Musik | Nummer 283 - Januar 1998

Chico Total!

Zwei neue CD-Veröffentlichungen stellen das Werk Chico Buarques vor

Enno Witfeld

Es wurde ja auch mal Zeit. Nach über 30 Jahren erhält nun auch das deutsche Publikum die Gelegenheit, einen der wichtigsten brasilianischen Liedautoren und Sänger kennenzulernen. Immerhin die beiden letzten Alben standen auch in deutschen CD-Regalen, aber frühere Werke waren hierzulande – anders als etwa in Frankreich oder Italien – kaum zu bekommen. Doch halt: Kommt uns die Melodie von „A Banda“ nicht irgendwie bekannt vor? Richtig: Ende der sechziger Jahre landete France Gall mit diesem Titel einen Riesenerfolg in Deutschland. Allerdings war der Originaltext – einer von Buarques bravsten – damals offenbar immer noch zu nachdenklich und wurde durch ein blödsinniges Aneinandergereime vermeintlicher Exotikklischees ersetzt: „Zwei Apfelsinen im Haar…“
Chico Total ist eine Zusammenstellung von 24 Liedern, angefangen mit eben diesem „A Banda“, mit dem Chico Buarque den TV-Liederwettbewerb 1966 gewann und damit den Grundstein für seine Karriere legte, bis hin zu „A Volta do Malandro“ aus dem Jahr 1985. Natürlich sind es keineswegs „alle wichtigen Songs“, wie uns der Klappentext weismachen will – aus dem simplen Grund, daß dafür eine CD nicht ausreicht. Jedoch ist angesichts der fast unlösbaren Aufgabe, zwei Jahrzehnte Karriere auf einer CD zusammenzufassen, ein recht repräsentativer Überblick entstanden.
Auf musikalischer Ebene lassen Chico Buarques Kompositionen zwei Hauptwurzeln erkennen: Einerseits der samba-canção seiner Heimatstadt Rio de Janeiro, in der Tradition der alten sambistas wie Noel Rosa, andererseits die raffinierte Melodik und komplexe Harmonik der zu Beginn seiner Karriere äußerst populären bossa nova. Diese beiden Elemente verschmilzt Chico Buarque zu seinem unverwechselbaren Stil, der jedoch andere brasilianische Rhythmen wie marcha-rancho („A Banda“) oder choro („Meu Caro Amigo“) nicht ausschließt. Sogar die einzige Fremdkomposition „O malandro“, eine freie Nachdichtung des Dreigroschenoper-Hits „Die Moritat von Mackie Messer“, klingt, als sei sie nie etwas anderes als ein samba gewesen. Musikalische Revolutionen indes hat Chico Buarque – anders als etwa seine Kollegen Caetano Veloso und Gilberto Gil mit ihrem Konzept des tropicalismo – nie angestrebt, und progressive Arrangements wie „Deus lhe Pague“, das seine düstere Grundstimmung bis ins Unerträgliche steigert, bleiben die Ausnahme.
Dank der hervorragenden Übersetzungen von Karin von Schweder-Schreiner sind erstmals auch die Texte den deutschen Hörern zugänglich. Meist handelt es sich – ähnlich wie zum Beispiel bei Noel Rosa – um Geschichten aus dem brasilianischen Alltag, poetisch, sozialkritisch, oft ironisch bis sarkastisch und in ihrer sprachlichen Kraft am ehesten zu vergleichen mit Vinícius de Moraes, dem großen Dichter der bossa nova. Aber Chico Buarque vermag auch wunderschöne Liebeslieder zu schreiben, verzweifelte wie „Desalento“, ein zusammen mit Vinícius de Moraes geschriebener bossa nova, melancholische wie das gemeinsam mit Tom Jobim verfaßte „Eu te Amo“.
Oft steht der Inhalt der Texte in krassem Gegensatz zur Melodie, etwa bei „Homenagem ao Malandro“, einer ironischen Anklage der Korruption und Wirtschaftskriminalität, die als flotter samba daherkommt, oder bei dem ebenso fröhlichen „Meu Caro Amigo“, das in Form eines Briefes an einen Freund den alltäglichen Frust schildert. In „O meu Guri“ unterstreicht die liebliche Melodie die Naivität einer Mutter, die sich darüber wundert, daß in den Handtaschen, die ihr ihr Kleiner schenkt, immer schon alles drin ist…
Auch das jahrelange Katz-und-Maus-Spiel mit der Zensur spiegelt sich in Chico Buarques Texten. 1970 nach kurzem italienischem Exil in sein Heimatland zurückgekehrt, ließ sich Chico Buarque immer findigere Tricks einfallen, um seine Botschaften zu verbreiten, bis hin zu einem Pseudonym, unter dem er 1974 ein eigenes Lied auf ein Album mit Fremdkompositionen schmuggelte. „Corrente“ etwa kommentiert die damalige Parole des Militärregimes „Este é um país que vai pra frente – Dieses ist ein Land, das voranmarschiert“, indem es nach der Anfangszeile „Eu hoje fiz um samba bem pra frente – Heute habe ich einen richtig fortschrittlichen samba geschrieben“ mit einer raffinierten Verschiebung der Verse in Bezug zur Melodie wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt.
Fazit: Eine rundum empfehlenswerte Zusammenstellung, die sicherlich den HörerInnen Appetit und hoffentlich den ProduzentInnen Mut macht auf eine Fortsetzung!
Im Gegensatz zu Chico Buarque, dem cantor, der mit einem ausgeprägten Personalstil hauptsächlich eigene Titel vorträgt, betrachtet sich Ney Matogrosso als intérprete, also eine Art musikalischen Schauspieler. Eine in Brasilien übliche Unterscheidung, die keine Wertung beinhaltet. Auch er blickt auf eine jahrzehntelange Karriere zurück, die 1973 mit der legendären Formation Secos e Molhados begann. Berühmt war der androgyne Sänger mit der hohen Stimme vor allem wegen seiner exaltierten Bühnenshows.
Auf seinem neuesten Album Um Brasileiro interpretiert er ausschließlich Kompositionen von Chico Buarque. Vier davon sind auch auf Chico Total zu finden und ermöglichen so den direkten Vergleich; auf „Até o Fim“ hören wir Komponist und Interpret im Duett. Einige der Titel sind deutlich langsamer gehalten als die Originalversion, was in Verbindung mit den sparsamen, transparenten Arrangements des Pianisten Leandro Braga die stimmlichen Qualitäten Ney Matogrossos sehr gut zur Geltung kommen läßt (allerdings unterstreicht zuweilen gerade der leidenschaftslose Gesangsstil Chico Buarques besser die Ironie seiner Texte, so etwa in „Mil Perdões“, bei Ney Matogrosso ein ausdrucksvoll vorgetragener langsamer Blues, in dem es heißt: „Ich verzeihe dir, daß ich dich betrogen habe.“). Es gelingt den Musikern hervorragend, in den Liedern Chico Buarques neue Facetten zum Vorschein zu bringen, sie gewissermaßen aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Das arg strapazierte „A Banda“ gewinnt hier in einer getragenen und reharmonisierten Version deutlich an Frische, und „Soneto“- lediglich begleitet von Klavier, Sopransaxophon (Zé Nogueira) und Cello (Jacques Morelenbaum) – gerät zu einem intimen Bekenntnis (warum nur wurde das Zwiegespräch zwischen Nogueira und Morelenbaum so früh ausgeblendet?). Dennoch: ebenfalls eine ausgezeichnete CD, gleichzeitig traditionsbewußt und modern. Sie sei nicht nur Chico Buarque-Fans empfohlen.

Chico Buarque: Chico Total, Polygram, 536364-2
Ney Matogrosso: Um Brasileiro, Polygram, 528077-2

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren