Kunst | Nummer 432 - Juni 2010

Das dritte Auge der Kahlo

Die Frida Kahlo-Retrospektive gibt unbekannte Einblicke in deren Schaffen

Frida Kahlo fertigte sogar dort Selbstbildnisse an, wo man sie überhaupt nicht vermutet. So die These von Helga Prignitz-Poda, der Kuratorin der Frida Kahlo-Retrospektive, die seit Ende April im Martin-Gropius-Bau in Berlin zu sehen ist. In der Ausstellung werden vor allem viele unbekannte Werke aus Kahlos Schaffen gezeigt.

Simone Guski

Die Augen der Medusa sind leer, katzenartig schräggestellt. Das Haar ist umkränzt von Weinranken. Den Sockel, auf dem die Maske steht, umflattert ein Band, das zugleich die Locken bändigt. 1928, mit 21 Jahren, zeichnete Frida Kahlo diese griechische Maske, akkurat und mit feinsten Schattierungen, die kühle steinerne Plastizität wiedergebend. Handelt es sich hier um das erste Selbstbildnis der Malerin?
Fast alle Werke Frida Kahlos sind symbolische Selbstbildnisse, in denen sich die Bildelemente zu Metaphern eines Gesamtkorpus addieren. So auch ihre Dingbilder und natürlich die fotografisch genauen Selbstportraits, hinter denen sich die Künstlerin jedoch gleichzeitig wie hinter einer Maske zu verstecken scheint.
Das Auge ist zentral in ihren Zeichnungen. Es mutiert zum Bildfokus, der diese wechselnden Perspektiven hervorruft. In ihm offenbart sich die mythische Welt der Frida Kahlo. Am Anfang ihrer Künstlerlaufbahn war es das Auge der Medusa, jener frühesten bekannten Zeichnung. Immer wieder malte sie Sonne und Mond mit Augen. In den späteren Jahren zeichnete sie sich selbst mit dem dritten Auge des indischen Gottes Shiva. Die Augen machen sich schließlich völlig selbständig in ihren visionären Zeichnungen, die vor allem Psychogramme einer gewitterartig flackernden Befindlichkeit sind. Eingeschrieben in die Augen sind oft die Zeiger einer Uhr, wie um uns an das Ende zu gemahnen. Die Zeit ist für Frida Kahlo offenbar die Kategorie, die das Wechselspiel zwischen Subjektivität und Objektivität zusammenhält. Mit dramatischem Blick fasst sie den Tod fest ins Auge, furchtlos und zugleich spielerisch.
Eine umfangreiche Retrospektive, die vom 30. April bis zum 9. August im Martin-Gropius-Bau in Berlin zu sehen ist, gibt nun nicht gekannte Einblicke in Werk und Schaffen der mexikanischen Künstlerin (1907-1954). Die Werkschau vereint erstmals die beiden größten privaten Frida Kahlo-Sammlungen. Hinzu kommen wertvolle Leihgaben aus 30 prominenten mexikanischen und 15 US-amerikanischen Privatsammlungen und Museen. Mit circa 150 Gemälden und Zeichnungen ist die Retrospektive die größte Frida Kahlo-Ausstellung, die je in Deutschland gezeigt wurde.
Highlight der Retrospektive sind knapp 90 Zeichnungen Kahlos, die noch nie in der Öffentlichkeit zu sehen waren. Sie stammen zum einen aus dem Frida Kahlo-Schatz des Dolores Olmedo Patiño-Museums, der einstigen Residenz der Gönnerin von Kahlos Mann Diego Rivera. Rivera hatte dieser einst in akuter Finanznot einen Großteil von Kahlos Werk für 300 Dollar verkauft. Der andere Teil der Zeichnungen befand sich im Privatbesitz des Sammlerehepaars Jacques und Natasha Gelman und war selbst in Mexiko über Jahrzehnte hinweg den Frida Kahlo-Begeisterten verborgen geblieben.
Neben diesem künstlerischen Teil der Ausstellung, gibt es außerdem eine Fotoschau, die losgelöst vom Oeuvre der Künstlerin einige biografische Einblicke in das Leben von Frida Kahlo liefern soll. Dieser Teil der Ausstellung wurde von Frida Kahlos Großnichte, Cristina Kahlo, kuratiert und umfasst Fotos der Fotografen Nickolas Muray, Manuel Álvarez Bravo, Guillermo Kahlo und Leo Matiz.
Sehr stille, ernste und kaum bekannte Aufnahmen, auf denen die Malerin sich oft prüfend im Spiegel betrachtet, fertigte bezeichnenderweise eine Frau an, kurz vor Kahlos Tod: Lola Álvarez Bravo, die Ehefrau des später weitaus bekannteren Fotografen. Sie führte die Galería de Arte Contemporáneo, in der Frida Kahlo 1953, im Jahr vor ihrem Tod, ihre einzige Einzelausstellung in Mexiko hatte. Diese unpathetischen, fragenden Bilder zeigen eine ganz andere Person als diejenige, die auf den bekannteren Fotos zu sehen ist.
Dieser pathetischen, selbststilisierten Seite von Frida Kahlo begegnen wir auch in einer kurzen Filmsequenz aus Sergei Michailowitsch Eisensteins Film Frida Kahlo, die ebenfalls in der Ausstellung zu sehen ist. Leider wird der Filmausschnitt ausgerechnet über eine Saaltür projiziert, was für die BetrachterInnen mit etwas Unbequemlichkeit verbunden ist. Dadurch wird der Sequenz innerhalb der Ausstellung eine sekundäre Bedeutung zugewiesen, obwohl es die einzig erhaltenen Filmaufnahmen von Frida Kahlo sind.
Die bedeutendste Entdeckung der übersichtlich nach Genres und Themen angeordneten Ausstellung ist das, soweit wir wissen, letzte von Frida Kahlo gemalte, nunmehr nur noch skizzenhafte Bild „Selbstbildnis inmitten einer Sonnenblume“. Kahlo selber hätte es beinahe zerstört, ein Hausangestellter rettete es jedoch aus dem Müll. Heute befindet es sich in US-amerikanischem Privatbesitz. Das Bild zeigt Kahlos Gesicht mit den typischen Augenbrauen, die Taubenflügeln in einem Flammenkranz aus Blütenblättern gleichen, der auch die glühende Corona eines Himmelskörpers sein könnte. Vegetatives, Kosmisches und Psychisches verschmelzen hier ein letztes Mal miteinander. Beinahe linkisch sitzt die Künstlerin fast in der Mitte des Bildes vor einem Ziegelofen, in dem aschfahle Kokosnüsse übereinander geschichtet sind. Die Augen der Künstlerin sind blind, die Pupillen ausgekratzt, ausgelöscht.
Augenlos ist auch ein anderes, aus frühen Jahren stammendes Bild: ein Holzschnitt, das ein Doppelbildnis zweier Frauen zeigt. Nur die Brauen und eine feine Nasenlinie definieren die ikonenartigen Gesichter. Im Rückblick scheint es, dass dieser Vorläufer des berühmten „Die zwei Fridas“ der späten Jahre uns bereits eine frühe Ahnung vermittelt, dass für Kahlo gerade der Blick nach Innen die Welt bedeutet.

Frida Kahlo Retrospektive Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin // 30. April bis 9. August 2010 // Täglich 10 bis 20 Uhr // Katalog: Prestel Verlag // 256 Seiten // 25 Euro // www.berlinerfestspiele.de

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