Argentinien | Nummer 409/410 - Juli/August 2008

Betriebe ohne Boss

Die Geschichte der besetzten Fabriken in Argentinien geht weiter

Im Zuge der Wirtschaftskrise 2001/2002 hatte die genossenschaftliche Bewegung in Argentinien neuen Auftrieb erhalten. Angesichts drohender Schließungen wurden zahlreiche Fabriken von der Belegschaft besetzt und die Produktion in Eigenregie fortgeführt. 2003 betrieben etwa 15.000 ArbeiterInnen 180 besetzte Betriebe. Zwar sind seitdem kaum neue Betriebe hinzugekommen, die Großzahl der damals übernommenen Fabriken konnte sich aber dauerhaft etablieren und produziert heute sehr rentabel. Ermöglicht wird dies unter anderem durch GeldgeberInnen wie Brendan Martin. Der Amerikaner gründete 2005 einen Kapitalfonds, der sich ausschließlich auf die Unterstützung genossenschaftlich organisierter Betriebe verschreibt. Eine Reportage über den Alltag von selbst verwalteten Fabriken.

Julia Ohlendorf

Das Büro, von dem aus die Welt verändert werden soll, liegt an der Straße Talcahuano 215 in Buenos Aires, zwischen Gitarrenläden und einem Tanzstudio. Es wird umhüllt von der typischen Geräuschkulisse der Stadt: Hupen, geräuschvolles Bremsen und Anfahren von Autos. An der Haustür ein Klingelschild mit der Aufschrift „La Base 1 B“. Die Tür öffnet Brendan Martin, ein blasser, mittelgroßer Amerikaner mit rotbraunem Haar. Er wirkt etwas müde. Seine Wohnung ist gleichzeitig sein Büro – oder umgekehrt. So einfach lässt sich das nicht erkennen in dem hohen Loft mit Schreibtischen und Computern, an denen zwei junge Frauen arbeiten. An der Wand hängt eine weiße Tafel, voll geschrieben mit Tabellen und spanischen Namen, auf der anderen Seite eine ölverschmierte Lederschürze. In der Küchenecke stehen Müslipackungen und leere Flaschen von der letzten Party.
Martin lehnt sich auf seinem Holzstuhl zurück. „Ich habe mich schon während meines Studiums für alternative Wirtschaftsmodelle interessiert“, sagt er – plötzlich sehr wach und forsch. „Aber die große Frage war: Wie dort mitarbeiten können?“ Eine Antwort lieferte ihm im Herbst 2004 der Film The Take (Die Übernahme), der den Kampf einiger Genossenschaften in Argentinien nach der Wirtschaftskrise 2001/2002 dokumentiert. Dem folgte eine Begegnung mit dem kanadischen Regisseur Avi Lewis. Gemeinsam flogen sie nach Buenos Aires und trafen dort fünf Argentinier, die an dem Film mitgearbeitet hatten. Zusammen entschlossen sie sich, den Kapitalfonds La Base zu gründen.
Martin kündigte dafür seinen Job in den USA. „Im Januar 2005 haben wir dem ersten Projekt Geld geliehen, 5.000 Pesos“ (etwa 1.000 Euro), erzählt er so ganz nebenbei.
Bis heute sind es 30 Projekte geworden. 400.000 Pesos (etwa 80.000 Euro) sind durch den Fonds in Umlauf gekommen, gewonnen aus eigenem Kapital und Spenden. Die Zinsrate liegt bei 1,5 Prozent, die Rücklaufquote bei 85 Prozent. Der Fonds verfolgt das Ziel, die Genossenschaftsbewegung in Argentinien zu unterstützen. „Hier wollen wir zeigen, dass die Kooperativen auf dem Markt überleben, und Produkte schaffen, die mit denen aus China konkurrieren. Dass Betriebe ohne Bosse nicht nur ein Traum sind – und dass man den Arbeitern Geld anvertrauen kann.“ Martin redet so schnell über die Ziele von La Base, wie er vorhat, den Fonds auszuweiten. Geld aus dem Fonds fließt ausschließlich an Betriebe, die genossenschaftlich organisiert sind, was auch erklärt, warum niemand im Büro von „Minikrediten“ redet. „Die bringen am Ende auch wieder nur kleine Kapitalisten hervor“, so Martin. Er steht auf, um zwölf Uhr ist die erste Genossenschaft zu besichtigen: „Die Arbeiter trinken nicht nur Mate-Tee. 2007 haben wir 100 Prozent unserer Anleihen zurückgekriegt.“

„Wir waren eine Vaterfigur gewöhnt, und auf einmal bist du Waise“

In San Martín gibt es keine verglasten Hochhäuser wie in Buenos Aires. Die Kleinstadt liegt 30 Autominuten außerhalb der Hauptstadt in der gleichnamigen Provinz. An den geraden Straßen stehen die typischen einstöckigen Häuser, in deren Erdgeschoss Strümpfe, Eisenwaren oder gegrillte Hähnchen verkauft werden. Wie im ganzen Land rasen aber auch in San Martín die Busfahrer wie die Henker um die Ecke. An einer dieser Ecken beginnt der große, graue Fabrikkomplex, wo versteckt neben einer Tür „CUC – Cooperativa Unidos por el Calzado“ gepinselt wurde. Und an einer anderen Tür steht „Gatic“. Letzterer Name gibt einen Hinweis auf den Besitzer aus vergangenen Zeiten, als drinnen noch Schuhe für Adidas genäht wurden. „Willkommen bei CUC. Die Arbeiter sind gerade beim Mittagessen“, sagt Lalo Paret und tritt aus der Tür heraus in die Hitze. „Lasst uns erstmal drüben das Radio und den Kindergarten anschauen“.
Unter dem Namen Genossenschaft CUC werden seit 2003 wieder Schuhe gefertigt, 127 Mitglieder zählt sie. Die Geschichte von CUC liest sich wie die fast aller Genossenschaften: 2003 geht die Fabrik pleite, der Besitzer haut mit dem Geld ab und die ArbeiterInnen sitzen von einem auf den anderen Tag auf der Straße. 50 vorwiegend ältere Arbeiter, die kaum wieder einen Job gefunden hätten, besetzen den Betrieb.
Es sind keine überzeugten KommunistInnen oder gar AnarchistInnen, die dort drei Monate ausharren, sondern Väter und Mütter, die arbeiten und ihre Kinder ernähren wollen. Mit dem Konkursverwalter wird ein Vertrag auf fünf Jahre ausgehandelt, die Fabrik auf eigene Faust zu betreiben. Und damit beginnt der zweite, der längere Kampf: Den Betrieb wieder aufnehmen und sich in einer Welt zurechtfinden, wo alle eine Stimme haben und jeder das Gleiche verdient. Nach drei harten Jahren sind das derzeit 2.000 Pesos pro Monat (etwa 400 Euro).
„Wir hatten ziemliche Probleme mit dem Wechsel. Wir waren eine Vaterfigur gewöhnt, und auf einmal bist du Waise“, erinnert sich Luis Medrano, einer der beiden Verantwortlichen für das Radio Neue Generation. In dem niedrigen, holzvertäfelten Raum hängt ein Plakat: „CUC – Keine Chefs, keine Angestellten, einfach arbeitende Menschen.“ Das Radio sendet von acht bis 22 Uhr und es werden Themen behandelt, die kommerzielle Sender nicht aufgreifen. Dazu sind nicht nur die Genossenschaftler eingeladen, sondern alle BewohnerInnen des Viertels. Denn die eine Funktion der CUC liegt darin, Arbeitsplätze zu schaffen, die andere eine Bildungsbewegung anzuschieben. Dazu werden im eigenen Kulturzentrum neben Sport auch Lese- und Schreibkurse für Erwachsene angeboten. „Wir holen uns nicht nur die Arbeit, sondern auch die Würde wieder“, sagt Medrano kämpferisch und in dem Wissen, dass bei vielen seiner compañer@s dieses Bewusstsein noch nicht verwurzelt ist.
Lalo Paret aber sieht das genauso und kommt hinzu. Er sitzt in der Kommission, in der neue Ideen vorbereitet werden, über die dann in der Mitgliederversammlung abgestimmt werden muss. „Im Januar waren wir zusammen im Urlaub. 60 am Meer und 60 in Córdoba. Diese Augen hätten Sie sehen müssen.“ Was für die meisten nur nach Erholung aussah, hatte aber für Paret einen viel tieferen Sinn: Integration zwischen den Mitgliedern zu stiften. „Viele der Arbeiter wollen nicht aktiv an den monatlichen Sitzungen teilnehmen. Sie arbeiten von sechs bis 16 Uhr und sagen dann ‚Du machst das schon allein.’ Aber wer nicht teilnimmt, schadet nur sich selbst. Deshalb auch der Urlaub, damit sie sich kennen lernen und miteinander reden“, fügt er hinzu und geht mit Martin Richtung Fabrik.
Dort ist das Mittagessen beendet, die Nähmaschinen schnurren ununterbrochen, jeder Platz ist besetzt. An der Wand hängt ein ungenutzter Lochkartenhalter aus alten Zeiten. „Hey, ihr habt neue T-Shirts“, fällt es Martin beim Betreten der Halle auf. „Seit letzter Woche, damit man uns wieder erkennt“, kommentiert Horacio Arrua grinsend und geht zu seiner Maschine. Seit 23 Jahren ist er dabei, wie früher leitet er den Sektor. „Die Arbeitsatmosphäre hat sich sehr geändert. Wenn irgendwas fehlte, hat man die Hände in Schoß gelegt und gewartet. Hat sich ja nicht auf den Lohn ausgewirkt.“ Wie zum Beweis kommt ein Arbeiter aus einer anderen Halle und holt einige Rollen weißes Garn.

„Die da oben sollen sehen, was für ein Opfer wir gebracht haben und uns endlich unterstützen!“

Aber nicht nur innerhalb der Fabrik beobachtet Arrua einen Wandel. Als er mit den anderen die Fabrik besetzte und in der schwierigen Anfangszeit kaum Geld nach Hause brachte, hätten das die Familie und NachbarInnen nicht verstanden. Auch ZulieferInnen hätten am Anfang gar nicht oder nur widerwillig Rohmaterial verkauft. Jetzt seien ein ganz anderes Vertrauen und Wertschätzung da. „Früher wurde uns immer bedeutet: Die Indios brauchen einen Häuptling, der sie antreibt. Hah, aber wie man sieht, schaffen es die Indios auch allein“, sagt er stolz und trotzig. Sein Kollege Jorge Gómez aus der Abteilung für das Zuschneiden hat zwei Wünsche für die Zukunft: „Arbeiten, so lange ich kann. Und die da oben sollen sehen, was wir für ein Opfer gebracht haben und uns endlich unterstützen!“
Martin und Paret reden über Geschäftliches. CUC zahlt noch seine Anleihe von 30.000 Pesos (etwa 6.000 Euro) zurück, alles sehr transparent einsehbar auf der Internetseite von La Base. „Das Gute an La Base ist nicht nur, dass der Fonds denjenigen Geld leiht, die nie einen Kredit kriegen würden, sondern auch, dass es um die Förderung von demokratischen Strukturen geht“, lobt Paret. Bevor Geld fließt, wird den ArbeiterInnen in einer Versammlung die damit verbundene Verpflichtung und Verantwortung erklärt: Was nicht zurückgezahlt wird, kann auch nicht an andere Genossenschaften weitergegeben werden. Und dann muss jedes einzelne Genossenschaftsmitglied den Vertrag unterschreiben.
Bei der Kooperative Huesito Wilde (Knöchelchen aus Wilde), hat man den Vertrag für den Kauf einer Mühle mit La Base erst am 13. November 2007 unterzeichnet. In der dunklen Fabrikhalle stinkt es nach Tierabfällen, denn die 27 ArbeiterInnen produzieren Hundefutter. Statt Martin ist heute Esteban Magnani, Mann der ersten Stunde bei La Base, auf Besichtigungstour. „Das war mal die größte Fabrik dieser Art hier. Nachdem das Unternehmen Pleite gegangen war, kämpften die Arbeiter anderthalb Jahre um die Produktionserlaubnis und haben die ganze Zeit nichts verdient. Und dann fingen sie an, die letzten Rohstoffe des früheren Unternehmens, einen Haufen getrockneter Kuhohren, zu verarbeiten“, sagt Magnani und geht zu einer kleinen Frau an einem Holztisch, die aus weißen, aufgeweichten Lederfetzen Beißknochen knotet.

Mit unsicherer Eigentumssituation haben fast alle Kooperativen zu tun

„Natürlich hatte ich Angst gehabt, dass es nicht klappt. Aber es ist viel mehr wert, für mich zu arbeiten, als für jemand anderen“, sagt María Chávez, die auch in der siebenköpfigen Kommission sitzt und wie alle pro Woche 300 Pesos verdient (60 Euro).
Magnani macht sich zufrieden auf den Rückweg, bei Huesito Wilde läuft alles gut, die Rückzahlungen kommen pünktlich. Ein Mann drückt ihm einen Riesenknochen in die Hand, als Mitbringsel für SpenderInnen aus den USA, wohin Martin am Montag fliegt. Damit steigt er in sein altes Auto. Und was wird in den nächsten zehn Jahren passieren? „Wenn in der nächsten Krise, die ganz bestimmt kommen wird, wieder Fabriken schließen, wird man sich auf die vernünftige Idee von Genossenschaften besinnen. Und dann gibt es anstatt der heutigen 200 vielleicht 2.000 Kooperativen, die ein wirkliches Gewicht in der argentinischen Wirtschaft und Gesellschaft bekommen werden“, ist sich Magnani sicher, während er am alten Hafen von Buenos Aires vorbeifährt. Bis dahin wird er weiter bei La Base arbeiten, während Martin das Konzept in die Welt hinaustragen will. „Helfen kann ja aber jeder, indem er die Produkte der Kooperativen kauft. Bei uns zu Hause gibt es genossenschaftlich produzierte Schuhe, Olivenöl und Mate-Tee. Nur den Wein, den haben wir nur einmal getrunken und dann nie wieder“, schmunzelt er.
In der großen Mehrheit sind die Kooperativen produzierende Fabriken, es gibt aber beispielsweise auch Hotels, die auf dem Genossenschaftsprinzip gründen. Das Hotel B.A.U.E.N ragt mit seinen 20 Etagen und 140 Zimmern mitten im Zentrum von Buenos Aires an der stark befahrenen Kreuzung Avenida Corrientes/Avenida Callao in den diesigen Himmel. Im Erdgeschoss befindet sich die Utopia-Bar, gerade füllt sich der Veranstaltungssaal mit vielen tätowierten Menschen – der nationale Tattoo-Kongress wird eröffnet. „Erst seit Ende 2004 haben wir die Genehmigung, Gäste zu beherbergen. Vorher haben wir ausschließlich mit solchen Veranstaltungen und Gastronomie unser Geld verdient“, erinnert sich Diego Ruarte, Chef der Abteilung Einkauf, der abends an der Bar noch Cocktails mischt. Er kam zur Kooperative, um seinen Vater zu unterstützen, der als einer von 20 ArbeiterInnen nach dem Bankrott das ehemalige 5-Sterne Hotel 2002/2003 besetzte.
Die meisten Investitionen wurden aus eigener Tasche bezahlt, eine kleine Anleihe bei La Base ist längst in den Fonds zurück geflossen. Auf staatliche Unterstützung setzen die Genossenschaftler nicht. Die nächste Investition soll eine sehr große sein – der Kauf des Hotels. „Die Pläne haben wir schon im nationalen Kongress und bei der nationalen Regierung präsentiert. Das Geld ist auch kein Problem, denn wir haben sehr gute Beziehungen zur venezolanischen Regierung und zur Liga Coop aus Italien. Aber die Erben des ehemaligen Besitzers erheben Anspruch auf das Objekt“, sagt Ruarte, hinter seinem Schreibtisch sitzend.
Mit unsicherer Eigentumssituation haben fast alle Kooperativen zu tun, gesetzliche Regelungen gibt es bisher kaum. Aber beim Hotel B.A.U.E.N, einer in Stand gesetzten Immobilie an lukrativem Ort, ist der Kampf besonders hart. Dafür gehen die ArbeiterInnen auch auf die Straße. Was nicht allen compañer@s liegt, am wenigsten denen nicht aus der Verwaltung oder dem Verkauf, gibt Ruarte zu. „Da telefonierst du stundenlang mit Leuten aus ganz anderen Schichten und danach protestierst du auf der Straße mit Plakaten. Aber das sind eben die zwei Rollen in unserer Genossenschaft. Sicher nicht einfach, aber du musst sie auf dich nehmen.“

www.labase.org // www.theworkingworld.com

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