen gesperrt. Die Demonstranten in der Hauptstadt ließen sich am 5. Juli mit dem Versprechen auf Gespräche mit der Regierung zu einem Abbruch der Blockaden bewegen. Im Gegensatz dazu beschlossen die piqueteros, die die Bundesstraße Buenos Aires-La Plata besetzt halten jedoch ihre Barrikaden aufrechtzuerhalten, bis der Vizeminister für Inneres, Lautaro García Batallán, zu einem Dialog erschiene.

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