Guatemala | Nummer 325/326 - Juli/August 2001

Bewegte Tage in Guatemala

Die Öffentlichkeit wird durch mehrere brisante Vorgänge in Atem gehalten

Ein Ex-Diktator wird angeklagt. Hohe Militärs werden zu langen Haftstrafen veurteilt. Aus einem Knast gelingt 78 Häftlingen die Flucht. Die Regierung, die wegen schwerer Korruptionsfälle angeschlagen ist, ruft eine Vorstufe des Ausnahmezustands aus. Und das alles in einem Monat. Guatemala erlebte einen heißen Juni.

Barbara Müller

Schon bei der Regierungsübernahme Alfonso Portillos vor 18 Monaten zeichnete sich ab, dass die Regierung einen schweren Stand haben würde. Und in der Tat hatte die guatemaltekische Regierung in den letzten Monaten eine Krise nach der andern zu bewältigen, der Druck von außen verstärkte sich, das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Regierung ebenfalls. Die Machtkämpfe innerhalb der Regierungspartei FRG (Guatemaltekische Republikanische Front) lassen zu Recht die Frage aufkommen, wer denn eigentlich das Land regiert. Einerseits scheinen Präsident Portillo die alltäglichen Regierungsgeschäfte immer mehr aus den Händen zu gleiten, andererseits hat es Kongresspräsident Efraín Ríos Montt (FRG) im März geschafft, unbescholten aus dem Skandal um die Fälschung eines neuen Alkoholsteuergesetzes zu kommen.

Eins: Korruption wohin das Auge reicht

Die Gerüchte über Korruption auf höchster Ebene wurden Anfang Juni bestätigt, als der nationale Rechnungshof seinen Bericht über das Haushaltsjahr 2000 veröffentlichte. Darin wurden bei zwölf Ministerien, alle von FRG-Mitgliedern geleitet, finanzielle Unregelmäßigkeiten festgestellt. Einen hat der Bericht schon den Stuhl gekostet: den bisher als unantastbar geltenden Minister für Kommunikationswesen, Infrastruktur und Wohnungsbau (MICIVI), Luis Armando Rabbé, ein Schwager von Präsident Portillo. Die Korruptionsvorwürfe gegen ihn begannen bereits letztes Jahr, als eine wichtige Brücke mangels Instandhaltung zusammenbrach und bekannt wurde, dass das MICIVI über die Gefahr informiert war und nichts unternahm, um den Einsturz zu verhindern. Außerdem wurden hohe Summen an Schmiergeldern bezahlt, um an Aufträge des MICIVI zu kommen, ohne dass vorher öffentliche Ausschreibungen stattgefunden hätten.
Durch diese jüngste Korruptionsgeschichte sensibilisiert, spricht sich ein Großteil der guatemaltekischen Bevölkerung, von den Volksorganisationen bis hin zu den UnternehmerInnenverbänden, gegen die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer aus, mit der die Regierung die prekäre finanzielle Situation der Staatskasse verbessern will. Ebenso kritisiert wird der Zuschuss von rund 130 Millionen US-Dollar aus öffentlichen Geldern an zwei Privatbanken, die seit Januar kurz vor dem Konkurs stehen. Dabei handelt es sich um Banken in Besitz von Francisco Macdonald Alvarado, der vor zwei Jahren die Wahlkampagne Portillos maßgeblich finanziert hatte.

Zwei: Klage gegen Ríos Montt

Ein früherer Präsident könnte wegen seiner – ungleich schlimmeren – Verbrechen bald vor Gericht kommen. Am 6. Juni reichten BewohnerInnen aus elf Indígenagemeinden bei der guatemaltekischen Justiz einen Strafantrag gegen Ex-Diktator General Efraín Ríos Montt und fünf weitere Mitglieder seiner Militärführung ein. Ríos Montt wird des Völkermordes und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezichtigt, begangen während seiner Regierungszeit von März 1982 bis August 1983. Das zuständige Gericht hat der Klage stattgegeben, die zugleich die erste Klage gegen Ríos Montt in Guatemala ist. Im Dezember 1999 hatte die Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú in Spanien gegen den Ex-Diktator geklagt, was vom spanischen Gerichtshof mit der Begründung abgelehnt wurde, die aktuelle Situation in Guatemala lasse es durchaus zu, einen solchen Prozess dort zu führen. Zur Unterstützung verabschiedete das Europäische Parlament Mitte Juni eine Resolution, in der die guatemaltekische Regierung aufgefordert wird, solchen Klagen eine gründliche Untersuchung zu garantieren und den Verantwortlichen des Völkermordes ihre gerechte Strafe zukommen zu lassen.

Drei: Urteil im Mordfall Gerardi

Am 8. Juni wurde das Urteil im Mordfall des Weihbischofs und Leiters des Projekts zur Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses (REMHI), Juan Gerardi, gefällt: Je dreißig Jahre für die drei angeklagten Militärs (ein ehemaliger Geheimdienstchef und zwei ehemalige Mitglieder der Präsidentengarde) und zwanzig Jahre wegen Komplizenschaft für den Priester Mario Orantes. Die ebenfalls angeklagte Haushälterin Gerardis, Margarita López, wurde freigesprochen.
Für viele Leute ist dies ein Hoffnungsschimmer, dass in Guatemala eines Tages doch noch die Gerechtigkeit siegen wird und dass ihr Kampf gegen die Straflosigkeit erste Früchte trägt. Für den bevorstehenden Prozess gegen Ríos Montt und Konsorten ist es sicher ein wichtiger Präzedenzfall. Auch angesichts der aktuellen politischen Lage und der Rolle Gerardis in der Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit muss die Bedeutung des Urteils hervorgehoben und anerkannt werden: Der Mord wird von den RichterInnen eindeutig als „politisch motiviert“ eingestuft, und das Gericht gab sich nicht mit der bloßen Verurteilung dieser vier Personen zufrieden, sondern ordnete Untersuchungen gegen weitere Militär- und Geheimdienstangehörige an. Das Gericht war sich also durchaus bewusst, dass es nur ein paar „Sündenböcke“ verurteilen konnte, und dass die direkten Täter sowie die weiteren Drahtzieher noch zu ermitteln sind. Die Verteidiger der verurteilten Militärs und von Priester Orantes haben Einspruch gegen das Urteil eingereicht und es besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Strafen abgemildert werden. Verschiedene JuristInnen zeigten sich erstaunt über die Höhe des Strafmaßes angesichts der relativ unsicheren Beweislage. Es ist zu hoffen, dass über die Behandlung des Berufungsverfahrens nicht die weiterführenden Ermittlungen vergessen gehen, beziehungsweise diese nach ein paar Monaten eingestellt werden – womit die Straflosigkeit dann juristisch abgesegnet wäre.
Menschenrechtsorganisationen mahnten zur Vorsicht, sie befürchteten, dass es nach dem Urteil zu Vergeltungsaktionen kommen könnte – womit sie leider Recht hatten: Einige Tage nach dem Urteilsspruch im Fall Gerardi wurde Barbara Bocek, eine US-amerikanische Mitarbeiterin von amnesty international, angegriffen, die geplante Entführung gelang jedoch nicht. Das Attentat muss als ein Einschüchterungsversuch verstanden werden, der im Zusammenhang mit den Äußerungen der Aktivistin über das Urteil im Fall Gerardi steht. Innenminister Byron Barrientos kommentierte das Attentat als „Show“ und als Versuch, die guatemaltekische Regierung vor der internationalen Gemeinschaft zu diskreditieren. Barrientos ist aber auch einer von denen, dem früher oder später ein Prozess wegen Menschenrechtsverletzungen blühen könnte, war er doch bis 1988 als Major in der inzwischen aufgelösten ambulanten Militärpolizei (PMA) für die Verfolgung so genannter „Oppositioneller“ verantwortlich.

Vier: Massenflucht aus Hochsicherheitsgefängnis

Am 17. Juni zur Mittagszeit brachen aus dem Hochsicherheitsgefängnis „Canada“ (auch bekannt als „Die Hölle“) in der Südprovinz Escuintla 78 als „gefährlich“ bezeichnete Gefangene aus. Die Tatsache, dass die Flüchtenden acht Tore und 24 Schlösser passierten, ohne dass sie vom Gefängnispersonal daran gehindert wurden, und dass vor dem Gefängnis die Fluchtautos bereitstanden, weist laut Innenminister Barrientos darauf hin, dass sie unter den Wärtern Komplizen hatten.
Die Presse meldete später, dass die Gefängniswärter mit 130.000 US-Dollar geschmiert wurden. Barrientos ließ umgehend den Gefängnisdirektor sowie 19 Wärter verhaften – interessantes Detail: Der Gefängnisdirektor amtierte bis vor kurzem noch in einem Gefängnis in der Hauptstadt, aus dem im vergangenen Januar zehn Häftlinge ausgebrochen sind. Diese Massenflucht verstärkte das weit verbreitete Gefühl von Unsicherheit innerhalb der guatemaltekischen Bevölkerung. RichterInnen und ihre Familien sowie ZeugInnen und ihre Familien, die zur Verurteilung der geflüchteten Verbrecher beigetragen hatten, haben Angst vor Vergeltungsschlägen und fürchten um ihre Sicherheit.
Die Regierung reagierte auf die Massenflucht, indem sie am 20. Juni für vorläufig 30 Tage den „Alarmzustand“ ausrief, eine Vorstufe des Ausnahmezustandes, durch den mehrere Verfassungsrechte wie die Bewegungsfreiheit außer Kraft gesetzt, Verhaftungen und Verhöre hingegen erleichtert werden. Jede Person kann von den Sicherheitskräften ohne richterlichen Beschluss verhaftet oder verhört werden, Autos und Personen können ohne Begründung registriert werden. Gleichzeitig wurden die Gefängnisse unter Militäraufsicht gestellt und ihre mögliche Privatisierung wird in Betracht gezogen.
Die Tatsache, dass die Regierung auf die von der Massenflucht ausgelöste Krise mit der Militarisierung reagiert, ist ein klarer Beweis dafür, dass sich die AnhängerInnen der “harten Hand’ innerhalb der Regierung durchsetzen und in der Vergangenheit angewendete Repressionsmaßnahmen an Akzeptanz gewinnen. Die zunehmende Unregierbarkeit des Landes dient als Vorwand, um in Zukunft härter gegen die zivile und politische Opposition durchzugreifen. Kurzfristig wird die Krise dazu genutzt, das angekratzte Image des Militärs aufzubessern und ihm den Anschein zu geben, „für die Sicherheit und das Wohl der Bevölkerung zu arbeiten“, womit gleichzeitig auch die nächste Militärbudgeterhöhung gerechtfertigt wird.
Menschenrechtsorganisationen legten beim Obersten Gerichtshof Protest gegen die Ausrufung des Alarmzustandes ein, da dies ein unverhältnismäßiges Mittel sei und einen Verstoß gegen die Verfassung darstelle. Es wurde auch verschiedentlich auf die Gefahr hingewiesen, dass die Regierung den Alarmzustand ausnutzt, um in diesem Klima der allgemeinen Unsicherheit und Panik ihre eigenen Interessen durchzusetzen: beispielsweise die oben erwähnte Erhöhung der Mehrwertsteuer oder eine Abänderung des Wahlgesetzes, die es Ríos Montt ermöglichen würde, im nächsten Wahlkampf für die Präsidentschaft zu kandidieren.
Die Verhängung des Alarmzustandes ist eine klare Stärkung der militärischen und paramilitärischen Kräfte, was bereits nach wenigen Tagen spürbar wurde. So löste die Polizei am 21. Juni eine Demonstration von 500 Personen auf, die gegen eine drohende Räumung protestierten, mit der Begründung, „Zusammenrottung“ sei unter dem Alarmzustand nicht erlaubt.
Weiterhin „löste“ am 27. Juni eine Gruppe ehemaliger Zivilpatrouillisten einen seit Jahren schwelenden Landkonflikt in der Gemeinde Los Cimientos, Quiché, indem sie 86 Häuser anzündete, drei Frauen vergewaltigte, sieben Kinder entführte und das Vieh dieser Familien tötete. 160 Personen wurden in das Nachbardorf vertrieben, Los Cimientos wurde von den Ex-Patrouillisten besetzt, die niemanden, weder JournalistInnen noch VertreterInnen der UN-Mission Minugua ins Dorf lassen. Die Polizei oder sonstige Behörden greifen nicht ein – zynische Zungen behaupten, sie seien wohl zu sehr mit der Jagd nach den entflohenen Häftlingen beschäftigt.
Der Monat Juni war tatsächlich kein einfacher, ebenso wenig wie die vorangegangenen. Und es sieht nicht danach aus, dass die Monate Juli und August einfacher sein werden.

Die Autorin ist Redakteurin des Guatemala-Informationsdienstes ¡Fijáte!

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