Nicaragua | Nummer 420 - Juni 2009

Bürgermacht oder Parteikontrolle?

Daniel Ortegas Partizipationsmodell unterminiert die Autonomie der Gemeinden

Die Räte der Bürgermacht haben in den letzten Monaten in Nicaragua viel Aufsehen erregt: als Schlägertrupp zur Verteidigung der KandidatInnen der Regierungspartei FSLN bei den Kommunalwahlen im November in León sowie immer wieder als gegnerische Front zivilgesellschaftlicher Demonstrationen in Managua. Jene Szenarien kontrastieren mit der neuen Hoffnung vor allem armer Bevölkerungsteile, die in den Bürgerräten eine konkrete Aussicht auf Besserung ihrer Lebensumstände sehen.

Simone Schnabel

Bereits vor den Präsidentschaftswahlen 2006 sprach Ortega davon, in Nicaragua die „direkte Demokratie“ einzuführen. Nach der mehrheitlichen Opposition in der Nationalversammlung, die zeitweilig in eine Krise zwischen Exekutive und Legislative gipfelte, setzte der Präsident am 29. November 2007 per Dekret sein Modell der Räte der Bürgermacht (CPC) durch. Die offizielle Absicht ist es, eine Demokratie der Bürgerinnen und Bürger zu schaffen, die an der Entwicklung von sozialen Programmen der von Ortega postulierten „Regierung der Versöhnung und nationalen Einheit“ teilhaben sollen. Dem widerspricht allerdings die vertikale und mehr hierarchische als demokratische Organisationsstruktur der Räte, die sämtliche Verwaltungsebenen des nicaraguanischen Staates abdeckt: Die Bürgerräte setzen sich, ganz gleich auf welcher Ebene, jeweils aus 16 KoordinatorInnen zusammen, die für unterschiedliche Sektoren wie beispielsweise Umwelt, Kultur, Bildung oder Gesundheit verantwortlich sind und je nach Bedarf erweitert werden können. Die Bildung der Räte sowie deren Organisation und Leitung untersteht dem nationalen Rat für Kommunikation und Bürgerschaft, welcher der Exekutive untergeordnet ist. Der Rat soll sich in Zukunft aus jeweils einem Vertreter oder einer Vertreterin der 16 Sektoren der insgesamt 15 Landkreise zusammensetzen. Den Kopf des Rates bildet die Präsidentengattin Rosario Murillo. Damit hat die von den NicaraguanerInnen aufgrund ihres politischen Einflusses gerne als mächtigste First Lady der Welt bezeichnete Murillo die Kontrolle über sämtliche Bürgerräte des Landes. Lediglich die nationale Leitung hat Entscheidungsbefugnis, während alle anderen Ebenen (Basis, Gemeinde und Kreis) Vorschläge einreichen dürfen beziehungsweise bei der Umsetzung von Programmen und Projekten der Zentralregierung assistieren.
Während die Räte in den Stadtteilen von den BewohnerInnen mitunter noch direkt gewählt werden, bestimmt der Parteiapparat der FSLN die Führungspersonen auf Gemeinde- und Kreisebene. Deren Aufgabe ist vor allem die Umsetzung von Sozialprogrammen der Zentralregierung und damit die Verteilung öffentlicher Güter wie Hühner, Schweine oder auch Kleinkredite über ein letztlich der Partei der FSLN untergeordnetes Partizipationsmodell. Damit verwischen die Räte nicht nur die Grenzen zwischen Partei und Staat, sie könnten vor allem die Rolle der Lokalregierungen und des Bürgermeisteramtes schwächen. Das Dekret der Bürgerräte ignoriert bereits existierende Gesetze zur Beteiligung der BürgerInnen an der Lokalpolitik, die seit Ende der 1980er Jahre im Kontext der Gemeindeautonomie geschaffen wurden, ebenso wie das 2003 verabschiedete Gesetz zur Bürgerpartizipation. Dieses legt aufbauend auf die bereits existierenden Gesetze sämtliche Partizipationsinstrumente und Beteiligungsmechanismen auf territorialer, kommunaler, Kreis- und nationaler Ebene fest und bildet ein entscheidendes Zugeständnis an die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen und Bürgerkomitees vor allem auf Gemeindeebene.
Unklar bleibt, wie beide Modelle zusammen funktionieren sollen. Das Dekret der CPC erwähnt an keiner Stelle, wie die Eingliederung der Bürgerräte in bisherige Partizipationsstrukturen geschehen soll. Das Beispiel des Departments León macht deutlich, wie die CPC auf längere Sicht Gefahr laufen, bisherige Kommunikationskanäle zwischen Lokalregierung und den BewohnerInnen zu vereinnahmen und die Autonomie der Gemeinden zu unterminieren.
Im Department León haben die BürgermeisterkandidatInnen der FSLN eine Vereinbarung über die Anerkennung der CPC als Partizipationsform und deren Integration in die Gemeindepolitik unterschrieben, wie ein Mitarbeiter der NGO INGES auf der Mitgliederversammlung des Nicaraguanischen Netzwerks für Demokratie und lokale Entwicklung berichtet. Nach dem Sieg der FSLN bei den Kommunalwahlen vergangenen November werden nach und nach sämtliche bereits bestehende Komitees in den Wohnvierteln in CPC umbenannt und den BürgermeisterInnen die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen untersagt. Damit sind bisher gemeinsam zwischen Lokalregierung und Zivilgesellschaft ausgeführte Projekte zur lokalen Entwicklung erst einmal auf Eis gelegt.
Die Aussicht auf einen Zugang zu Ressourcen der Regierung hat neben der Neugründung von CPC auf Stadtteilebene auch dazu geführt, dass bereits bestehende Basisgruppen sich der neuen Struktur unterordnen. In Ciudad Sandino, einer von Maquila-Industrie und städtischer Kriminalität geprägten Gemeinde und ehemals Stadtteil von Managua, kommt es aufgrund der CPC zu Konflikten um Führungsansprüche auf lokaler Ebene.
Zivilgesellschaftliche Organisationen wie die Fundación Nueva Generación, die seit vielen Jahren im Bereich der Bürgerpartizipation sowohl mit Basisgruppen als auch mit der Gemeinderegierung zusammen arbeitet, werden von CPC-Leitern einzelner Stadtteile als „rechts“ stigmatisiert, und den BewohnerInnen wird eine Zusammenarbeit mit diesen untersagt, wie eine Mitarbeiterin der Stiftung berichtet.
In Gemeinden mit schwachen Partizipationsstrukturen bieten die Bürgerräte trotz aller Kritik eine Möglichkeit die Organisation der BewohnerInnen anzustoßen und die Beteiligung an der Gemeindepolitik einzufordern. „Dort wo es eine Partizipationsmöglichkeit gibt, sind auch wir als indigene Gemeinschaft da, um unsere Rechte einzufordern“, sagt Wilfredo Sánchez, Vertreter einer indigenen Gemeinde im Kreis Rivas. Trotz seiner Funktion als erster Sprecher im gesetzlich verankerten kommunalen Entwicklungskomitee, wurde er nicht wie vorgesehen vom Bürgermeister über den genauen Tag der öffentlichen Vorstellung des Gemeindehaushalts informiert, sondern vom CPC auf Kreisebene. Zwar weiß Wilfredo, dass die CPC der Zentralregierung unterstehen, doch bieten sie ihm und den BewohnerInnen seiner Gemeinde eine vielversprechendere Möglichkeit Bedürfnisse und Interessen zu artikulieren, als die derzeitige liberale Lokalregierung. Auch María de los Ángeles Vallejo, die zuerst in ihrer comunidad und dann auch auf kommunaler Ebene zur Koordinatorin für Frauenangelegenheiten gewählt wurde, hat mit den CPC eine Möglichkeit gefunden, sich für die Frauen in ihrer Gemeinde stark zu machen. Dabei arbeitet sie nicht nur direkt mit nationalen Institutionen wie dem Familienministerium zusammen, sondern hat auch Projektvorschläge bei der Gemeinderegierung eingereicht.
So unterschiedlich die Konsolidierung partizipativer Mechanismen in den Gemeinden ist, so unterschiedlich fallen auch die Erfahrungen mit den CPC aus. Bisher lässt sich kaum ein einheitliches Bild zeichnen. In Kommunen mit traditionell liberaler Regierung, wie beispielsweise in einigen Gebieten im Norden des Landes sowie in der Atlantikregion, haben die CPC kaum Einfluss. In Gemeinden mit konsolidierten Beteiligungsstrukturen, wie beispielsweise in San Juan del Sur, werden die CPC in die kommunalen Entwicklungskomitees integriert, da sie wie andere BewohnerInnenkomitees zur Entwicklung in den Gemeinden beitragen sollen.
Nichtsdestotrotz stellt sich die Frage, warum überhaupt ein neues System geschaffen wurde, wenn bereits zahlreiche Möglichkeiten der Partizipation bestehen und die Verfassung des Landes regional als eine der partizipativsten gilt. Dies ist vor allem ein Erbe der sandinistischen Revolution, deren Regierung in den 1980er Jahren eine breite gesellschaftliche Beteiligung an politischen, sozialen und wirtschaftlichen Anliegen forcierte. Wirft man einen Blick zurück in die Geschichte Nicaraguas, vor allem die erste Hälfte der 1980er Jahre, entdeckt man schnell Ähnlichkeiten der CPC mit den Sandinistischen Verteidigungskommittees, die nach Jahrzehnten der Diktatur der nicaraguanischen Bevölkerung erstmals Beteiligungsmöglichkeiten auf lokaler Ebene ermöglichten. Im Kontext des Krieges gegen die US-finanzierten Contras und der immer prekärer werdenden Lebensverhältnisse im Zuge der Hyperinflation wurden sie jedoch immer mehr zur Verteidigung des revolutionären Projekts innerhalb der Gesellschaft funktionalisiert.
Vor dem Hintergrund des nur knappen Wahlsiegs Ortegas im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen im November 2006 vermuten kritische Stimmen aus akademischen und zivilgesellschaftlichen Kreisen im Land hinter den CPC vor allem eine Strategie des Machterhalts von
Ortega. So schreibt auch die sozialkritische Monatszeitschrift der Zentralamerikanischen Universität in Managua, Envío, die CPC seien vielmehr eine Fassadendemokratie hinter der sich das Projekt einer autoritären und zentralistisch regierenden Exekutive verberge. Mit den CPC versuche die FSLN eine WählerInnenbasis zu schaffen, die mit den Plänen einer entsprechenden Verfassungsänderung dem ehemaligen Revolutionär eine zweite Amtszeit beziehungsweise eine Fortsetzung durch dessen Gattin Murillo sichert.
Die WählerInnenbasis dürfte für einen weiteren Sieg mit den CPC noch nicht ausreichen: Umfragen zufolge beteiligt sich nur eine Minderheit von rund fünf Prozent der Bevölkerung an den Räten, während die restlichen 95 Prozent, darunter mehr als die Hälfte SympathisantInnen der FSLN, eine Beteiligung ablehnen. Im Schatten eines nach einer zweiten Amtszeit strebenden Präsidenten und dessen vermehrten Vorgehens gegen zivilgesellschaftliche Gruppen seit vergangenem Jahr versprechen die Räte weniger die Hoffnung eines neuen Protagonismus von unten. Vielmehr bilden sie eine Gefahr für die verfassungsrechtliche Autonomie der Gemeinden und darin verankerte Partizipationsinstanzen ebenso wie die Tendenz eines neuen Klientelismus in den Gemeinden.

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