Chile | Nummer 488 - Februar 2015

Chile auf Reformkurs

Das noch aus Pinochets Zeiten stammende Wahlrechtssystem soll endlich reformiert werden. Aber auch in der Schulbildung setzt Bachelet ein Zeichen

25 Jahre nach Ende der Militärdiktatur hat das chilenische Parlament Mitte Januar die lang versprochene Wahlrechtsreform versprochen, die dem binominalen Wahlsystem ein Ende setzt. Eingeführt in den letzten Monaten der Militärdiktatur, sollte es das Stimmengewicht rechts-konservativer Parteien im Kongress sichern und künftige Entscheidungen und Reformen durch linke Parteien erschweren. Auch in Sachen Bildungsreform kann die Regierung von Michelle Bachelet Fortschritte vermelden; das erste Reformgesetz über die Schulbildung wurde ebenfalls im Januar verabschiedet.

Caroline Kassin

Sie war seit langem eines der Flaggschiffe im Kampf gegen das Erbe der Militärdiktatur in Chile: die Forderung nach einer Wahlrechtsreform. Neben dem Fortbestehen der Verfassung der Pinochet-Diktatur ist das Wahlrecht das größte Hindernis für eine weitergehende Demokratisierung. Es hat dazu beigetragen, ein Vierteljahrhundert lang die institutionellen Ordnung des Militärregimes abzusichern. Für Senat und Abgeordnetenkammer wurden seitdem jeweils zwei Sitze pro Wahlkreis vergeben, unabhängig von deren politisch-territorialen und demografischen Bedingungen. Jeweils ein Sitz ging an die stärkste und an die zweitstärkste Liste. Nur wenn eine Liste in einem Wahlkreis mehr als zwei Drittel der Stimmen erhielt, bekam sie auch den zweiten Sitz. Die daraus resultierende Zusammensetzung des Parlamentes verzerrte die tatsächliche Stimmenverteilung im Land stark; pro Wahlbezirk gab es immer genau zwei Mandate, egal wie viele Menschen dort gewählt hatten. Vor allem aber bewirkte dieses binominale System in beiden Kammern des Parlaments stets eine Pattsituation zwischen den beiden großen Parteienbündnissen Concertación und Alianza por Chile. Auch wenn das Mitte-links-Bündnis Concertación (heute Nueva Mayoría) seit Ende der Diktatur die Regierung gestellt hat – mit Ausnahme der Legislaturperiode 2010-2014 unter der rechts-konservativen Alianza-Regierung – ging die Rechnung der Pinochet-Diktatur auf. Weil das zweite Mandat immer an die zweitstärkste Liste ging, stellten Parteien, die bei der Wahl stimmenmäßig unterlegen waren, trotzdem die Hälfte der Abgeordneten im Parlament. So war es den rechten Parteien in der Vergangenheit oft ein Leichtes, die linken Regierungen zu blockieren. Und weil immer genau zwei Mandate pro Wahlkreis vergeben wurden, hatten andere Parteien und unabhängige Kandidat*innen außerhalb der zwei konkurrierenden Parteienbündnisse nur sehr geringe Chancen auf ein Mandat, obwohl sie bei den Wahlen zum Teil zweistellige Prozentwerte erreichten.
Aber damit soll nun Schluss sein. Senat und Abgeordnetenkammer entschieden im Januar über die Abschaffung des binominalen Systems und die Einführung der repräsentativen Verhältniswahl. Die dafür nötige Drei-Fünftel-Mehrheit konnte durch drei Stimmen aus den Rängen des rechts-konservativen Movimiento Amplitud, Teil des Alianza-Bündnisses, erreicht werden. „Was die drei Abgeordneten des Movimiento Amplitud getan haben, verdient Anerkennung, denn sie haben dem Druck durch die Alianza, die Reform zu verhindern, widerstanden“, sagte der Abgeordnete Pepe Auth von der Partei für Demokratie (PPD) nach der Abstimmung im Senat. „Heute fällt eine der Säulen, die die Diktatur aufgestellt hat, um das politische System für immer festzuschreiben und Veränderungen zu verhindern“. Künftig soll es für das Abgeordnetenhaus 155 Mandate geben, 35 mehr als bisher. Die Zahl der Wahlbezirke wird gleichzeitig von 60 auf 28 zusammengeschmolzen. Jeder dieser 28 Wahlbezirke entsendet dann aber nicht mehr zwei, sondern zwischen drei und acht Abgeordneten, abhängig von Größe und Einwohner*innenzahl des Bezirks. Für die Senatswahlen gilt ähnliches: Jede der 15 Regionen Chiles entsendet ab der nächsten Wahl 2017 ein bis drei Senator*innen. Das soll die Repräsentativität des Parlamentes erhöhen und auch Kanditat*innen kleinerer Parteien und Unabhängigen besseren Zugang verschaffen. Ein Quotengesetz sorgt außerdem dafür, dass maximal 60 Prozent der Kandidat*innen einer Liste demselben Geschlecht angehören dürfen. „Der Kongress wird Chile ähnlicher sein; mit mehr Frauen, mehr Vertretern der Regionen und jungen Leuten, und hoffentlich auch bald mit mehr Vertretern der indigenen Völker“, so Pedro Browne vom Movimiento Amplitud, einer der Abgeordneten, die gegen die Empfehlung des eigenen Parteienbündnisses votiert hatten. Abgesehen von solchen Ausnahmen hagelte es seitens des Alianza-Bündnisses jedoch Kritik. Das Gesetz sei eine Maßanfertigung für die Interessen der Nueva Mayoría und die Kosten für die zusätzlichen Abgeordneten- und Senator*innen-Gehälter zu hoch. Die Alianza kündigte an, das Gesetz vom Verfassungsgericht prüfen zu lassen, da sich die Verteilung der Mandate nach dem neuen Quotengesetz nicht mit dem Grundsatz der Stimmengleichheit vereinbaren ließe. „Dieses Vorhaben ist nicht nur ungerecht, sondern schlicht verfassungswidrig“, so Senator Hernán Larraín von der rechtskonservativen Unabhängigen Demokratischen Partei (UDI). „Durch die neue Aufteilung der Wahlbezirke werden der Nueva Mayoría durch dieses Gesetz um die zehn Parlamentssitze geschenkt, und das ist grotesk.“ Präsidentin Michelle Bachelet zeigte sich indes zufrieden und sprach von einem großen Tag für die Demokratie in Chile. Mit dieser Reform hat sie eines ihrer zentralen Wahlversprechen eingelöst.
Und auch in anderen Wahlkampfthemen kann die Regierung Bachelets Erfolge vermelden. Nachdem Schüler*innen und Studierende seit 2011 zu hunderttausenden auf die Straße gingen, um für eine gute und kostenlose Bildung für alle zu demonstrieren, verabschiedeten Senat und Abgeordnetenkammer nun das erste Reformgesetz. Ab März 2016 soll es eine „Non-Profit“-Bildung in staatlich subventionierten Schulen garantieren. Diese Einrichtungen müssen den Schüler*innen dann kostenlose Bildung gewähren und dürfen keine Gewinne mehr machen, die nicht wieder dem Bildungszweck der Einrichtungen zugutekommen. Andernfalls drohen den Betreiber*innen Bußgelder und strafrechtliche Sanktionen. Auch dürfen bisherige Schullaufbahn, Noten und die sozioökonomische Situation der Familien keine Kriterien mehr für die Aufnahme der Schüler*innen sein. Die sogenannten Exzellenzschulen sollen dabei eine Ausnahme bilden: sie dürfen dann noch 30 Prozent ihrer Schüler*innen nach Qualifikation auswählen. Private Schulen ohne staatliche Subventionen sind von dem neuen Gesetz ganz ausgenommen. Der rechten Opposition ist das alles trotzdem schon zu viel: „Dieses Gesetz wird die Kreativität und Diversität in der Bildung ersticken“, meint die Senatorin Ena von Baer (UDI). „Es wird die Exzellenzschulen zerstören und zur Schließung der subventionierten Privatschulen führen, die den Familien der Mittelschicht heute eine gute Bildung bieten.“ Die ehemalige Anführerin der Studierendenbewegung und heutige Abgeordnete der Kommunistischen Partei (PC) Camila Vallejo hingegen warb vor der Abstimmung für das Gesetz. Die seit 30 Jahren dem Markt unterworfene Bildung habe keine Qualität und die Reform sei ein erster Schritt, um die „historische Situation des Landes zu korrigieren“, so Vallejo. Die Schüler*innen- und Studierendenorganisationen hatten sich allerdings mehr erhofft und sehen ihre Forderungen nach einer kostenlosen und egalitären Bildung für alle missachtet. Dass das Gesetz ausschließlich für staatlich subventionierte Einrichtungen gilt und der Privatsektor völlig ausgenommen wurde, als schwebe er über Recht und Gesetz, bringt sie erneut auf die Barrikaden. „Dieses Gesetz ist keine tiefgreifende Veränderung, sondern ein Haufen von Ausnahmen“, sagte die Vorsitzende des Studierendenverbandes Chile (CONFECH) Valentina Saavedra. Es sei hinter verschlossenen Türen zwischen Regierung und Opposition ausgehandelt worden, ohne die Schüler*innen und Studierendenorganisationen zu konsultieren, die seit 2011 für eine Bildungsreform mobil machen.
In den kommenden Monaten will die Regierung eine Gesetzesinitiative für Hochschulreformen auf den Weg bringen. Bei den Studierendenorganisationen hofft man trotz des Ärgers über das neue Schulbildungsgesetz noch auf die Berücksichtigung ihrer Forderungen und auf eine effektive Veränderung des Bildungswesens.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren