Literatur | Nummer 229/230 - Juli/August 1993

“Castros letzte Stunde” steht noch aus

Pulitzer-Preis für herausragende Studie über die kubanische Krise

Der in Miami (Florida) arbeitende Argentinier Andrés Oppenheimer ist vor wenigen Wochen zum zweiten Mal mit dem renommierten Pulitzer-Preis für Publizistik geehrt worden. Der Journalist, der sich schon um die Aufklärung des Iran-Contra-Skandals verdient gemacht hatte, erhielt die Auszeichnung für ein Buch, das bisher (leider) nur in englischer und spanischer Sprache vorliegt: “Castro’s Final Hour – La hora final de Castro”.

Hinnerk Berlekamp

Costa Ricas Ex-Präsident Arias hat Oppenheimer bescheinigt, mit seinem Buch einen “unschätzbaren Beitrag zum Verständnis des heutigen Kuba” geleistet zu haben. Er übertreibt keineswegs: Das 432 Seiten starke Werk (plus Anhang) hat für Publikationen über das kubanische Drama einen Maßstab gesetzt, der auf absehbare Zeit nicht so leicht zu überbieten sein wird.
Das Buch beschränkt sich weitgehend auf die Zeit zwischen dem Ochoa-Prozeß (bei dem im Sommer 1989 der General Ochoa des Drogenhandels angeklagt und zum Tode verurteilt worden war) und dem 4. Parteitag der KP Kubas (Oktober 1991), auf jenen Zeitraum also, in dem sich alle wesentlichen Faktoren der heutigen Krise herausbildeten. Umfangreiche Recherchen in den USA, Panama, Nicaragua und vor allem auf Kuba selbst, wo der Autor mit Ausnahme der Castro-Brüder offenbar die gesamte Partei- und Staatsführung interviewen konnte, legen der “spannend wie ein Intrigenroman” (Mario Vargas Llosa) geschriebenen Handlung einen Faktenapparat zugrunde, der das Buch fast zu einem Nachschlagewerk werden läßt. Oppenheimer meidet vorschnelle Wertungen und beweist Scharfsinn, wenn er z. B. im Kontext der Rauschgift-Affären differenziert, im revolutionären Kuba sei stets weniger zwischen legalen und illegalen als zwischen autorisierten und nicht autorisierten Aktionen zu unterscheiden gewesen.
Bemerkenswert, weil selten, ist seine bei aller Kritik überaus sachliche, von den üblichen Mystifizierungen freie Sicht auf den “máximo líder”. So vermeldet Oppenheimer mit Respekt, Fidel Castro habe im Unterschied zu seinen Beratern auf die Nachricht vom Moskauer Putsch gegen Gorbatschow (August 1991) mit großer Sorge reagiert und das Scheitern der Verschwörer vorhergesagt. Von großem Interesse sind auch seine Bemerkungen über Raúl Castro, dessen Stellung im kubanischen Machtgefüge immer wieder Fragen aufwarf. Der Autor porträtiert ihn als einen chronisch mißtrauischen, vor seinem Bruder vor Respekt fast erstarrenden Menschen, der gleichzeitig vorsichtigen Reformen durchaus aufgeschlossen gegenübersteht.
Deutliche Schwächen weist das (in der spanischen Ausgabe recht schlampig redigierte) Buch hingegen dort auf, wo Oppenheimer das Feld der politischen Analyse verläßt und sich um eine Schilderung des Alltagslebens bemüht. Das Bild, das er hier zeichnet, bezieht sich zu 95 Prozent auf Havannas “bessere Viertel” Vedado und Miramar und läßt sich einfach nicht auf den Rest der Insel übertragen. Die Landbevölkerung kommt bei ihm beispielsweise überhaupt nicht vor, ebensowenig die Situation im “Oriente”, die wesentliche Besonderheiten aufweist.
Der Autor hat sich zwar bemüht, wie er im Vorwort schreibt, Kuba “offen und ohne Vorurteile” zu sehen, doch gelungen ist es ihm nicht immer. Die Gewißheit, daß kapitalistische Marktwirtschaft und Mehrparteiendemokratie dem letzten Ratschluß der Geschichte entsprechen, erschwert es ihm, der kubanischen Revolution die Dimension eines Versuchs einer historischen Alternative zuzugestehen. Wie kompliziert es für Oppenheimer ist, sich in realsozialistische Verhältnisse wirklich hineinzudenken, zeigt sich unter anderem bei seinen Bemerkungen zum 4. Parteitag der KP: Kein Kubaner würde wie er “überrascht” sein, wenn er feststellte, daß die Delegierten die vorab abgesegneten Resolutionsentwürfe nur noch minimal veränderten. Daß nicht ein weitverzweigter Repressionsapparat allein die Ursache dafür sein kann, daß der Castro-Sozialismus bisher überlebt hat, verschweigt der Autor keineswegs, aber eventuelle andere Gründe kann er nur ansatzweise erkennen.
Grobe sachliche Ungenauigkeiten (“Bis in die 80er Jahre hinein gab es in Kuba keinerlei Privatunternehmer oder -bauern” – und ob es die gab!) sind die absolute Ausnahme und schmälern den Wert des Buches kaum. Eine letzte Kritik soll sich schließlich noch auf den Titel “Castros letzte Stunde” beziehen. Ein ausgewiesener Revolutionsexperte namens Lenin hat einmal festgestellt, daß keine Regierung, nicht einmal in schlimmsten Krisenzeiten, “zu Fall kommt, wenn man sie nicht zu Fall bringt”. Da Oppenheimer ein solches (konter-) revolutionäres Subjekt nicht ausmachen kann und im Gegenteil ausführt, warum welches potentielle Subjekt für diese Aufgabe ausfällt, hätte er sich vielleicht besser für ein weniger reißerisches “Castros schwerste Stunde” entscheiden sollen.

Andrés Oppenheimer: “La hora final de Castro”. Javier Vergara Editor s.a., Buenos Aires /Madrid/México/Santiago de Chile/Bogotá/Caracas, 1992.

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