Kolumbien | Nummer 306 - Dezember 1999

Damoklesschwert ohne genaue Bestimmung

Die Friedensbewegung NO MAS läßt Fragen offen, während die Konfliktparteien am Verhandlungstisch ihre eigenen Antworten suchen

Ende Oktober machte überraschend eine neue Friedensbewegung in Kolumbien von sich reden. Mehrere Millionen Menschen demonstrierten unter der Parole “No Más” (Nie wieder) in allen Großstädten des Landes gegen den Kriegszustand und erregten damit internationales Aufsehen. Was aus der Bewegung in Zukunft wird, ist völlig offen, da die politische Ausrichtung schwer zu definieren ist. Parallel dazu ist nicht nur der Verhandlungsmarathon mit der Guerilla-Organisation FARC in die nächste Runde gegangen. Auch die kleinere ELN hat neuerdings Gespräche mit Regierungsvertretern begonnen.

Raul Zelik

Die Bedeutung der NO MAS-Demonstrationen ist vorsichtig zu bewerten. Zwar gelang es der Bewegung, an die zehn Millionen Menschen auf die Straßen zu bringen, doch die Botschaft des Protesttages blieb undeutlich. Während sich NO MAS anderswo in Lateinamerika als antimilitaristische Opposition gegen die Straflosigkeit versteht, ist die Bewegung in Kolumbien ein merkwürdiges Hybrid aus Basisprotesten und einer Inszenierung der großen oligarchisch kontrollierten Medien.
Die Entstehung der Bewegung ist tatsächlich bizarr. Sie wurde unter anderem von der Anti-Entführungsorganisation País Libre ins Leben gerufen, in der die Santos-Familie das Sagen hat. Dieser Clan gehört zu den traditionellen Machteliten Kolumbiens, spielt eine zentrale Rolle in der Liberalen Partei und ist Eigentümer eines der größten Wirtschaftskonsortien des Landes sowie der konservativen Tageszeitung El Tiempo. Aber auch andere regierungstreue Medien feierten das NO MAS und hoben in der Berichterstattung hervor, daß die Bewegung vorrangig ein Ende der Entführungen und Schutzgelderpressungen forderte.
Diese oft langwierigen, aber meist unblutigen Entführungen sind für die Angehörigen der Oberschicht die spürbarste Seite des Bürgerkriegs. Daß bei den NO MAS-Protesten besonders die Entführungen, aber vergleichsweise wenig die Massenvertreibungen, Massaker und Bombardierungen angeprangert wurden, ist durchaus als politische Positionierung zu begreifen. Wenn die Bewegung – wie vielerorts geschehen – die Einstellung der Kampfhandlungen fordert, werden Regierung, Unternehmerverbände und Großgrundbesitzer kaum etwas einzuwenden haben. Der kolumbianische Staat spekuliert auf einen Friedensschluß ohne soziale Veränderungen, bei dem er sich selbst als Mittler zwischen den Extremen profilieren kann.
Das macht sogar aus der Sicht derjenigen Sinn, die die Paramilitärs finanzieren. Immerhin wurden die Todesschwadrone in Kolumbien Anfang der achtziger Jahren nur deswegen ins Leben gerufen, um die sozialen Protestbewegungen zu vernichten. Nun, da die Gewerkschaften geschwächt und Tausende von Oppositionellen ermordet wurden, könnte auch der rechteste Flügel der Landoligarchie mit einer Demobilisierung der Paramilitärs leben, solange die Besitzverhältnisse im Land unangetastet bleiben.
Allerdings kann sich die Dynamik der Friedensbewegung auch schnell gegen die Mächtigen im Land wenden. “Die NO MAS-Bewegung ist wie ein Damoklesschwert, das über uns genauso wie über der Regierung schwebt”, äußerte Domingo Gonzalez, einer der Sprecher der ELN, bei einem Telefoninterview. “Es ist deutlich geworden, daß die Leute den Krieg satt haben. Völlig offen ist jedoch, welche Art von Frieden sie wollen. In Anbetracht der schweren Wirtschaftskrise und wachsender Arbeitslosigkeit kann sich die Bewegung der Kontrolle der großen Medien auch schnell wieder entziehen.” Das NO MAS könnte dann als “Nie wieder Staatsmassaker, Entlassungen und soziale Ungerechtigkeit” interpretiert werden, womit sich die kolumbianische Oberschicht unversehends selbst in der Zwickmühle manövriert hätte.

Weniger medienwirksam

Schon wenige Tage nach den städtischen Anti-Kriegsdemonstrationen zeigte sich in den ländlichen Regionen Kolumbiens, wie sich dort der soziale Protest äußert. Im Südwesten protestierten Zehntausende von BäuerInnen und Indígenas mit Straßensperren und Rathausbesetzungen gegen die permanente Nichteinhaltung von Verträgen durch den Staat. Kein einziges der in den letzten 15 Jahren mit den sozialen Bewegungen geschlossenen Abkommen sei eingehalten worden, erklärten die protestierenden BäuerInnen. Angekündigte Sozialprogramme seien auf dem Papier geblieben, Entwicklungsprojekte zugunsten der armen Bevölkerungsmehrheit eine Ausnahme.
Als Folge der Proteste ging in den Provinzhauptstädten Popayán und Pasto gar nichts mehr. Nach zehn Tagen Blockade war in Popayán das Benzin alle, die Lebensmittel wurden knapp. Verschärft wurde der Konflikt zudem durch Streitereien zwischen dem Innenminister Néstor Humberto Martínez und dem Gouverneur des Departements Cauca, César Negret. Innenminister Martínez, der wieder einmal Polizei und Armee gegen die Proteste mobilisierte, warf Negret vor, auf die Proteste nicht angemessen reagiert zu haben. Außerdem weigerte sich der Innenminister, an direkten Gesprächen mit der Protestbewegung teilzunehmen, die unter anderem auch vom Erzbistum Popayán und diversen Gremien unterstützt wurde.
Noch viel schärfer verliefen die Auseinandersetzungen im 300 Kilometer nördlich von Bogotá gelegenen Departement Bolívar, wo Paramilitärs und Armee seit nun inzwischen 20 Monaten eine Großoffensive gegen Bauernbewegungen und Guerilla durchführen. Das Ziel dieser Operationen ist es, die Gebirgsregion Serranía San Lucas, in der 80 Prozent der kolumbianischen Goldvorkommen vermutet werden, wieder unter Kontrolle zu bekommen. Verschiedene Quellen sprechen von 3.000 vertriebenen BäuerInnen (siehe Kasten). Besonders schwerwiegend sind die Vorfälle vor dem Hintergrund, daß die Pastrana-Regierung nach großen Bauerndemonstrationen erst im Oktober 1998 ein Abkommen mit der dortigen Landbevölkerung geschlossen hatte. Damals verpflichtete sich die Regierung, den BäuerInnen Schutz vor den Paramilitärs zu gewähren und soziale Hilfsmaßnahmen zu leisten. Auch dieser Vertrag wurde nie in die Tat umgesetzt.

Gespräche zwischen Guerilla und Regierung

Positiv ist zu werten, daß parallel zu den Demonstrationen die Kontakte zwischen Regierung und den beiden Guerillaorganisationen wieder enger geworden sind. Nach monatelangem Stillstand nahm eine gemischte Delegation von Regierungsvertretern, Unternehmern und Politikern Ende Oktober Verhandlungen mit der größten Guerilla des Landes, den KP-nahen Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) auf. Dabei soll zunächst über die Einhaltung der Genfer Konventionen, soziale Reformen, einen Gefangenenaustausch und Demokratisierungsmaßnahmen diskutiert werden. Auch spricht die Regierung nicht mehr davon, daß die FARC die von den Armee geräumten 40.000 Quadratkilometer um die Verhandlungsorte in absehbarer Zeit wieder zurückgeben müsse, wie dies noch vor einigen Monaten anklang.
Auch der Verhandlungsprozess mit der Nationalen Befreiungsarmee (ELN), die sich dem Guevarismus und der Befreiungstheologie verpflichtet fühlt, ist wieder in Gang gekommen. Mitte 1998 hatte die ELN in Deutschland mit zahlreichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus Kolumbien die Durchführung einer Nationalkonvention vereinbart. Für diese mehrmonatige Konferenz sollten alle gesellschaftlichen Sektoren (darunter vor allem Basisorganisationen) in einem der Guerillagebiete zusammenkommen, um dort über mögliche Transformationen der kolumbianischen Gesellschaft zu debattieren.
Auf Druck der USA boykottierte die Regierung Pastrana bisher diese Initiative. Die USA wollen um jeden Preis verhindern, daß der ELN (so wie bereits den FARC) eine Art “autonomes Gebiet” innerhalb Kolumbiens zugebilligt wird. Man werde, so der Präsident noch vor wenigen Wochen, der Guerilla keine weiteren Gebiete überlassen. Nachdem aber die ELN mit mehreren spektakulären Entführungsaktionen die Interessen der Oberschicht direkt berührt hatte, lenkte Pastrana jetzt ein. Seit September führten Regierungsvertreter mit den ELN-Kommandanten Pablo Beltrán und Ramiro Vargas in Venezuela und Kuba mehrere Gesprächsrunden, die fortgesetzt werden sollen. Angeblich sind sogar schon Vorvereinbarungen für die Abhaltung der Nationalkonvention getroffen worden. Pastrana sprach gegenüber der kolumbianischen Presse von einem Beginn vor der Jahreswende, während die ELN Zurückhaltung üben will.

KASTEN

Dokumentation eines fast alltäglichen Vorgangs in Kolumbien

Die vertriebenen Bauern des Magdalena Medio senden SOS

„Seit dem 20. Oktober findet eine paramilitärische Offensive gegen mehr als 17 Ortschaften der Munizipien des Departements Bolívar statt. Im Rahmen dieser Aktionen, die gegen die Menschenrechte und das internationale Kriegsrecht verstoßen, wurden mehrere Häuser niedergebrannt und die Ortschaft Paraíso vollständig zerstört. Dort wurden drei Menschen getötet. Die Gesamtzahl der Toten beläuft sich auf 15 Personen. In den vergangenen Stunden wurde in der Umgebung von Paraíso ein Grab mit sechs bisher nicht identifizierten Leichen gefunden. Nach Aussagen der Vertriebenen finden in dem Gebiet im Augenblick Armeeoperationen statt, während in der gleichen Zone etwa 400 Paramilitärs die Versorgungswege für Lebensmittel und Medikamente unterbrochen haben.
Der Terror hat dazu geführt, daß sich etwa 3.000 Personen in die anliegenden Wälder geflüchtet haben und nun in Richtung der Munizipien Cantagallo (Departement Antioquia) unterwegs sind. Von diesen Vertriebenen sind 1.480 Kinder und 820 Frauen. Die Situation der Vertriebenen ist verzweifelt, da sie über keine Nahrungsmittel, Medikamente, Kleider, Decken und Regenplanen verfügen. Die Vertriebenen werden teilweise durch die Bauernassoziation des Valle de Rio Cimitarra versorgt, aber aufgrund der knappen Mittel dieser Organisation ist die Lage prekär.“
Wie schon in früheren Kommuniques bekräftigen wir unsere Forderungen an den kolumbianischen Staat, die Internationale Gemeinschaft und die nationalen und internationalen humanitären Organisationen:
-Verbreiten Sie Informationen darüber, was in weiten Teilen des Magdalena Medio geschieht
-Setzen Sie Mechanismen in Gang, damit derartige Ereignisse nicht weiter zubeklagen sind
-Üben Sie politischen Druck auf den kolumbianischen Staat aus, damit dieser das nach den Bauernprotesten am 4. Oktober 1998 von Präsident Andrés Pastrana unterzeichnete Abkommen einhält
-Unterstützen Sie die 3.000 Vertriebenen mit Nahrungsmitteln und Medikamenten.

Über zehn kolumnianische Basisorganisationen haben diesen Aufruf bisher unterschrieben.
Wir bitten die nationale und internationale Gemeinschaft, den kolumbianischen Präsidenten mit Briefen aufzufordern, das Recht auf Leben zu respektieren und Verantwortliche zu bestrafen:

ANDRES PASTRANA ARANGO, Presidente de la República, Carrera 8 # 7-26, Palacio de Narino, Santa Fé de Bogotá. Tel: 5629300 ext. 3550 (571) 284 33 00
Fax (571) 286 74 34 – 286 68 42 – 284 21 86. E-mail: pastrana@presidencia.gov.co

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