Costa Rica | Nummer 270 - Dezember 1996

Das Ende eines Sonderweges

Wie bewältigt Costa Rica die innere Krise?

Viele CostarikanerInnen nehmen die Veränderungen ihrer Alltagssituation seit geraumer Zeit als sich ständig verschärfende Krise wahr, als Krise mit sowohl ökonomischen und sozialen als auch kulturellen und moralischen Dimensionen. Fehlendes Wirtschaftswachstum, Verarmungstendenzen und zunehmende Gewaltkriminalität verdichten sich für viele zum Bild eines allumfassenden Niedergangs, der an die Wurzeln der traditionell demokratischen und auf zivile Konfliktaustragung bedachten costarikanischen Gesellschaft rührt.

Andreas Stamm

Tatsächlich kamen zentrale Sektoren der costarikanischen Wirtschaft in den letzten Jahren durch externe Schocks und hausgemachte Probleme unter Druck. Von besonderer Bedeutung war dabei der Verfall der Kaffeepreise zu Beginn der neunziger Jahre, ausgelöst durch den Zusammenbruch des Internationalen Kaffeeabkommens. Dem Kaffeanbau kommt aufgrund der langen Anbautradition und seiner breiten sozio-ökonomischen Basis eine entscheidende Rolle in der costarikanischen Gesellschaft zu. In den Nachkriegsjahrzehnten wurde die Kaffeproduktion kontinuierlich ausgebaut, es entstanden viele ganzjährige und saisonale Beschäftigungsmöglichkeiten und Einkommensquellen. Der Preisverfall bei gleichzeitigem Anstieg der Produktionskosten brachte viele kleinbäuerlicher Erzeuger in eine existentielle Krise. Zeitgleich reduzierte die EU durch ihre Quotenpolitik die Ausfuhrmöglichkeiten für costarikanische Bananen, was nicht nur die im Land agierenden transnationalen Konzerne sondern in besonderem Maße die nationalen Erzeuger in Schwierigkeiten brachte. Kaum sind die offenen Krisenerscheinungen in diesen wichtigen Segmenten des Agrarexports halbwegs überwunden, zeigen sich in jüngster Zeit Krankheitsymptome in Industrie und Handel in Form gehäufter Firmenpleiten und der Schliessung von Produktionsstätten internationaler Firmen. Auch der internationale Tourismus als neuer Hoffnungsträger beginnt, den CostarikanerInnen Kopfzerbrechen zu bereiten: Nach mehreren Jahren mit zweistelligen Zuwachsraten bei den Touristenzahlen gibt es 1995/96 Stagnation in wichtigen Marktsegmenten.
Zu diesen eher extern verursachten Krisenerscheinungen kommen Probleme hinzu, die vor allem durch interne politische Entscheidungen selbst zu verantworten sind. So verfolgt die amtierende Regierung Figueres derzeit eine Austeritätspolitik mit dem Ziel, die über viele Jahre angehäufte interne Staatsverschuldung abzubauen. Rückgang staatlicher Ausgaben und Reduzierung der öffentlichen Beschäftigung sowie hohe Konsumsteuern (bei nicht-essentiellen Gütern und Diensten liegen diese derzeit bei 25 Prozent) wirken notwendigerweise als Konjunkturbremse. Zudem liegen auch im privatwirtschaftlichen Bereich die Lohnzuwächse unterhalb der Inflation. Die hohen Kreditzinsen (derzeit bei 24 Prozent) verhindern private Investitionen, die das Wirtschaftswachstum ankurbeln könnten.

Wandel des costarikanischen Entwicklungsmodells?

Steht angesichts der skizzierten ökonomischen Probleme und ihrer unverkennbaren sozialen Folgen das costarikanische Modell eines sozialverträglischen Entwicklungsprozesses vor dem Ende, wie viele CostarikanerInnen befürchten, oder handelt es sich lediglich um vorübergehende Spannungen im notwendigen Umbauprozeß von Wirtschaft und Gesellschaft?
Beide Fragen greifen zu kurz. Einerseits kann kaum Zweifel daran bestehen, daß Costa Rica nach wie vor günstige Vorraussetzungen für einen nachhaltigen und breitenwirksamen Entwicklungsprozeß aufweist. Ein im regionalen Vergleich sehr hoher Grad an Grundbildung, ein starkes Segment von Familienbetrieben in der Landwirtschaft und eine breite Basis von einheimischen und zugewanderten Unternehmern sind einige Faktoren, die für eine hohe Innovations- und Transformationsfähigkeit der costarikansichen Gesellschaft sprechen. Andererseits gehen die erkennbaren und teilweise beschriebenen Krisensymptome über eine schlichte Konjunkturflaute deutlich hinaus. Die derzeitige Krise in Costa Rica kann man auch als Ausdruck einer unvollständigen und inkonsistenten Weltmarktöffnung begreifen. Sie kann nur nur über eine aktive, strukturschaffende Politik und nicht über ein Warten auf das “Wiederanspringen des Konjunkturmotors” überwunden werden.
Costa Rica hat in den 80er Jahren früher als die Nachbarländer auf ein neues, weltmarktoffenes Entwicklungsmodell gesetzt. Damit war das Land über viele Jahre weitgehend erfolgreich. Vor allem das rasche Wirtschaftswachstum “nicht-traditioneller Agrarexporte” wie Blumen, exotische Früchte führte dazu, daß Costa Rica häufig mit dem “lateinamerikanischen Tiger” Chile verglichen wurde. Für die mittelfristige Entwicklungsperspektive besonders wichtig ist dabei, daß eine große Zahl von Klein- und Mittelbetrieben sowie Genossenschaften und Produzentenvereinigungen Träger dieses Exportbooms waren. Allerdings bleiben die Beschäftigungswirkungen der neuen Exportsegmente und das Einbeziehen der kleinbäuerlicher Betriebe unzureichend.

Nachhaltige Weltmarktöffnung

Um die Weltmarktöffnung nachhaltig weiterzuführen und die sozioökonomischen Breiteneffekte zu erhöhen, ist einiges notwendig: Die Unternehmen müssen in die Lage versetzt werden, die Palette an Exportprodukten ständig auszuweiten und dabei auch in anspruchsvollere Märkte vorzudringen. Zunehmend verarbeitete Rohstoffe und Industrieprodukte müssen ausgeführt werden, das bringt ein höheres Maß an Wertschöpfung und Beschäftigng mit sich. Kleine und mittlere Betriebe in die Exportwirtschaft müssen einbezogen werden und ihre Position gegenüber Exportfirmen rechtlich abgesichert werden.
Diese stärkere Weltmarktöffnung hat bislang nur in geringem Maße stattgefunden. In den 80er Jahren reichten die politischen Entscheidungen auf der Makroebene in Verbindung mit guten Ausgangsbedingungen auf der Mikroebene – eine breite unternehmerische Basis, qualifizierte Arbeitsplätze – aus, um ein exportorientiertes Wachstum anzuregen. Demgegenüber liegen die Herausforderungen heute im Aufbau eines angemessenen, institutionellen Umfeldes für eine nachhaltige und sozialverträgliche Weltmarktintegration, was einen Umbau öffentlicher Institutionen und der Hochschulen voraussetzt, aber auch private Akteure (unternehmensbezogene Dienste) einbeziehen muß.
Diesen schwierigen Herausforderungen stellt sich die costarikanische Politik derzeit kaum. Staatlicherseits wird auf die Probleme einzelner Wirtschaftssektoren mit kurzfristigen “Feuerwehrmaßnahmen” regiert, die meist in sich wenig schlüssig wirken. So wurde für einzelne Gütergruppen kurzfristig wieder ein hoher Zollschutz eingeführt, obwohl dieser mittelfristig mit dem GATT/WTO, dessen Mitglied Costa Rica seit einigen Jahren ist, nicht vereinbar ist. Auch zukunftsträchtige Entscheidungen, zum Beispiel im Umweltbereich, sind kaum mit begleitenden Maßnahmen verknüpft und verlieren so an Wirksamkeit.
Insgesamt ist für die Bevölkerung nicht erkennbar, daß die Regierung ein mittelfristig angelegtes politisches Projekt verfolgt, welches die derzeitigen materiellen Opfer rechtfertigen und zu einer Neubelebung des costarikanischen Entwicklungsweges führen könnte. Dies trägt zweifellos dazu bei, daß Zukuftsängste und Verunsicherung in weit stärkerem Maße auftreten, als es durch die wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren gerechtfertigt erscheint.

Literaturhinweis:
Andreas Stamm: Strukturanpassung im Costarikanischen Agrarsektor: Neue Perspektiven für die Entwicklung ländlicher Räume? Lit-Verlag Münster

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