Nummer 300 - Juni 1999 | Ökonomie

Brasilien in den Zeiten der Stabilisierung

Der Finanzmarkt zwischen Geld, Schmutz und Blut

Es fällt nicht leicht, in diesen turbulenten Monaten über Brasilien zu schreiben. Gerade hatte die Regierung einen neuen Optimismus verkündet: das Schlimmste der aktuellen Krise sei überwunden, man brauche das Geld des IWF gar nicht mehr, die Inflation sei unter Kontrolle und liege mit etwa zehn Prozent für 1999 weit unter den pessimistischen Vorhersagen vom Höhepunkt der Währungskrise im Februar. Als deutliches Zeichen, daß Brasilien auf dem rapiden Weg der Besserung ist, hatte die Zentralbank die Leitzinsen auf 23,5 Prozent gesenkt. Dann geriet jedoch Argentinien ins Strudeln und die Börsen in São Paulo stürzten erneut ab. Wieder war zu lesen: „Brasilien bereitet Sorgen“ – oder wie es ein brasilianischer Kolumnist ausdrückte: „Brasilien segelt noch immer auf Mayonnaise“.

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Um sich nicht von den Aufregungen des Moments und der fettigen Mayonnaise überwältigen zu lassen, hilft manchmal ein Blick in die Klassiker, auch wenn es die gar nicht mehr gibt.
Nach der Julirevolution, als der liberale Bankier Lafitte seinen Gevatter, den Herzog von Orléans, im Triumph auf das Hôtel de Ville geleitete, ließ er die Worte fallen: „Von nun an werden die Bankiers herrschen.“
Lafitte hatte das Geheimnis der Revolution verraten. Hatte er vielleicht noch viel mehr als das verraten und liefern seine Worte auch den Schlüssel für das Verständnis der jüngeren Entwicklung in Brasilien?
Bleiben wir aber noch einen Augenblick bei Karl Marx und seiner Analyse der Julirevolution. Wer wagt es denn, heute noch so zu schreiben: „Indem die Finanzaristokratie die Gesetze gab, die Staatsverwaltung leitete, über sämtliche organisierte öffentliche Gewalten verfügte, die öffentliche Meinung durch die Tatsachen und die Presse beherrschte, wiederholte sich in allen Spähren, vom Hofe bis zum Café Borgne dieselbe Prostitution, derselbe schamlose Betrug, dieselbe Sucht, sich zu bereichern, nicht durch Produktion, sondern durch die Eskamotage schon vorhandenen fremden Reichtums, brach namentlich an den Spitzen der bürgerlichen Gesellschaft die schrankenlose, mit den bürgerlichen Gesetzen selbst jeden Augenblick kollidierende Geltendmachung der ungesunden und liederlichen Gelüste aus, worin der aus dem Spiele entspringende Reichtum naturgemäß seine Befriedigung sucht, wo der Genuß crapuleux (ausschweifend) wird, wo Geld, Schmutz und Blut zusammenfliessen. Die Finanzaristokratie, in ihrer Erwerbsweise wie in ihren Genüssen, ist nichts anderes als die Wiedergeburt des Lumpenproletariats auf den Höhen der bürgerlichen Gesellschaft.”

Geld…

Krise hin, Krise her – wer in Brasilien in den letzten Jahren Geld hatte, konnte prächtig dazuverdienen. Zwischen 1986 und 1999 (bis zum 21.Mai) verzeichneten festverzinsliche Staatspapiere (CDIs) eine inflationsbereinigte Rentabilität von 543,9 Prozent (laut Folha de São Paulo vom 24. Mai 1999). Wer an der Börse sein Glück versuchte, mußte sich mit läppischen 151,4 Prozent zufrieden geben. Dreizehn Jahre Hochzinspolitik bedeuten eine ständige Umschichtung des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten derer, die dem Staat Geld leihen können. Hier liegt einer der Gründe dafür, daß Brasilien (nach Sierra Leone) das Land mit der ungerechtesten Einkommensverteilung der Welt ist. Dies wird heute (von rechts bis links) als bedauerlicher Zustand angesehen. Marx hatte es noch unter dem Paradigma „Interessen“ diskutiert: „Die Verschuldung des Staates war vielmehr das direkte Interesse der durch die Kammern herrschenden und gesetzgebenden Bourgeoisiefraktion. Das Staatsdefizit, es war eben der eigentliche Gegenstand ihrer Spekulation und die Hauptquelle ihrer Bereicherung.“
1998 konnten Anleger bei brasilianischen Staatspapieren etwa 30 Prozent Zinsen einstreichen, bei einer Inflationsrate, die sich dem Nullpunkt näherte. Die Regierung mußte diese exorbitanten Zinsen zahlen, um internationales Kapital anzulocken und somit die Löcher zu stopfen, die das immer größer werdende Außenbilanzdefizit verursachte. Die brasiliansche „Stabilitätspolitik“ wurde damit immer mehr vom internationalen Finanzkapital und seinen Dealern abhängig. Aber alle wußten, daß das Fest irgendwann aufhören mußte, die Sache war nicht „nachhaltig“, über den greifbaren Gewinnen schwebte das Damoklesschwert der Abwertung des Reals. Als im August 1998 die Rußlandkrise ausbrach, wuchs auch die Brasilienskepsis und das ausländische Kapital floß rasant ab. In dieser Situation versuchten Regierung und IWF durch ein Spar- und Kreditpaket das „Vertrauen“ wiederherzustellen. Bis zum Februar hielt die Regierung durch, dann geschah das Unvermeidliche, die Abwertung. Resultat: etwa vierzig Milliarden US-Dollar konnten zwischen September und Januar aus dem Land geschafft werden. Die böswillige Interpretation lautet, daß Regierung und IWF dem Finanzkapital bewußt den Rücken freigehalten hatten. Nach der „harmlosen“ Version sind einfach vierzig Millarden in den Abfluß geschüttet worden, um den Real zu verteidigen. Der Erfolg blieb jedoch aus.
Wie dem auch sei, offensichtlich ist, daß für IWF und brasilianische Regierung die Interessen der Gläubiger absolute Priorität vor jedem nationalen Entwicklungsprojekt hatten. Das war und ist der Weg der Stabilitätspolitik. Und weil, wie der Volksmund weiß, wer A sagt auch B sagen sollte, erzwingt der einmal eingeschlagene Weg eine eigene Logik, die die Gesellschaft und Politik in den Schwitzkasten nimmt. Oder – zugegeben – etwas demagogisch zugespitzt: Regierung und IWF folgen der Devise: Alles für den Dealer, nichts für die Familie, denn nur wenn es dem Dealer gut geht, kann es auch der Familie gut gehen.

Schmutz…

Bisher ging es um den zwar etwas turbulenten, aber letztendlich doch normalen Gang der Geschäfte. Nichts Illegales. Aber bald nach der Abwertung kamen Verdachtsmomente auf, daß doch nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sein konnte. Sind Insiderinformationen durchgesickert? Ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuß (CPI) wurde eingerichtet. Oppositionspolitiker, allen voran Aloisio Mercadante, Ökonom der Arbeiterpartei (PT), veröffentlichten Listen, die zeigten, welche Banken kurz vor der Abwertung massiv Dollar gekauft hatten, oder wer auf den Future-Märkten auf Abwertung setzte. Auf einer dieser Listen taucht übrigens auch die Deutsche Bank auf, allerdings auf dem zwölften und letzten Platz. Auf Platz eins (d. h. 727 Millionen US-Dollar in den beiden Tagen vor der Abwertung gekauft) liegt das US-amerikanische Brokerhaus Morgan Guaranty. Mehr als nur eine gute Nase? Beweisen läßt sich nichts. Tatsächlich wurde im Januar immer klarer, daß eine Änderung der Währungspolitik bevorstand, das Setzen auf Abwertung war also keineswegs eine allzu gewagte Spekulation. Jeder konnte sich auf das berufen, was Chaplin gesagt haben soll, als bekannt wurde, daß er kurz vor dem schwarzen Freitag 1929 seine Aktien verkauft hatte: „It was all in the journals.“
So konzentrieren sich Presse und CPI bald auf die Verlierer der Abwertung, was auf den ersten Blick grotesk erscheint. Tatsächlich verloren nur drei Banken massiv, weil sie offensiv gegen eine Abwertung spekulierten. Wenn alle anderen mehr oder weniger Bescheid wußten, warum traf es ausgerechnet diese drei, von der eine (FonteCidam) noch aufgrund ihrer Rolle bei den Privatisierungen als regierungsnahe gilt? Es kommt der Verdacht auf, daß diese Banken über einen Informanten bei der Zentralbank verfügten, auf den sie vertrauten, der sie aber im entscheidenden Augenblick im Stich ließ: doch wieder ließ sich nichts beweisen.
Nicht im Stich aber ließ die Zentralbank die beiden am meisten betroffenen Banken, FonteCidam und Marka. Um sie vor dem Bankrott und ihre Klienten vor allzu großen Verlusten zu retten, verkaufte die Zentralbank in den Tagen nach der Abwertung US-Dollar zu Vorzugspreisen an die beiden Banken. Insgesamt gab die Zentralbank dabei 1,567 Milliarde US-Dollar aus, um mit allen Mitteln zu zeigen, wie sehr ihr das Wohl von Spekulanten am Herz liegt. Offizielle Begründung: Rettung des Finanzsystems.
Die Frage, ob die Rettungsaktion der Zentralbank in die Kategorie Geld oder Schmutz fällt, erregt die brasilianische Öffentlichkeit. Francisco Lopes, der zur Zeit der umstrittenen Aktion Zentralbankchef war, ist ins Zwielicht geraten. Anscheinend hat er noch weiter private Geschäfte betrieben und Vermögen im Ausland beim Fiskus nicht angegeben. Aber eigentlich beweist doch alle derzeitige Aufregung eher, daß das Problem nicht bei solchen Details liegt, sondern beim normalen Gang der Geschäfte.
Nachfolger des glücklosen Chico Lopes wurde Armínio Fraga, zuvor in Diensten des (sogenannten) Megaspekulanten Soros. “Schmutz!“, rief die Opposition, „Die Nation wird dem Spekulationskapital ausgeliefert“. „Geld!“ sagten die Märkte. Der Real erholte sich und die Börsen stiegen.
Anfang Mai ließ die Stadtverwaltung von São Paulo 10.000 Stellen in einer „Arbeitsfront“ ausschreiben. Für einen Mindestlohn (etwa 150 Mark bei fast deutschen Preisen) sollen schlecht qualifizierte Arbeitslose sechs Monate lang arbeiten und gleichzeitig an Qualifizierungskursen teilnehmen. Die Arbeitsfronten, die bisher nur ein Politikelement im Nordosten – dem Armenhaus Brasliens – waren, lockten in São Paulo 50.000 Menschen an, die teilweise bis zu 19 Stunden in der Schlange warteten. Mit 20 Prozent hat die Arbeitslosigkeit in São Paulo (wo es relativ verläßliche Statistiken gibt) einen historischen Rekordstand erreicht. Aber nicht nur die Arbeitslosigkeit steigt, seit Jahren sinkt auch der Anteil der Beschäftigten in formalen Arbeitsverhältnissen. Alles was wir aus Europa kennen, trifft auch Brasilien, wobei aber eine soziale Absicherung praktisch nicht vorhanden ist.
Doch es ist nicht nur die mittelbare Gewalt der ökonomischen Verhältnisse, die das Brasilien der Anpassungspolitik prägt, es ist auch die nackte, brutale und alltägliche Gewalt.

…und Blut

Laut einer Untersuchung der UNO sind im Jahr 1996 in Brasilien 50.000 Menschen ermordet worden, 45.000 starben durch Handfeuerwaffen. Für Brasilianer der Altersgruppe zwischen 10 und 39 Jahren ist in São Paulo Mord die Haupttodesursache. Dabei hat sich die Tötungsrate zwischen 1980 und 1996 fast verdoppelt. Die meisten Opfer sind arm. Elite und Mittelschicht haben sich in einen Aufrüstungswettlauf begeben. Beim letzten Zensus (1995) gaben über eine Million Brasilianer an, daß sie als Sicherheitspersonal arbeiten, etwa doppelt so viele wie die Polizei beschäftigt.
Gewalt ist ein komplexes Phänomen; in den mageren Zahlen werden Opfer familärer Gewalt und von Drogenkriegen zusammengefaßt. Besonders schockierend im Falle Brasiliens sind die vielen Toten durch Polizeieinsätze. In São Paulo sind in den letzten neun Jahren (bis November 1998) nicht weniger als 5.628 Menschen durch Polizisten getötet worden. In Rio sind die Zahlen noch höher und waren in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen, als die Regierung (damals von einem Parteifreund Cardosos gestellt) ein Prämiensystem für „tapfere“ Polizisten einführte. In der Praxis war dies ein Anreiz zum Töten; die Presse bezeichnete die Prämien als Wildwestzulage.
Das Risiko, für die Tötung eines Menschen zur Rechenschaft gezogen zu werden, ist äußerst gering. Die Tageszeitung Jornal do Brasil recherchierte, daß es bei 92 Prozent aller Mordfälle im Großraum Rio nicht einmal zur Eröffnung einer Verhandlung kam. In São Paulo werden lediglich 2,5 Prozent aller Mordfälle, bei denen der Täter unbekannt war, aufgeklärt. Für Polizisten ist das Risiko anscheinend noch geringer. Das kirchliche Institut ISER hat 1998 die rechtlichen Folgen von Tötungen durch Polizeieinsätze untersucht. Alle eingeleiteten Untersuchungen wurden bis auf sechs Fälle eingestellt. Aber auch bei diesen sechs kam es zu keiner einzigen Verurteilung.
Die Statistik spricht eine deutliche Sprache: die brasilianische Gesellschaft wird immer gewalttätiger. Hängt dies unmittelbar mit der Börse, dem Siegeszug des Finazkaptals oder dem IWF zusammen? Vielleicht nicht, und vielleicht sind gerade diese Trennungen Teil einer gesellschaftlichen Unverantwortlichkeit, die eine der Wurzeln des Übels ist. Die Priorisierung der finanzpolitischen Stabilisierung läßt jedenfalls das Andere, das Soziale zum Rest werden. Und fern sind wohl die Zeiten, wo dieser Barbarisierung der Gesellschaft der Schlachtruf Marxens entgegengehalten werden konnte: Die Revolution ist tot – Es lebe die Revolution.

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