Chile | Nummer 445/446 - Juli/August 2011

Bildung statt Privatschulen

Proteste gegen das ungerechte bildungssystem in Chile weiten sich aus

Nachdem die letzten großen Bildungsproteste im Jahr 2006 keinen Erfolg gebracht haben, gibt es in Chile neue massive Proteste von SchülerInnen und Studierenden. Wie beim sogenannten Pinguinaufstand 2006, als SchülerInnen massenhaft auf die Straße gingen, ist das Ziel eine grundlegende Reform des ungerechten Bildungssystems.

David Rojas-Kienzle

„¡Y va a caer, y va a caer, la educación de Pinochet!“ – „Pinochets Bildungspolitik muss weg! Und sie muss weg!“ Der rhythmische Abgesang auf das Bildungssystem der Militärdiktatur ist wohl die meistgehörte Parole bei der Demonstration im Rahmen der Bildungsproteste am 24. Juni in Santiago de Chile. Nach 2006, als sich dem sogenannten Pinguinaufstand der chilenischen SchülerInnen am Ende 800.000 SchülerInnen, Studierende und LehrerInnen anschlossen und streikten, gibt es nun fünf Jahre später eine neue Protestwelle, die durch Chile schwappt.
Schon am 16. Juni gab es Großdemonstrationen in Santiago und Valparaíso. Laut Angaben der VeranstalterInnen nahmen etwa 100.000 Menschen daran teil. Zum landesweiten Bildungsstreiktag am 30. Mai wurde die Mobilisation noch erheblich gesteigert: Allein in Santiago demonstrierten bis zu 200.000, im ganzen Land circa 400.000 Menschen.
Was die SchülerInnen, Studierenden und LehrerInnen auf die Straße treibt, ist das ungerechte Bildungssystem. Bildung, das ist in Chile nicht ein Recht oder eine Aufstiegsmöglichkeit, Bildung ist ein Geschäft. JedeR, der oder die will, darf eine Schule oder Universität eröffnen und für die Aufnahme von SchülerInnen oder Studierenden Gebühren verlangen. Die wohlhabenden ChilenInnen besuchen vor allem die Privatschulen. Denn die öffentliche Schulbildung in Chile ist katastrophal unterfinanziert, verantwortlich sind zu großen Teilen die Kommunen. Dies spiegelt sich auch in der Qualität der Bildung wider. Während gut 90 Prozent der SchülerInnen von Privatschulen die obligatorische Aufnahmeprüfung für die Universitäten (PSU) bestehen, schafft dies nur die Hälfte der SchülerInnen von öffentlichen Schulen. Nur zehn Prozent der chilenischen SchülerInnen haben aber überhaupt Eltern, die ihnen den Besuch einer Privatschule finanzieren können. Doch auch zwischen den Kommunen gibt es eklatante Unterschiede in Bezug auf die Finanzierung. Während reichere Kommunen ihre Schulen noch recht gut ausstatten können, ist es ärmeren Kommunen oft nicht einmal möglich den ohnehin schon niedrigen Mindestlohn für ihre LehrerInnen zu zahlen.
Wie im Jahr 2006 hat auch dieses Mal der Protest mit Besetzungen von Schulen angefangen, im Moment sind es mehr als 200. Und auch die Forderungen sind im Prinzip die gleichen wie vor fünf Jahren: „Wir wollen kostenlosen Zugang zum öffentlichen Nahverkehr für das ganze Jahr, eine laizistische, kostenlose und gute öffentliche Bildung, Verbesserung der Infrastruktur und sozialen Situation an den Fachhochschulen und dass die Schulen, die vom Erdbeben im letzten Jahr getroffen wurden, nicht privatisiert werden.“ So Laura Ortiz, Sprecherin der SchülerInnenorganisation Asamblea Coordinadora de Estudiantes Secundarios (ACES) im Interview mit der chilenischen Tageszeitung El Ciudadano.
Praktisch würde das eine Überführung der Schulen von der kommunalen auf die nationale Ebene bedeuten. Einige der Protestierenden wollen allerdings noch einen Schritt weiter gehen: „Wir wollen, dass das Bildungssystem verstaatlicht und den Profiten mit der Bildung ein Ende gemacht wird“, forderte Paloma Muñoz im Gespräch mit der Online-Ausgabe der konservativen Tageszeitung El Mercurio.
Die Bewegung an sich ist sehr heterogen, weswegen es viele unterschiedliche Forderungen und Meinungen gibt. Die Studierendenorganisationen haben andere Themen im Blick, als die SchülerInnenorganisationen oder LehrerInnen. Sie alle eint aber in diesem Moment die Ablehnung des neoliberalen, marktdominierten Bildungssystems Chiles.
Präsident Sebastián Piñera kündigte nach den massiven Protesten indes an, dass die Regierung einen Reformvorschlag erarbeiten will, der unter anderem eine Reformierung des Stipendien- und Studienkreditsystems vorsieht. Am 29. Mai, einen Tag vor dem zentralen Aktionstag, waren Gespräche zwischen Bildungsminster Joaquín Lavín und dem Rat der HochschulrektorInnen gescheitert, weil die Vorschläge Lavíns zentrale Forderungen außen vor lassen. Den Studierenden geht es aber um strukturelle Reformen.
Ob die konservative Regierung um Präsident Piñera und Innenminister Rodrigo Hinzpeter allerdings von einer Abkehr der mehr als 25 Jahre währenden neoliberalen Politiktradition überzeugt werden kann, ist fraglich. Selbst das Parteienbündnis Concertación, das 20 Jahre lang vom Ende der Militärdiktatur bis zur Wahl von Sebastián Piñera in der Regierungsverantwortung war, hat keine substanziellen Reformen gewagt.
Neben den Forderungen für strukturelle Reformen wird auch der Ruf nach einem Rücktritt des Bildungsministers Lavín immer lauter. Ihm wird vorgeworfen, über seine Beteiligung an der Universidad de Desarrollo (UDD), einer während der Militärdiktatur gegründeten Universität, die als Sammelbecken für Ex-Pinochet-FunktionärInnen und Rechtsextreme aller Art gilt, im Interessenkonflikt mit seinem Amt zu stehen. Ein Vorschlag von ihm als Bildungsminister sah vor, Stipendien für private Universitäten, zu der auch die UDD zählt, auf Kosten der Förderung für die staatlichen Universitäten zu erhöhen.
Genauso klar wie Lavíns Verquickungen mit dem Bildungsbusiness ist auch seine Linie gegenüber den Protesten. Einerseits wird auf der Homepage des Bildungsministeriums auf die enorm hohen Kosten und Schäden hingewiesen, die durch die Besetzung der Schulen entstanden seien. Auf der anderen Seite gibt sich der Minister aber kooperationsbereit, ohne wirklich auf die Forderungen der Protestierenden einzugehen. Die Studierendenvertreter erkennen Lavín ohnehin nicht als Verhandlungspartner an und betonen, dass der Konflikt nicht allein Sache des Bildungsminsteriums ist, sondern allgemein die Interessen der Bevölkerung berühre. Es gehe um strukturelle Reformen, von daher auch die Forderung nach einem Plebiszit.
Der Hardliner vom Dienst, Innenminister Hinzpeter, schlägt in dieselbe Bresche wie Lavín und beschränkt sich darauf, die Gewalt auf den Demonstrationen zu verurteilen und eine Verstaatlichung des Bildungswesen für eine Katastrophe zu erklären.
Die Erfahrungen in Chile lassen zwar keine grundlegenden Reformen erwarten. Zu tief ist der Glaube an das neoliberale Mantra von Marktfreiheit auf allen Ebenen in den Parteien verankert. Doch machen die Massenproteste und die sich verbreiternde Unterstützung deutlich, dass die Akzeptanz für Pinochets Bildungssystem abnimmt. Mittlerweile hat sich selbst die Vereinigung der Beamten im Bildungsministerium (Andime) solidarisch mit den Protesten erklärt.

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