Film | Nummer 420 - Juni 2009

„Colifata integriert die Ausgeschlossenen der Gesellschaft“

Interview mit Carlos Larrondo, Regisseur des Dokumentarfilms LT 22 Radio La Colifata

Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit dem argentinischen Filmemacher Carlos Larrondo, der das Projekt Radio La Colifata elf Jahre lang mit seiner Kamera begleitete.

Interview: Rebecca Aschenberg, Olga Burkert

Wie sind die Reaktionen in der argentinischen Gesellschaft auf ein Radio-Projekt, das von psychisch Kranken gemacht wird?
Viele Leute, die diese Probleme vorher komplett ignorierten, werden sich nach dem Kontakt mit Radio La Colifata darüber bewusst. Andere verkennen schlichtweg, dass psychische Krankheiten der menschlichen Konstitution inhärent sind. Es gibt ja sehr viele Menschen, die irgendeine Art von psychischer „Störung“ haben oder die im Ungleichgewicht mit sich selbst sind. Die meisten vergessen das aber leicht. Das Motto von La Colifata ist „romper muros“. Und genau darum geht es: Mauern niederreißen. Denn wenn es Dir schlecht geht, schließt Du dich selbst ein, gleichzeitig schließt auch die Gesellschaft Dich aus oder weg. Die Klinik ist wie ein Spiegel der Misere der Gesellschaft.

Auch über die Behandlung mit, oder wie die PatientInnen selber sagen „Ruhigstellung“ durch, Psychopharmaka reden sie in dem Dokumentarfilm sehr offen.
Die Tabletten sind ein Problem, denn sie helfen nur kurzfristig. Sie können den Schmerz oder eine schlechte Stimmung betäuben. Aber sie heilen nicht, bekämpfen nicht die Ursachen. Das Radio hingegen geht an die Wurzeln, die Ursachen der Probleme. Es öffnet den Menschen die Brust.

Ist das Ihrer Meinung nach die wichtigste Funktion von Radio La Colifata?
Die wichtigste Funktion ist, die Subjektivität und die Persönlichkeit eines jeden einzelnen wiederherzustellen und zu stärken. Es geht darum, die Ansichten der RadiomacherInnen und das, was sie zu sagen haben, zu „retten“ – ganz egal, was es ist. Das Mikrophon, die Gruppe und die Radioübertragungen helfen dabei, zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen. Die Personen beginnen, sich nützlich zu fühlen.

Gibt es spezielle Teilnahmebedingungen für die PatientInnen oder ist das Radio offen für alle?
Das Radio ist offen. Es hat eine therapeutische Funktion und im Laufe der Jahre habe ich beobachtet, dass alle möglichen Leute bei dem Projekt mitmachen. Es handelt sich nicht nur um Patienten der Borda-Klinik, sondern es gibt auch Externe, die mitmachen. Beispielsweise Estelita, die 16 Jahre lang auf der Straße lebte, irgendwann zu La Colifata stieß und dort als Interviewerin mitmachte. Die Hauptaufgabe des Radios ist, diejenigen, die ausgeschlossen sind, zu integrieren. So werden auch Leute von außerhalb darauf aufmerksam gemacht, dass es marginalisierte Menschen gibt, die nicht einfach unnütz sind. Auch wenn sie vielleicht nicht „produktiv“ für die Gesellschaft erscheinen mögen, heißt das noch lange nicht, dass sie zu nichts nutze sind. Sie leisten eben andere Beiträge. Und das ist genau das, was Radio La Colifata uns lehrt.

Wie entsteht die wöchentliche Programmgestaltung der Radiosendungen? Gibt es Vorgaben von den PsychiaterInnen oder konzipieren die PatientInnen alles alleine?
Nein, jeder Patient entwirft sein Programm und beginnt, es jeden Samstag weiterzuentwickeln. Es wird auf einer Tafel [im Garten der Klinik; Anm. d. Red.] angeschrieben und für eine bestimmte Uhrzeit in der Sendung eingeplant. Das Herumreichen des Mikrophons und die abwechselnden Beiträge schaffen eine gewisse Struktur, um das totale Chaos zu vermeiden. Schließlich geht es auch darum, die Sprache der Patienten zu strukturieren, Gedanken zu sortieren und die Welt, in der die colifatos leben, zu ordnen. Die Radiosendung wird dabei als Therapie und als Hilfe für den Patienten verstanden. PsychologInnen sind während der Sendung anwesend und helfen dabei.

Fast alle Protagonisten im Film sind Männer und Frauen spielen nur eine untergeordnete Rolle. Warum?
Das kommt ganz einfach daher, dass die Klinik José T. Borda nur für Männer ist.

Letztes Jahr wollte der Bürgermeister von Buenos Aires, Mauricio Macri, das Borda schließen, um das Gelände anderweitig zu nutzen. Von den Angestellten und auch den PatientInnen gab es heftige Kritik. Was ist der aktuelle Stand in diesem Konflikt?
Ich glaube, dass das Projekt [von Macri; Anm. d. Red.] weiterhin besteht. Letztes Jahr kam es deshalb zu Demonstrationen. Das Hauptproblem ist, dass die Vorschläge der Stadtregierung nicht auf die wahren Bedürfnisse der Betroffenen eingehen und dass eine umfassende Reform im Gesundheitswesen vonnöten wäre. Es geht ganz einfach um Immobilienspekulation – Macri interessiert nur der lukrative Boden des Geländes. Denn die Kliniken liegen in unmittelbarer Nähe des Zentrums von Buenos Aires. Pro Jahr werden etwa eine Million Menschen im Borda behandelt, über 1.000 Menschen leben dort. Diese Menschen haben keinen anderen Ort, wo sie hingehen könnten. Im Fall einer Schließung würden sie auf der Straße landen und sterben.

Die colifatos kritisieren in dem Film vehement die Institution der psychiatrischen Klinik und nun demonstrieren sie für deren Erhalt – ist das nicht widersprüchlich?
Die Kritik an der Institution an sich bleibt erhalten, sie fordern eine generelle Reform des Gesundheitswesens und damit der psychiatrischen Kliniken. Aber Macris Vorhaben, die Kliniken einfach zu schließen, ohne eine Alternative für die PatientInnen, lehnen sie ab.

KASTEN:

Radio La Colifata und Carlos Larrondo
Das Projekt und Therapieangebot Radio La Colifata in der psychiatrischen Klinik José T. Borda wurde 1991 von dem Psychologen Alfredo Olivera gegründet. Seitdem erstellen jeden Samstag Patienten des Borda sowie Patientinnen aus der angrenzenden Frauenklinik und BesucherInnen eine sechs- bis siebenstündige Radiosendung. Unter der Woche werden dann kleine Teile aus der Samstagssendung herausgeschnitten und an unterschiedliche kooperierende Radiosender geschickt, die diese in ihr Programm aufnehmen. Inzwischen können die Sendungen auch im Internet unter www.lacolifata.org via Skype live gehört werden. So hat Radio La Colifata einen hohen Bekanntheitsgrad in Argentinien und auch weltweit erreicht. Die PatientInnen in Argentinien nennen sich selbst colifatos (colifato ist im Lunfardo, dem umgangssprachlichen argentinischen Spanisch, ein Synonym für loco, also verrückt) – daher rührt auch der Name des Projekts. Mittlerweile gibt es zahlreiche „Nachahmer-Projekte“ in anderen Ländern. Der argentinische Filmemacher Carlos Larrondo hat das Radioprojekt von 1996 bis 2007 mit der Kamera begleitet und hatte am Ende 300 Stunden Material. Sein 2007 fertiggestellter Langfilm LT 22 Radio La Colifata ist mit deutschen Untertiteln seit dem 5. Juni 2009 als DVD erhältlich.

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