Nummer 327/328 - Sept./Okt. 2001 | Sachbuch

Brasiliens verlorene Jugend

Amnesty international macht in einem Bericht auf die desolaten Zustände in den Jugendhaftanstalten von São Paolo aufmerksam

Die erniedrigende Behandlung jugendlicher Straftäter in den Haftanstalten steht in krassem Gegensatz zur brasilianischen Verfassung und dem darauf beruhenden Kinder- und Jugendlichenstatut. Bis jetzt schlugen jedoch alle Versuche, auf der Basis der bestehenden Gesetze die Haftbedingungen zu verbessern, fehl. Amnesty international hat jetzt mit dem Bericht „Brasilien -verlorene Jugend“ darauf hingewiesen.

Dinah Stratenwerth

Am 24. Oktober 1999 kam es in der Jugendhaftanstalt Imigrantes in São Paolo zu einem Aufstand, in dessen Verlauf 16 Aufseher als Geiseln genommen, 58 Personen, davon 29 Mitarbeiter verletzt und vier Jugendliche von Mithäftlingen getötet wurden. Das Gefängnis wurde zerstört und Dutzende von Jugendlichen flohen. Drei Tage vor dem Aufstand hatte die Gewerkschaft, der für den Jugendstrafvollzug zuständigen Regierungsbehörde FEBEM (Stiftung für das Wohl von Minderjährigen), einen Streik angekündigt. Sie wollten unter anderem gegen die personelle Unterbesetzung und die schlechten Arbeitsbedingungen protestieren. Als die Jugendlichen über ihre Familien erfuhren, dass während des Streiks die Abteilung der Militärpolizei für Aufstandsbekämpfung für die Sicherheit in den Anstalten zuständig sein würde, begannen sie zu rebellieren.

Chronisch überbelegt

Die verzweifelte Situation der Insassen von FEBEM-Haftanstalten hatte immer wieder zu Aufständen geführt. Die Gefängnisse sind chronisch überbelegt. Tatuapé, neben Imigrantes die größte FEBEM-Haftanstalt São Paolos, hatte 1999 mit 1460 Jugendlichen fünf Mal so viele Insassen wie vorgesehen. Sie mussten sich auf engstem Raum zusammendrängen und teilweise in den Waschräumen schlafen. Die Hygienesituation war katastrophal, zehn Jugendliche teilten sich ein Stück Seife pro Monat und ein Großteil von ihnen litt an Krätze. Wer nicht an den einzigen Freizeitbeschäftigungen Fernsehen und Fußballspielen teilnahm, musste ruhig auf seinen Händen sitzen, da die Aufseher sich sonst nicht in der Lage sahen, die Häftlinge unter Kontrolle zu halten. Zu dieser an sich schon unerträglichen Situation kamen Misshandlungen und Demütigungen durch das Wachpersonal. Meistens wussten die Jugendlichen nicht, wie es um ihren Prozess steht und wann und ob sie wieder freikommen wurden.
Auch nach dem Aufstand verbesserte sich ihre Situation nicht. Die Jugendlichen, die verlegt wurden, landeten in Haftanstalten für Erwachsene oder in einem der beiden schnell neu errichteten Hochsicherheitsgefängnisse Pareilheiros und Franco da Rocha. Diese sind zwar mit Stacheldraht und Videoüberwachung hochgerüstet, aber die Situation der Häftlinge ist die selbe. Wieder berichteten Jugendliche von Misshandlungen und schlechten hygienischen Verhältnissen. Auch die Situation in Tatuapé ist unverändert katastrophal, die Jugendlichen in Imigrantes leben auf Grund der Zerstörungen unter noch schlechteren Bedingungen. Das FEBEM-Personal rächt sich zum Teil durch besondere Brutalität für den Aufstand.

Die Gesetzeslage

Der 2001 auf deutsch erschienene Bericht „Brasilien – verlorene Jugend“ von amnesty international dokumentiert diese erschreckende Realität der Inhaftierten und setzt sie in Relation zu den herrschenden Gesetzen. Denn auf dem Papier sind jugendliche Gefängnisinsassen in Brasilien gut geschützt: Das vor zehn Jahren verabschiedete Kinder- und Jugendlichenstatut (ECA) basiert auf internationalen Menschenrechtsstandarts und den Artikeln 227 und 228 der brasilianischen Verfassung, die den Schutz der Rechte von Jugendlichen und die besondere Behandlung von Straftätern unter 18 Jahren vorschreiben. Das ECA sieht außer dem geschlossenen Strafvollzug noch sechs weitere Strafen für minderjährige Straftäter vor, darunter gemeinnützige Arbeit oder Bewährungsstrafen. Der Freiheitsentzug soll „nur in Ausnahmefällen verhängt werden, möglichst kurz sein, und die besonderen Bedingungen einer Person berücksichtigen, die sich entwickelt. „ Die Jugendlichen sollen „streng nach Alter, körperlicher Entwicklung, Temperament und Schwere ihrer Vergehen getrennt werden.“
Um die Umsetzung des Statuts zu gewährleisten, sind drei Institutionen berechtigt, jederzeit unangemeldete Inspektionsbesuche in geschlossenen Haftanstalten vorzunehmen: die Staatsanwaltschaft, die Justiz und auf Gemeindeebene gewählte Vormundschaftsräte. Von diesem Recht wird auch durchaus Gebrauch gemacht. Immer wieder inspizieren Staatsanwälte die Haftanstalten und kommen zu dem Ergebnis, dass die Realität der Gefangenen sehr weit von der Norm des Statuts entfernt ist. Als Konsequenz daraus wurden von der zuständigen Abteilung der Staatsanwaltschaft bereits zwei Zivilklagen und neun Anträge auf einstweilige Verfügungen gegen die FEBEM und die Regierung des Bundesstaates eingereicht. Das Jugendgericht in São Paolo verpflichtete daraufhin in allen Fällen die Behörden dazu, das ECA umzusetzen. Die FEBEM und die Regierung des Bundesstaates gingen in Berufung und erwirkten in allen Fällen mit Ausnahme von einem die Aufhebung des Spruchs des Jugendgerichtes.

Brasilien – Verlorene Jugend. Haftanstalten der FEBEM in São Paulo. ai-Index AMR 19-14-00, Köln, 2001.

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