Film | Nummer 356 - Februar 2004

Blutige Balladen als gesellschaftlicher Katalysator

Filme über Gewalt in den Städten bescheren dem brasilianischen Kino einen Popularitätsboom

Nie zuvor war das brasilianische Kino beim Publikum im eigenen Land so populär wie heute. Dieser Erfolg ist insbesondere zwei Filmen zu verdanken, die die Gewalt in der Gesellschaft thematisieren: Cidade de Deus von Fernando Meirelles (2002), sowie Estação Carandiru von Hector Babenco, der 2003 in den brasilianischen Kinos lief. Zusammen hatten die beiden Filme allein im eigenen Land mehr als 10 Millionen Zuschauer. Aber auch anderen Regisseuren, wie Beto Brant (O invasor), gelingt es derzeit, mit geringem finanziellen Aufwand kolossal erfolgreiche Filme zu drehen.

Bettina Bremme

Die drei Filme O Invasor, Carandiru und Cidade de Deus behandeln schonungslos die Gewaltverhältnisse in den brasilianischen Metropolen. O Invasor (vor zwei Jahren auf der Berlinale, siehe LN 332) zeigt ein gesellschaftliches Panorama, in dem alle Protagonisten durch und durch korrupt und gewalttätig sind, eine Gesellschaft, in der jeder Krieg gegen jeden führt. Die Abwesenheit von Liebe und Loyalität findet sich dabei gleichermaßen in den Schickeriakreisen als auch unter den Ghettobewohnern.
Cidade de Deus und Carandiru konzentrieren sich dagegen auf die Gewaltverhältnisse in den marginalisierten Zonen. Beide Filme haben einen starken Touch von Authentizität, da sie auf autobiographischen Erzählungen beruhen. Carandiru basiert auf den Memoiren des Gefängnisarztes Drauzio Varella, der jahrelang Insassen des gleichnamigen berüchtigten Gefängnis von São Paulo betreute. Cidade de Deus (im vergangenen Jahr in Deutschland zu sehen, siehe LN 347) entstand nach einem autobiographischen Roman von Paulo Lins und erzählt, wie eine Barackensiedlung am Rande Rio de Janeiros zum Drogenumschlagplatz degeneriert.
Während der gebürtige Argentinier Babenco (Pixote, Der Kuss der Spinnenfrau) schon seit langem international für „politisch korrektes“, von der Erzählsprache her klassisches Qualitätskino bekannt ist, zieht der Newcomer Fernando Meirelles in Cidade de Deus sämtliche Register des modernen Unterhaltungskinos. Das fertige Ergebnis stößt in Brasilien auf ein geteiltes Echo. So meint der Regisseur Walter Salles (Central do Brasil), der Cidade de Deus produziert hat: Der Film ist ein Werk, welches das brasilianische Kino erneuere und den Zuschauern die Möglichkeit biete, „die Wurzeln des sozialen Chaos, das unser Land bedroht, besser kennen zu lernen“. Andere in Brasilien brüskiert dagegen der Stil des Films.
Der Regisseur selbst kommentiert diese Kritik in einem Interview: „Viele Leute sagen, es sei ein dummer Film, ein enormer Werbespot, ein Videoclip ohne Konsistenz, ohne Anzeichen von Reflexion“. Im Laufe weniger Monate habe Cidade de Deus allerdings, so Meirelles, mehr Kritiken, mehr politische Kolumnen, Debatten im Fernsehen, in Gewerkschaften und an Fakultäten provoziert als je ein anderer Film zuvor.

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