Nummer 367 - Januar 2005 | Sachbuch

Chronik einer Revolution

EZLN: 20 + 10 – Das Feuer und das Wort, Gloria Muñoz´ Histologie der zapatistischen Bewegung

In ihrem 2003 auf Spanisch erschienen und 2004 ins Deutsche übersetzten Buch EZLN 20 + 10 Das Feuer und das Wort, gibt Gloria Muñoz einen Zwischenbericht der bisherigen Geschichte des zapatistischen Befreiungsheeres EZLN. Zum einen beschreibt sie in diesem in chronologischer Form viele wichtige Aktivitäten und Erfolge, an denen die Zapatisten seit ihrer Erhebung 1994 beteiligt waren. Auf der anderen Seite kommen auch EZLN-Mitglieder selbst zu Wort, die durch ihre Erzählungen ein intimes Bild der am Befreiungsprojekt mitwirkenden Akteure zeichnen. 20 Jahre EZLN und zehn Jahre Aufstand werden so in Muñoz´ Buch kompakt zusammengefasst.

Klaus Pedersen

Aus meiner Sicht ist dies der vollständigste Bericht der öffentlichen Aktivitäten der EZLN“, schrieb Subcomandante Marcos in seiner Botschaft anlässlich der Vorstellung des Buches EZLN 20 + 10 Das Feuer und das Wort von Gloria Muñoz am 10. November 2003 in Mexiko und meinte damit dessen Herzstück, den Mittelteil – die Chronologie. Er selbst hat das Vorwort und ein 30 Seiten langes Interview am Ende des Buches beigesteuert. „Sie schickten mir die Fragen in schriftlicher Form zu, und ich musste vor einem kleinen Kassettenrekorder antworten. Ich verwechselte immer die ‚Rückwärtstaste’ mit ‚Aufnahme’, und so versuchte ich eine Einschätzung der letzten zehn Jahre zu machen, und auch noch über andere Dinge zu reflektieren.“
Im Kernteil des Buches, der EZLN-Chronologie, beschreibt Muñoz sehr klar zehn Jahre Kampf und Widerstand. Nüchtern ist hier die Darstellung, denn das Spektakuläre ist das zapatistische Projekt an sich – sowohl sein Wandel in der Kontinuität (von Marcos „die Prinzipientreue einer Bewegung“ genannt), als auch die Tatsache seines Fortbestandes und Gedeihens – aller Aufstandsbekämpfung zum Trotz, was vor allem seiner tiefen Verwurzelung in der indigenen Bevölkerung von Chiapas, aber auch der nationalen und internationalen Solidarität zu verdanken ist. Die Chronologie hat nur knapp halb so viele Seiten wie die Zapatista Chronicles von John Ross (die darüber hinaus im Frühjahr 2000 enden). Trotzdem stellt Glorias schlanke Chronologie den Wälzer von Ross in den Schatten.
Komplettiert wird das Buch durch „ein paar Puzzleteile“, die am Anfang des Buches stehen. Gloria Muñoz sammelte dafür die Aussagen einiger EZLN-Combatantes, die mehr als 19 Jahre im zapatistischen Kampf zugebracht haben und zum ersten Mal ihr Herz über diese Jahre des Schweigens öffneten und ihre Erinnerungen preisgaben. Unter anderem wird in diesem Rahmen des Anführers mit dem zweithöchsten militärischen Rang, Subcomandante Pedro, gedacht, der am Morgen des 1. Januars 1994 die Einnahme von sieben Dörfern leitete und beim Kampf um Las Margaritas, von mehreren Kugeln getroffen, fiel. Wir erfahren, dass er den Indígena-Gruppen Tojolabales und Tzeltales gut bekannt war, dass er Alas (filterlose mexikanische Zigaretten) rauchte, und dass er bei den EZLN-KämpferInnen beliebt war, weil er ihnen wichtige Anliegen sehr gut erklären konnte. Die Erinnerungen sind ein Teil des langsamen Enthüllungsprozesses der intimen Geschichte der EZLN.

Der Stoff des Gobelin-Spiegels
Vor allem durch die eindrucksvolle Auswahl von Zitaten gelingt Gloria Muñoz die konzentrierte Darstellung der Geschehnisse. Diese hat sie aus den zahlreichen EZLN-Kommuniques – „Spiegelstückchen“ (Marcos), die sie dann durch den Stoff ihrer eigenen Worte zu einem zapatistischen Gobelin verwebte. „Das Buch, …, ist ein Gobelin-Spiegel, aber als Buch verkleidet. Man kann ihn nicht an die Schranktür hängen, aber man kann sich ihm nähern und uns suchen und sich selbst suchen“, schreibt Marcos. Und so fühlt man sich beim Lesen der zapatistischen Bilanz der mexikanischen Präsidentschaftswahlen des Jahres 2000 schnell in unseren Breiten zurückversetzt: „Der gemeinsame Nenner dieser Wahlkampagnen war die tiefe Verachtung des Bürgers. Die (…)Wahlkampagnen, die mehr einem Werbefeldzug glichen, begriffen den Bürger als einen vergesslichen Kunden, der bar bezahlt, der nicht viel Fragen stellt und keine Garantien fordert. Stur in eine andere Richtung laufend als die Bürger, ertrug die politische Klasse Mexikos die Kluft zwischen ihren Angeboten und den Erwartungen der Menschen.“
Die Parallelen zu den eigenen Verhältnissen sind jedoch nur ein Aspekt. Die kompakte Darstellung der Geschichte des zapatistischen Aufstandes selbst hält auf der anderen Seite auch für jene Überraschungen parat, die glauben, das Geschehen einigermaßen aufmerksam verfolgt zu haben. JedeR dieser Kundigen weiß, dass sich heute in Chiapas 60-70.000 Soldaten der mexikanischen Armee tummeln. Das Ausmaß der Militarisierung wird aber erst durch den im Buch aufgebauten Kontrast richtig fassbar: 1994, im Jahr der bewaffneten Auseinandersetzungen betrug die Zahl der Soldaten nur 17.000, und die Regierung hatte nach Vereinbarung des Waffenstillstandes in jenem Jahr die Militarisierung auf vier Landkreise eingeschränkt: San Cristóbal de las Casas, Las Margaritas, Ocosingo und Altamirano. Bis zum Jahr 1999 war die Truppenstärke auf die heute noch gültige Zahl erhöht worden und der Aktionsradius der mexikanischen Armee wurde auf 66 der 111 Landkreise ausgedehnt. Im Gebiet der Selva Lacandona mit ihren knapp 300.000 Menschen kommt auf neun Einwohner je ein Soldat.

Ein potentes Nachschlagewerk
Die zusammenhängende Darstellung der Entwicklungen des Konflikts macht das Buch zu einer äußerst wertvollen Quelle. Prägnant werden die unterschiedlichen Mobilisierungen der Zapatistas beschrieben, angefangen von den allerersten Gesprächen mit der Regierung über die Verhandlungen in San Andrés, in die von den Zapatisten eine große Anzahl von zivilen Ratgebern aus ganz Mexiko miteinbezogen wurden. Die encuentros („Treffen“) mit der nationalen und internationalen Zivilgesellschaft – wobei bei den Zapatistas der Begriff Zivilgesellschaft eine andere Bedeutung hat als in seiner instrumentalisierten Bedeutung des westlichen Politikjargons – werden in dem Buch ebenso gewürdigt wie die zwei großen, landesweiten consultas, die die EZLN – neben vielen kleinen consultas – zu wichtigen Fragen durchführte. Der „Marsch der Farbe der Erde“, bei der eine Karawane von mehreren tausend Angehörigen der Zivilgesellschaft aus dem In- und Ausland im Frühjahr 2001 die Generalkommandantur der EZLN nach Mexiko-Stadt begleitete, wird authentisch nachgezeichnet. Weitere Ereignisse – Perioden des zapatistischen Schweigens eingeschlossen – bis hin zur Gründung der caracoles, der zapatistischen Regionalverwaltungen in Chiapas im August 2003, werden zudem erwähnt.
Wer sich dem Phänomen des zapatistischen Aufstandes erstmalig nähert, findet in dem Buch eine verbindliche Einstiegslektüre, einen verlässlichen Kompass, mit dessen Hilfe die Navigation durch die Vielfalt der Ereignisse leicht fällt.
Wer die Rebellion seit vielen Jahren solidarisch begleitet, wird es genießen, die Zeit „in einem Guss“ Revue passieren zu lassen.

Gloria Muñoz Ramírez: EZLN 20 + 10 Das Feuer und das Wort. Unrast-Verlag, Münster 2004, 18 Euro

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