Bolivien | Nummer 356 - Februar 2004

Bolivien wartet auf den Wandel

Die Lage nach 90 Tagen Amtszeit von Präsident Carlos Mesa

Die Schonzeit ist vorbei. Knapp drei Monate ist es her, dass Boliviens neuer Präsident Carlos Mesa ins Amt gelangt ist. Genau die Frist, die ihm die Führer der oppositionellen Gruppen gegeben hatten, um einen Wandel anzustoßen, der für alle sozialen Sektoren tragbar ist. Nach zögerlichen Reformen Mesas und einer Grundsatzrede am 4. Januar 2004 beginnt sich der Widerstand der Opposition neu zu formieren. Einige von Mesas Gegnern wie der Gewerkschaftsführer Roberto de la Cruz haben ihm gar den Krieg erklärt. Blockaden sind angekündigt, aber auch Gerüchte über einen Militärputsch machen die Runde.

Beate Heimberger

Zehn lange Jahre musste die Fußballmannschaft von The Strongest in La Paz warten, um die bolivianische Meisterschaft überraschend im vorletzten Match für sich zu entscheiden und den „Himmel mit den Händen zu fassen“. 2003 – das Jahr der gelb-schwarzen starken Raubkatze aus dem reichen Stadtviertel Achumani.
Tatsächlich haben sich im Jahr 2003 auch noch andere, wichtigere Ereignisse in Bolivien abgespielt. Im so genannten Jahr des Wandels gab es zwei Mal – im Februar und im Oktober – heftige Unruhen mit Toten. Der seit 2002 regierende Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada von der MNR (Movimiento Nacional Revolucionario) trat zurück und machte dem parteilosen Vizepräsidenten Carlos Mesa Platz, der „Krieg um das Gas“, soziale und politische Probleme stürzten das Land zusätzlich zu den anhaltenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten in eine tiefe Krise. Wird der neue Präsident die Geschicke des Landes als starker Tiger lenken? Oder wird die Katze von den anderen „starken Tieren“ auf dem politischen Spielfeld in die Enge getrieben?

Carlos Mesas Zukunftsplan
Am 4. Januar 2004 hielt Präsident Carlos Mesa eine mit Spannung erwartete Rede an die Nation, in der er die wichtigsten Themen und Herausforderungen aus Sicht der aktuellen Regierung – mit überwiegend parteilosen Ministern – darlegte. Neben der Frage des Gas-Exports beziehungsweise des Gas-Referendums schnitt er als wichtiges Thema die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung an, die während der Unruhen gefordert wurde. Diese soll nach dem Willen Mesas ab dem ersten Halbjahr 2005 zusammen eine Verfassungsreform in die Wege leiten.
Mesas ökonomisches Zukunftsmodell baut auf dem neoliberalen Modell der letzten 20 Jahre auf. Allerdings plädierte der Präsident in der Wirtschaftspolitik für eine aktivere Rolle des Staates: Gemeinsam mit Privatunternehmen sollen Arbeitsplätze und Einkommen geschaffen werden. Es soll eine Wachstums- und Produktivitätsstrategie erarbeitet werden, die sich auf wichtige Sektoren wie Produktion von Fertigwaren, Tourismus, Bau und Agroindustrie konzentriert und gleichzeitig eine Erhöhung der Exporte anstrebt.
Was den im vorletzten Jahrhundert verlorenen Meereszugang des Landes angeht, so appellierte Mesa an Chile, Bolivien wieder einen Meerzugang zuzugestehen. In Sachen Koka soll die von den USA geforderte Koka-Vernichtungspolitik nicht aufgegeben werden.
Der Präsident legte in seiner Rede zudem offen, dass Bolivien theoretisch bankrott ist. 15 Milliarden Bolivianos (= circa 1,8 Milliarden US-Dollar) Ausgaben hätten im Jahr 2003 Einnahmen von 9,6 Milliarden. Bolivianos (= circa 1,15 Milliarden US-Dollar) gegenübergestanden. Das hohe Budgetdefizit könne nur zu einem geringen Teil über ausländische Hilfsgelder gedeckt werden. Bis Ende Januar wolle er daher einen Austeritätsplan vorlegen, das Volk müsse in diesem Falle zu Einschränkungen bereit sein.Erörtert werden momentan eine Einkommenssteuer für Besserverdienende, eine Erhöhung des Benzinpreises sowie der Steuern der Erdölfirmen und höhere Abgaben auf Luxusimmobilien. Zudem will Mesa einen Fiskal- und Sozialpakt mit allen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gruppen schaffen. Eine schwierige Aufgabe angesichts zu erwartender Widerstände gegen unbequeme Maßnahmen seitens der Regierung.

Das umstrittene Thema Gas
Mit den Verteilungsspielraum erhöhenden zusätzlichen Einnahmen aus dem Gasexport kann Mesa nicht mehr rechnen. Zwar würden die Gasvorräte Boliviens sowohl für den Export als auch für den Eigenbedarf sowie die Industrialisierung im Land ausreichen. Mangelnde Information darüber hatte neben dem geringen Betrag, der beim Verkauf im Land bleiben sollte, in den letzten Monaten die Konflikte geschürt. Fatal ist momentan, dass sich die potenziellen Abnehmer – USA und Mexiko – zurückgezogen und andere Lieferanten (zum Beispiel Indonesien) gesucht haben, denn dies bedeutet, dass die zusätzlichen Staatseinnahmen, mit denen in den nächsten Jahren kalkuliert wurde, nicht anfallen werden. Ein Dilemma für Carlos Mesa – er steht mit leeren Händen da. Das Referendum, wie nun mit den Gasvorräten verfahren wird – Export oder nicht, über Chile oder Peru – soll am 28.März 2004 stattfinden, hat aber dadurch an Bedeutung verloren. Vor dem Referendum soll (voraussichtlich Mitte Februar) ein neues Gesetz über Bodenschätze verabschiedet werden, in dem die Höhe der Tantiemen, die staatliche Souveränität über die Gasvorkommen sowie die Stärkung der staatlichen Erdgasfirma festgeschrieben werden sollen.

Das Modell Mallku
Über einen Mangel an politische Gegenspieler braucht sich Carlos Mesa nicht zu beklagen. Felipe Quispe, im Volksmund Mallku (Aymara für König, Kondor) genannt, ehemaliger Guerrillero, jetzt Abgeordneter und Führer des MIP (Movimiento Indígena Pachacuti), schwebt ein indigenes Gesellschaftsmodell vor, eine Aymara-Nation etwa in der Art, wie sie die Inka vor 500 Jahren hatten mit einer Grundversorgung für alle und eher Tausch- als Geldwirtschaft als ökonomischem Prinzip. Die jetzige weiße Oberschicht soll ganz aus den Entscheidungsgremien verschwinden. Felipe Quispes Basis ist überwiegend das Hochland zwischen La Paz und dem Titicaca-See. Am von Mesa skizzierten Modell kritisiert Quispe, dass keine klaren Antworten auf die Probleme des Landes gegeben wurden – wenn dies nicht bis zum 20. Januar 2004 geschehe, gäbe es seitens seiner Gruppierung erneut Blockaden.

Der Plan von Evo Morales
Neben Felipe Quispe war Evo Morales, ehemaliger Minenarbeiter und Kokabauer, heute Abgeordneter und Führer des MAS (Movimiento al Socialismo) sichtbarster politischer Führer und Hauptgewinner der Proteste im Oktober 2003. Evo, wie der Vertreter der Kokabauern hier im Allgemeinen genannt wird, strebt ein sozialistisches Staatsmodell an, in dem die jetzige politische Klasse natürlich nichts mehr verloren hätte. Es gäbe unter Evo Morales keine weitere Koka-Ausrottung beziehungsweise das Zugeständnis einer bestimmten Anbaufläche an Kokabauern in allen Regionen Boliviens. Damit stünden vermutlich die internationalen Gelder der Entwicklungszusammenarbeit in Frage, die in Bolivien mit über 700 Millionen US Dollar momentan zehn bis zwölf Prozent des BIP und rund 30 Prozent des Haushalts ausmachen.
Evo Morales lag bei den Wahlen im Jahr 2002 mit über 20 Prozent der Stimmen knapp hinter Sánchez de Lozada auf Platz zwei. Er scheut keinerlei soziale, ethnische und politische Konflikte und gibt deutlich zum Ausdruck, dass Carlos Mesas Zeit beim kleinsten Fehler, den er sich erlaubt, abgelaufen sein würde. Morales trat in der letzten Zeit zunehmend als Moderator zwischen den verhärteten Fronten auf. Er hält die von Mesa in seiner Rede dargelegten Punkte für zu gemäßigt und zurückhaltend und bedauert, dass es keine konkreteren Vorschläge zur Änderung des Wirtschaftsmodells gebe.
Zwei weitere Protagonisten der Opposition, Roberto de la Cruz, Führer der Gewerkschafter von El Alto sowie Jaime Solares, Chef des Gewerkschaftsdachverbands COB (Central de Obreros Boliviana) haben Carlos Mesa nach seiner Rede den Krieg erklärt. Auf die Forderungen der ärmeren Sektoren sei überhaupt nicht eingegangen worden, ebenso wenig hätte es Vorschläge für eine Bekämpfung der Armut, der Korruption und der exzessiven Ausgaben der öffentlichen Verwaltung gegeben, daher würden in Kürze wieder die ArbeiterInnen zu diversen Aktionen mobilisiert werden.

Wie stabil ist das Land?
Gerüchte kursieren, dass es im Falle eines Funktionsverlustes der bisher existierenden politischen Organe und Institutionen zu einem Militärputsch kommen könnte. Die Militärs wären demnach die „letzte Instanz“, um Recht und Ordnung aufrecht zu erhalten. Unklar ist momentan, ob es innerhalb des Militärs potente Führungspersönlichkeiten gibt, die das Machtvakuum füllen würden. Unklar ist auch, in welcher Form eine Militärregierung agieren und ob sie internationale Unterstützung erhalten würde.
Sicher ist, dass das bisherige Entwicklungsmodell in der stark polarisierten Gesellschaft brüchig ist. Große Teile der Bevölkerung identifizieren sich nicht mit der Nation Bolivien, wie sie 1825 gegründet wurde, geschweige denn mit dem daraus entstandenen – in den Augen vieler – ineffizienten, korrupten, zentralisierten Staat. Sie fühlen sich mit ihren Bedürfnissen und Interessen nicht integriert und verlangen nach einem föderalistischen Modell mit mehr Autonomie für einzelne Regionen und deren Interessen. Tief greifende politische und soziale Umbrüche stehen auf alle Fälle noch bevor.
Das „Jahr des Tigers“ hat nur die schwarz-gelben Kicker im siebten Himmel schweben lassen, alle anderen Spieler in Bolivien, allen voran die diversen Regierungsmitglieder, mussten im Jahr 2003 eher frustriert in die Kabinen zurückkehren. Wer sich 2004 die Oberhand verschafft, wird sich in den nächsten Monaten herausstellen.

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