Brasilien | Nummer 283 - Januar 1998

Carlinhos um Brownsileiro

Komponist, Musiker, Sänger und längst ein Star: Antonio Carlos dos Santos Freitas oder Carlinhos Brown. Lange Zeit blieb er in der zweiten Reihe, textete, komponierte und musizierte für andere, mit anderen. In der Premierenausgabe von Raça Brasil erschien der folgende Beitrag.

Raça Brasil Nr. 1

Er drückt sein Maschinengewehr ab und verbreitet gleichzeitig Sanftmut. Carlinhos Brown, der Begründer der Timbalada, erblickt Gott durch die Sterne und fordert sein Volk heraus – möchte es gegen die Bequemlichkeit kämpfen sehen. Er steckt sein eigenes Geld in Kulturprojekte und ist auf dem besten Weg, ein Popstar zu werden. Sein Album Alfagamabetizado erschien gleichzeitig hier (Brasilien) und in Europa. Zurückhaltend, denn er haßt es, vom persönlichen Leben zu sprechen, bekennt er: im Grunde findet er sich hübsch. Schön!
Wie ein ewig angeschalteter Mixer/Entsafter vermischt er alles, ohne die geringste Sorge um Sinn oder Klarheit. Seine musikalischen Partner – von Marisa Monte bis zur Hardrockband Sepultura, von Caetano Veloso bis Arnaldo Antunes, von Herbert Viana bis Sergio Mendes (mit dem er zusammen den World Music Grammy 1993 gewann) – genießen es, den Saft seines Rhythmus und seineTexte in sich aufzusaugen.
Carlinhos Brown sieht sich als einen der Erben der Großen – Caetano, Gil, Jackson do Pandeiro, Noel, Jorge Ben Jor -, aber es sieht so aus, als würde er weitergehen als die Meister. Passen Sie auf. Er spielte der Timbalada den Ball zu, und jetzt gehen die stolzen Farbigen (Pfauen der Negritude) ihren eigenen Weg. Er ging, um für ein anderes Publikum zu singen.
Dieser „Leuchtturm der Rasse“, gerade mal 67 kg bei 1,80 m, stellt weiterhin seine langen Dreadlocks zur Schau, aber es ist nicht zu übersehen, daß er sich verändert. Er ist immer noch der Anführer der Gemeinde Morro do Candeal Pequeno in Salvador da Bahia, wo auch seine Familie wohnt. Aber seine Tage und Nächte verbringt er längst an einem anderen Ort, an der Seite von Helena, seiner Frau/Geliebten. Und seines Sohnes Francisco, dem ersten Enkel von Chico Buarque und Marieta; dem zweiten von Bororó und Madalena, den Eltern des heute 34jährigen Antonio Carlos dos Santos Freitas, der „Carlinhos der Madalena“ hieß – bevor er zum Orkan Brown wurde.

Raça Brasil: Als ich Dich vor drei Jahren das letzte Mal interviewte, gab es keinerlei Hürden: Ich ging direkt zum Haus Deiner Mutter, und dort verbrachten wir zwei ganze Nachmittage miteinander…

C.B.:Hör mal, komm doch mal vom Tagebuch zur Tagesordnung, von der man sagt, es sei eine Art Fahrplan, der dein Leben organisiert. Die Leute versuchen, mich zu einem Star zu machen (Lachen), suchen diese Kleinigkeiten zusammen, um mich festzunageln, aber sie schaffen es nicht.

Alfagambetizado hat viel Erfolg dort draußen. Ist es wahr, daß Du mit Virgin Records einen Vertrag über 3 Alben in sechs Jahren hast, und daß Dir deswegen Dollar-Ströme zufließen?

Also, wenn es diese Dollar-Ströme gibt, laß sie bitte hier durch mein Haus fließen, schick diesen Strom durch meine Tür.

Ist es eine reine Phantasie der Medien?

Ist es. Die Medien sind die Regenbogenpresse [portugiesisch: „imprensa marron“ = braune Presse; d. Ü.] und ich bin Carlinhos Brown (Braun). Hallo, verehrte Medien, Sie werden mich nicht täuschen, Sie werden mich nicht schnappen und mich nicht kriegen.

Und die Reichen? Findest Du nicht, daß es den reichen Brasilianern an sozialer Solidarität fehlt?

Aber warum nur bei den Reichen suchen? Warum sollen die Reichen immer denen, die nichts haben, helfen? Ich glaube, daß wir uns selbst helfen müssen. Was soll ich von einem Land halten, das diese Frage nicht diskutieren kann? Ich verteidige nicht die reichen Typen, aber wenn es einer ehrlich verdient hat… Das ist eines der Ziele, bei dem die schwarze Kultur nicht weiterkommt. Deswegen trauen sie sich nicht, Macht zu besitzen. Entweder sie wehren sich dagegen oder sie prahlen damit.

Die in Brasilien prahlen, sind doch die Weißen, oder?

Prahlen tut jeder eitle Mensch, egal ob weiß oder schwarz.

Aber die Schwarzen sind von der Gesellschaft ausgeschlossen.

Welche Gesellschaft? Sie sind es, die sich zu Ausgeschlossenen machen. Ich bin zum Beispiel ein Mischling in Brasilien und sage aus tiefer Überzeugung: Ich liebe es, zur afrikanischen Ethnie zu gehören, aber ich möchte auf gar keinen Fall dort geboren worden sein. In dieser Misere? Mit Ebola, mit Menschen, die vor Hunger sterben? Das soll ein Ort für mich sein? Ist es nicht. Afrika mit seiner ganzen Zerbrechlichkeit hat über sich ergehen lassen, kolonialisiert und versklavt zu werden. Das ist die Sache eines schwachen Volkes. Das ist nicht „mein“ Volk. Mein Volk hat Kraft, ist König. Es weiß, das Chaos zu überleben. Mein Volk ist es, das Brasilien aufbaute, und es läßt sich nicht von ihm verschlucken.

Du hast schon gesagt, daß wir ein Vaterland sind, das gut gelungen ist, wir haben die Sklaverei hinter uns, und Schwarze wie Weiße haben unter ihr gelitten…

Sie waren sogar noch mehr versklavt als die Schwarzen. Und ich bin stolz darauf, das zu sagen. Warum waren sie noch mehr versklavt? Weil sie null Ahnung vom Zuckerrohr hatten. Sie wurden von diesem Dienst versklavt, und das Vergnügen meines Volkes war es, ihr Leben zu versüßen. Ich akzeptiere es nicht, allein Sklave zu sein. Und dann bezauberten diese schönen schwarzen Afrikaner diese Portugiesinnen…

Und umgekehrt: die Weißen „verführten“ ebenfalls die schwarzen Frauen.

Na klar! Aber wieviele Damen der Zuckerfabriken haben wir nicht zum Wahnsinn getrieben! Wieviele liebten uns! Das ist es, was ich die „Fabel der Kolonie“ nenne. Also, wozu sollte ich weiterhin meinen, daß jemand mich schlug, aua, aua, mein Rücken schmerzt. Die Zeit des Märtyrers der Kultur ist vorbei. Jetzt will ich mein Imperium zurück. Ich bin schön, habe eine Zeitschrift über Schwarze, die mich einlädt, zu dieser “raça Brasil” zu sprechen. Schau mal, was für ein Fortschritt.

Nach einer Untersuchung von Datafolha gibt es in Brasilien 30 Millionen Schwarze.

Also, mein Bruder, ich sage Dir – nicht als reiner Schwarzer, denn das bin ich nicht, ich bin Brasilianer – ich lege Wert darauf, in Brasilien geboren zu sein, speziell in Bahia. Hier schlägt die Trommel stärker. Ich finde der schwarze Bahianer ist der Glücklichste, der Bewußteste, der Afrikanischste, mehr als an jedem anderen Ort der Welt.

Der Rap aus der Peripherie von São Paulo ist hart, traurig und bitter.

Das ist das Hinnehmen der Misere und das Unvermögen sie zu überwinden.

Du hast 9 Geschwister. Deine Mutter hat ihr ganzes Leben lang Wäsche gewaschen. Dein Vater hat Wände gestrichen. Du konntest keine Schule besuchen. Bist als Analphabet im Candeal aufgewachsen. Trotz allem hast Du fast edelmütige Augen für die Weißen…

Jag’ diese Idee zum Teufel! Das waren meine Lebensumstände. Soll ich dafür Personen beschuldigen?

Du verabscheust die Schwarzenbewegung, oder?

Jede separatistische Bewegung, nicht nur die schwarze. Ich glaube folgendes: Willst Du was für die schwarze Bewegung tun? Sei nicht pamphletisch! Mach eine Stammesbewegung, Gemeinschaftsbewegung, verstehst Du? Und der Anführer soll die Menschen bedauern, mach das, was Brasilien nicht macht, sei Kommunist in Aktion. Nicht politischer Kommunist. Teile Deine Essen. Also, das T-Shirt mit Sprüchen vollzuschreiben wie „Ich bin Negão, ich bin Negão…“, das ändert gar nichts.

Aber an deinem Fleckchen, dem Candeal, dort machst Du was los…

Das, was von mir abhängt, mache ich. Ich baue gerade eine Schule, ein Aufnahmestudio, steht schon. Ich sage jetzt folgendes. Herren, Reiche und Millionäre, die während einer Kampagne sagen, daß sie den Leuten helfen werden, und wenn wir ihnen dann ein Projekt vorstellen, kommen sie mit „Ah, wunderbar, aber ich kann nicht“, das ist eine Schande.

Wirst Du weiterhin Deine Geld in die Zukunft der Nation stecken?

Mit dem größten Vergnügen.

Und die katholische Kirche?

Die bleibt bei dem Schwindel der Brüderlichkeitskampagne.

Du sagst, die schwarzen US-Amerikaner seien sehr aggressiv…

Amerikaner, denkt niemals, daß ich Euch verachte. Denn, ob ich will oder nicht, ich habe einen Brown [James Brown; d.Ü.] in mir. Die Amerikaner haben die Macht der Musik entdeckt. In Brasilien wissen wir nicht, daß wir diese Macht haben, nicht, wie wir mit Kultur handeln können. Denn Kultur wird genauso konsumiert wie Essen. Sie ist lebenswichtig für die Menschheit. Alles, alles ist endlich. Wußtest Du, daß die Musik in ihrer Endphase ist?

Wie bitte?

Die ganze Welt benutzt Computer, die Musik ist voller Elektrokabel…

Willst Du sagen, die Musik ist in einer Art UTI [ Unidade de Tratamento Intensivo = Intensivstation; d.Ü.]

Es ist UTI-Musik. Ein tum tum tum. Aber nicht die Musik aus Brasilien. Das ist noch eine Musik, die direkt aufgenommen werden kann, mit einem Kassettenrecorder, ohne die ganzen Apparate.

Aber die schwarzen Amerikaner?

Ich denke, die schwarzen Amerikaner wachsen, werden reich und so prahlerisch wie die Weißen.

Hast Du schon mal Rassendiskriminierung erfahren?

Ja, im Vatikan. Ich wollte einmal in die Sixtinische Kapelle, um ein Gemälde von Michelangelo zu sehen, aber die Wärter ließen mich nicht rein. Es wäre voll, doch deutsche Touristen kamen rein. Aber ich stand darüber, ich brauche keine Kuppel, um Gott zu erblicken. Ich sehe Gott durch die Sterne. Ich bin nicht geboren, um Groll in mir zu tragen. Aber ich sehe das nicht als Milde. Es ist meine Verteidigung. Ich könnte mich mit ihm streiten, ein Drama daraus machen, sogar verhaftet werden. Vielleicht ist es Angst.

Du hast schon gesagt, daß Du ängstlich bist…

Ah, das ist nur, weil alles so überwältigend ist. Und unerwartet, ja. Ich war mit den Jungs von Sepultura beim Aufnehmen, sollte bei einem Stück mitspielen, am Schluß waren es drei, und kurz darauf sang ich mit ihnen. Ich fand bei ihnen etwas, das ich seit Jahren nicht mehr gefunden hatte: Es glich meiner Clique um die Ecke. Denn es gibt Schwarze, die meinen, nur Schwarze könnten diesen Rhythmus spielen. Das alles bringt uns nur weg, entfernt uns vom Kaviar.

Und Carlinhos Brown kam, um es zusammenzuführen…

Ich bin ein großer Feind der „Contras“, der Separatisten.

Deine Musik ist schmutzig, von der Straße, sie ist nicht perfekt…

Der Mensch ist nicht perfekt. Wie soll ich also etwas Perfektes machen, was Geschliffenes? Caetano Veloso sagt: „weder fröhlich, noch traurig, noch Dichter“. So bin ich.

Und was hältst Du von einer Zeitschrift für die schwarze Gemeinde Brasiliens?

Es hat lange gedauert. Laß mich die Gelegenheit nutzen ein paar Worte an die schwarze Kultur zu richten. Vielleicht wissen sie es nicht, wie ich es auch nicht wußte, bevor ich reiste, und denken, die Schwarzen kommen von einem Ort am Arsch der Welt, irgendwo in Afrika, von Hunden gejagt. Ich dachte, so wäre es. Ich wußte nicht, daß es den Norden von Afrika gibt, daß die Mauren das ganze Imperium des Reichtums haben. Heute identifiziere ich die brasilianische Ecke mit der algerischen. Mit wem ich mich indentifiziere? Ich bin Berber, Maure. Ich bin kein Daomé, kein Ghanaer, ich bin nicht aus dem Hinterland von Afrika.

Carlinhos Brown ist also aus der afrikanischen Wüste?

Ja, denn ich gehöre zu den Unermeßlichkeiten. Und heute frage ich mich: hätte es mir geholfen, wenn ich das früher gewußt hätte? Oder mußte ich selbst entdecken, daß ich reich bin, daß meine Ethnie Macht hat und nicht in dieser auferlegten Misere steckt.

Ein Vers der Sängerin Adriana Calcanhoto sagt: „Ich werfe einen Blick auf Brasilien und verstehe gar nichts.“

Brasilien zu verstehen ist eine ernste Sache. Ich für mich würde die ganzen Sterne von der Flagge streichen, ein bißchen saubermachen, das wäre schon ein Erleichterung…

Übersetzung: Andrea Fanger und Marcos D.C. Sarandão

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