Nummer 202 - April 1991 | Uruguay

Das “Barrio Sur”

Ein Teil der uruguayischen Kultur, der nicht sterben darf

Eingequetscht zwischen dem Meer und dem Zentrum von Montevideo findet sich ein Viertel von niedrigen Häusern im Kolonialstil. Hier lebten fast alle Einwanderer, die aus Europa nach Uruguay kamen, und auch die aus der Sklaverei befreiten Schwarzen. Das “Barrio Sur” ist das Fundament der kulturellen Mischung, die heute Uruguay charakterisiert.

Kareen Herzfeld Bargas, Bert Hoffmann

Bis zur Unabhängigkeitserklärung Uruguays 1830 war das auf einer Halbinsel liegende Montevideo durch eine Stadtmauer gegen feindliche Angriffe geschützt, aber auch in sei­ner flächenmäßigen Ausdehnung eng begrenzt. Das erste Stadtviertel, das nach dem Abbruch dieser Mauern entstand, war das Barrio Sur, das “Stadtviertel Süden”.
Die Bewohner des Barrio Sur waren im allgemeinen Arbeiter unter­schiedlichster Herkunft: Spanier, Ita­liener, Schwarze und auch in die Stadt gezogene Bewohner aus dem Landesinneren. Später ließen sich hier auch Einwanderer jüdischer Abstammung nieder und fügten der farbigen Welt des Barrio Sur eine neue Schattierung hinzu.

“Die Candombe genannten Tänze mit dem Einsatz von Trommeln sind innerhalb der Stadt verboten und nur an Feiertagen direkt am Meer südlich der Stadt erlaubt; um 9 Uhr abends müssen sie beendet sein.” (Polizeierlaß vom 28.6.1839)

Im Barrio Sur entstand die Tradition des uruguayischen Kar­nevals. Die Gemeinschaften der Schwarzen bildeten die kon­kurrierenden Karnevalsgrup­pen, die mit dem lauten Rhythmus ihrer Trommeln die Straßen und die Nächte bevöl­kerten.
Der Candombe ist eine Mischung aus Weinen und Hei­terkeit, der in seinen Noten etwas von dem Schmerz beinhaltet, den die Ketten der Ver­gangenheit hinterließen, und ein wenig der Heiterkeit und Unbefangenheit, die das heu­tige Lächeln der Freiheit der Schwarzen erleuchten.
Die Wohnform des einfachen Volkes im Barrio Sur waren die “Conventillos” genannten großen Mietshäuser, in denen Bad, Küche und Wasserstelle gemeinsam beutzt wurden. Viele Frauen im Barrio Sur waren Wäscherinnen und wuschen morgens in den Innenhöfen des Conventillo die Wäsche der reichen Familien von Montevideo. Die von Wand zu Wand gespannten Wäscheleinen in den Patios wurden so zu einem typischen Bild der Conventillos.
Die ersten Conventillos wurden von Spekulanten erbaut, die allein an möglichst hohem Profit interessiert waren und sich um die hygienischen Bedingungen in den Häusern nicht kümmerten. Schwere Erkrankungen der Bewohner waren oft die Folge. Erst 1865 wurde die erste Vorschrift zu öffentlicher Hygiene erlassen, 1911 sollten gar alle Conventillos per Gesetz geschlossen werden, was jedoch scheiterte.
Das Gasometer, das am Rande des Barrio Sur erbaut wurde, war auch einer der Gründe, warum sich hier vor allem arme Leute niederließen. Man hatte damals Angst vor den giftigen Dämpfen dieser Anlage.
1885 entstand das “Conventillo de Cuareim”, ein für die damalige Zeit enormer Bau, der den Beinamen “Medio Mundo” erhielt, weil er so groß war, daß hier die “halbe Welt” unter­kam. In den 52 Räumen des Medio Mundo lebten über 150 Menschen, überwiegend Schwarze. Das Medio Mundo wurde zum “Tempel des Candombe” und hatte seine eigene Karnevalsgruppe, die “Morenada”.
Ein Gesetz der Militärdiktatur vom 8. Oktober 1979 gab 57 historische Gebäude Montevideos zum Abriß frei, darunter auch das Medio Mundo. Die Bewohner wurden auf die Straße gesetzt und durften nur das Not­wendigste mitnehmen, die Betten, einen Tisch, vier Stühle, einen Schrank. Man verbot ihnen, die Trommeln mitzunehmen. So wollte die Diktatur auch noch dem Barrio Sur die Seele nehmen.
Während der Militärdiktatur wurden direkt an der Rambla, der Küsten­straße, Appartement-Hochhäuser er­richtet, die den meist ein- oder zwei­geschössigen Wohnhäusern des alten Barrio Sur den Blick auf’s Wasser ver­sperren.
Mit den modernen Wohntürmen kamen aber vor allem auch Leute aus einer anderen Schicht: Sie sind relativ wohlhabend und meiden den Kontakt zu den Bewohnern des Barrio Sur so weit es geht. Sie wollen nicht, daß ihre Kinder mit denen des Viertels spielen, die Kultur des Barrio Sur, die Trommeln und der Candombe, sind ihnen fremd.

“Vorher war es anders hier im Barrio – seit die Leute aus den Appartements hierhergekommen sind, hat sich alles verändert.”

“Früher bin ich am Wochenende immer zu den Sportpläzen an der Rambla ‘runtergegangen, da gab es viele. Für Kinder, für Erwachsene, wir haben alle gespielt. Jetzt gibt es dort nur die Hoch­häuser, und nur ein winziger Sportplatz ist übrig, und die Leute kommen nicht mehr…”

“Jetzt ist alles anders, alles ist moder­ner… Es gibt so viele hohe Häuser, daß man nicht mehr die Sonne sehen kann!”

Seit Ende 1989 das Linksbündnis Frente Amplio mit Tabaré Vázquez den Bürgermeister der uruguayi­schen Hauptstadt stellt, hat sich auch im Barrio Sur einiges verändert. Im Juli vergangenen Jahres wurde der älteste Teil des Viertels, vor allem die zentrale Straße “Carlos Gardel” und die meisten ihrer Querstraßen zum Patrimonio Cultural, zum “schützenswerten Kulturgut” erklärt: “Alle Veränderungen, Erweiterun­gen, Sanierungen oder Neubauten mssen sich in die vorherrschenden Charak­teristika der Straße oder des Häuser­blocks einfügen.”
Die Absicht ist das Viertel, seine Straßen und seine Häuser zu renovie­ren, ohne jedoch mit horrenden Mietsteigerungen die dort ansäßigen Bewohner zu vertreiben. Das Geld dazu kommt großteils aus Spanien, an den Projekten und Plänen arbeiten Architekturstudenten der Uni von Montevideo mit. Aber vor allem sol­len die Bewohner bei der Planung ihres Viertels mitmachen, helfen, kri­tisieren, Ideen vorschlagen. Auch die, die das Barrio verlassen mußten, sind eingeladen – letztendlich all jene, die wollen, daß das Barrio Sur das Barrio Sur bleibt.
Ein Projekt: Für die Jugendlichen des Barrio Sur soll die Möglichkeit zu einer Berufsausbildung geschaffen werden. Bei der hohen Arbeitslosig­keit Uruguays und der wirtschaftli­chen Misere ihrer Familien sehen viele keine Perspektive für sich, flüchten sich in Alkohol und Drogen, beginnen zu stehlen oder wandern aus. Nur wenige beenden die Schule oder erlernen gar einen Beruf. So sollen im Barrio selbst Ausbildungs­werkstätten geschaffen werden.
Ein Gebäude dafür ist bereits gefun­den: Das alte “Edificio Talleres”, das auch bei seiner Errich­tung schon für Werkstätten vorgese­hen. Später wurde es als Lagerraum, aber auch als Vorberei­tungsraum für die großen Karnevals­umzüge verwendet. Seit einigen Jah­ren steht es leer. Nun sol­len hier eine Drucke­rei, eine Tischlerei und Werkstät­ten für Schuhe und für Schmuck entstehen – und auch für den traditionellen Trommelbau des Barrio Sur.

Adiós Juventud

Adiós Barrio Sur
El tiempo no pasa en vano
Adiós Barrio Sur la mano
De unos cuantos fue cruel
No les convenció
El borocotó
Un nuevo cemeterio ven
Les parece bien
Adiós a Cuareim…

Adios, Du meine Jugend

Adios Barrio Sur
Die Zeit vergeht nicht ohne Sinn
Adios Barrio Sur, die Hand
Von einigen war grausam
Der Klang der Trommeln
Überzeugte sie nicht
Sie sehen einen neuen Friedhof
Haltet Ihr das für gut
Adios Cuareim

(Aus einem Lied von Jaime Roos)

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