Chile | Nummer 357 - März 2004

Chilenische Sümpfe

Ein Kinderporno-Skandal zieht immer weitere Kreise

Zunächst war da ein Unternehmer, der Kopf einer Organisation war, die Kinder missbrauchte und Pornos mit ihnen drehte. Dann kam eine politische Anschuldigung: Drei Abgeordnete sollten in den Fall verwickelt sein, zwei davon von der rechten UDI-Partei. Die sieht sich nun einer Verschwörung ausgesetzt. Bei der juristischen Schlacht, die immer tiefer im Sumpf von Lügen und Manipulation zu versinken scheint, geraten die Opfer in Vergessenheit.

Elias Rodriguez

Ende September 2003 wurden der 55-jährige chilenische Geschäftsmann Claudio Spiniak Vilensky sowie weitere Personen aus seinem Umfeld festgenommen, weil sie regelmäßig Kinder missbraucht hatten. Spiniak ist der Kopf eines Netzwerkes, das Kinder zur Prostitution zwingt. Der Fall erregte große öffentliche Empörung. Zum Politikum wurde er, als die Abgeordnete der Partei Nationale Erneuerung (RN), Pia Guzman, drei Abgeordnete – zwei von der rechten Allianz für Chile und einen Christdemokraten – beschuldigte, in das Verbrechen verwickelt zu sein.
Seit die Polizei Spiniaks Organisation zerschlagen hat, kommen immer mehr Informationen an die Öffentlichkeit, die darauf hinweisen, dass Spiniak und seine Anhänger die Polizei unter Druck setzten um nicht belangt zu werden. Bereits im Februar 2002 floh ein Mädchen aus dem so genannten „Spiniak-Haus“ in dem reichen Santiagoer Stadtviertel Las Condes und zeigte ein Mitglied der Bande wegen versuchter Vergewaltigung an. Aber es geschah nichts.
Einmal wäre Spiniak schon fast vor Gericht gekommen: Im Dezember 2002 nahm ihn die Polizei wegen Drogen- und Waffenbesitzes sowie wegen einer großen Sammlung an pornographischem Material, auf dem auch Minderjährige auftauchten, fest. Im Juni letzten Jahres kam er allerdings nach einer Zahlung von zehn Millionen Pesos wieder frei. Obwohl eine Strafrichterin zu eben diesem Zeitpunkt einen Prozess wegen Kindesmissbrauch gegen Spiniak eröffnen wollte. Sie erreichte schließlich im September seine erneute Festnahme.

Straßenkinder als Opfer
Bei den Opfern handelt es sich um Straßenkinder, die mit Geld und einem warmen Essen in das Haus gelockt worden waren. Sie berichteten von regelrechten Orgien im Spiniak-Haus. Dort wurden sie mit Alkohol und Drogen vollgepumpt und mussten den Wünschen Spiniaks und seiner Freunde, meist einflussreiche Geschäftsleute, entsprechen. Die grausamen Misshandlungen, die die Männer an den Kindern vollzogen, wurden fotografiert oder gefilmt. Nach Aussage der Kinder sind auch einige von ihnen verschwunden.
Doch die Opfer gerieten schnell aus dem öffentlichen Blickfeld, als Pia Guzman zwei Parlamentarier beschuldigte, das Spiniak-Haus besucht zu haben. Besonders die Demokratische Unabhängige Union (UDI), Bündnispartnerin von Guzmans Partei Nationale Erneuerung (RN) in dem Bündnis Allianz für Chile sprach sofort von Verleumdung und zeigte die Parlamentarierin an.
Die UDI sieht sich als Opfer einer Verschwörung, in die nicht nur ihr Bündnispartner, sondern auch linke Medien, JournalistInnen und Abgeordnete verwickelt sind. Ihrer Meinung nach soll die „Schmutzkampagne“ ihren Präsidentschaftskandidaten für 2005, Joaquin Lavin, schlecht machen. Schließlich habe Guzman es bei Andeutungen belassen und keine Namen genannt. Diese Haltung sei verantwortungslos, hieß es nicht nur aus den Reihen der UDI, und sie solle Klartext reden, um die Schlammschlacht nicht noch zu vergrößern.
Da war die Gerüchteküche aber schon am Brodeln: Zwei Senatoren der UDI, Carlos Bombal und Jovino Novoa, sollen im Spiniak-Haus ein- und ausgegangen sein. Im Oktober 2003 wurde der Richter Daniel Calvo vom Berufungsgericht beauftragt, sich des Falles anzunehmen.

Der Fall Calvo
Während Calvo den Fall bearbeitete, versuchte die UDI weiter, die minderjährigen Zeugen zu diskreditieren. Unterstützung erhielt die Partei dabei von den konservativen Medien des Landes, allen voran der Tageszeitung Mercurio und dem Medienkonzern COPESA, der mehrere Zeitungen und Zeitschriften herausgibt.
Am 5. November 2003 nahm der Fall eine überraschende Wendung: Calvo, verheiratet und Vater von fünf Kindern, erklärte, er wolle seinen Posten aufgeben. Er sei in einer Schwulensauna gewesen sei und nun das Opfer einer Erpressung. Zwei Tage später setzte das Oberste Gericht statt seiner Sergio Muñoz ein, der noch immer die Verhandlungen führt.
Die Beichte des Richters hat eine Vorgeschichte: Die liberale Zeitschrift Plan B und der Nachrichtensender Chilevision hatten zunächst die Aussage des Saunabesitzers Sebastián Rodríguez veröffentlicht, der Calvo als regelmäßigen Kunden bezeichnete.
Der Saunabesitzer filmte dann mit einer versteckten Kamera ein Gespräch mit Calvo, bei dem dieser zugab, „moralisch“ für seinen Fall nicht geeignet zu sein. Chilevision strahlte diese Aussage ohne Authorisierung des Richters aus.
Der Saunabetreiber Rodriguez gab an, aus moralischen Gründen gehandelt zu haben, da er fände, ein Mensch wie Spiniak könne nicht einen so delikaten Fall betreuen, weil er erpressbar sei. Calvo wiederum verklagte den Fernsehsender wegen Verletzung seiner Privatsphäre, sah sich jedoch zu dem Eingeständnis gezwungen.

Prozesswust statt Klarheit
Die UDI glaubte indes beim Beweis ihrer Verschwörungstheorien Fortschritte vorweisen zu können: Ein minderjähriger Zeuge, der mehrmals im Fernsehen ausgesagt hatte, einen UDI-Senator im Spiniak-Haus gesehen zu haben, bezeugte vor Gericht von einem Abgeordneten des Regierungsbündnisses Concertacion für diese Aussage ein Paar Schuhe erhalten zu haben.
Momentan laufen vier Prozesse, die mit dem Kinderporno-Ring zu tun haben: Im Spiniak-Fall ermittelt Sergio Muñoz gegen den Unternehmer und die anderen Besucher des Spiniak-Hauses. Der Calvo-Prozess versucht zu klären, ob die Grundrechte des Richters durch den Fernsehsender Chilevision verletzt wurden. Eine weitere Richterin beschäftigt sich mit der Frage, ob der Zeuge, der die UDI-Senatoren beschuldigte, die Wahrheit sagte. Und schließlich läuft noch der Prozess wegen Verleumdung gegen Pia Guzman, die das Ganze ins Rollen brachte.
Während der gesamten vier Monate wurde vor lauter Klagen, Gegenklagen und angeblicher Verleumdungen der eigentliche Punkt des Skandals immer wieder in den Hintergrund gedrängt: Der Prozess gegen einen Kinderporno-Ring und das Schicksal der Opfer. Wie sc hon während der Militärdiktatur wird die Wahrheit über die Verletzung von Menschenrechten unter einem Berg von Lügen begraben.

Übersetzung: D. Stratenwerth

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