Mexiko | Nummer 406 - April 2008

Das freiheitliche Erbe von 1968

Alicia Andares über den Kampf ihres Vaters vor 40 Jahren und ihren eigenen Streik für würdige Arbeit. Ein Essay über die Bedeutung von 68

„Das höchste Gut ist die Freiheit – sie gilt es zu verteidigen, voller Glauben und Mut…“

Alicia Andares, Übersetzung Katharina Wieland

Ich bin 31 Jahre alt und seit einem Jahr im Streik, zusammen mit meinen compañer@s, KellnerInnen, KöchInnen und BarkeeperInnen. Ohne dass wir es absehen konnten, hat sich für uns in den letzten Monaten eine Theorie bestätigt: dass die Institutionen, die der mexikanische Staat geschaffen hat, um Konflikte zwischen ArbeiterInnen und ArbeitgeberInnen zu schlichten, sich immer auf die Seite der kapitalistischen ArbeitgeberInnen schlagen und sich dabei auf das Arbeitsrecht und die politische Verfassung des Landes berufen können. Das mexikanische Arbeitsrecht gilt als eines der modernsten und demokratischsten überhaupt. Aber es existiert nur auf dem Papier, da die juristische und administrative Praxis in Wirklichkeit immer die kapitalistischen Interessen bevorteilt. Der klassische politische Lösungsansatz für Konflikte zwischen Kapital und Arbeit ist eine korporative, auf Vetternwirtschaft beruhende Gewerkschaftsbewegung. Dieser Ansatz ist im Inneren undemokratisch und fällt immer zu Gunsten der Arbeitgeberinteressen und der staatlichen Institutionen aus. Das hat uns gezeigt, dass nur Selbstorganisation der ArbeiterInnen und eiserner Widerstand dazu beitragen können, bei der Verteidigung des Arbeitsrechts einige wenige Siege zu erringen. Wenn wir uns direkt verteidigen (das heißt, wenn wir ArbeiterInnen das, was uns betrifft, selbst in die Hand nehmen – unsere Arbeitskraft und unser Gewissen und unsere Würde als ArbeiterInnen; ohne Vermittlung oder Vertretung), öffnen sich Perspektiven für Alternativen zur Sklavenarbeit (das heißt zur Lohnarbeit, die ohnehin in unserer Zeit der Neoliberalisierung und Globalisierung sehr prekär geworden ist). Die Alternative, die wir gefunden haben, ist die Selbstverwaltung für eine Arbeit in Würde.
Im Laufe dieses Jahres, in dem wir durch freiwillige Mitarbeit in unserer Café-Streikzentrale gemeinsam Widerstand leisteten, haben wir uns als compañer@s kennen und schätzen gelernt, nicht nur im Sinne von ArbeitskollegInnen, sondern auch als compañer@s im Kampf, im Widerstand. Wir haben uns gegenseitig entdeckt und gemeinsame Ziele für gerechte Arbeit aufgestellt. Wir haben beschlossen, uns zu organisieren, um dann gemeinsam in Selbstverwaltung und Autonomie eine würdige Arbeitsquelle zu schaffen: eine Kooperative, horizontal organisiert, ohne ArbeitgeberInnen, ohne Hierarchien, mittels derer wir einige unsere Grundbedürfnisse decken können (Ernährung, Gesundheit und Wohnung), ohne unserem Körper zu schaden oder unsere Zeit und Freiheit zu beeinträchtigen. Wir wissen, dass es ein langer und dorniger Weg ist, aber wir sind überzeugt, dass wir ihn gehen müssen. Denn die Arbeits- und Überlebensmöglichkeiten, die uns das kapitalistische System bietet, sind unwürdig und nicht lebenswert. Wir haben die gemeinschaftliche Selbstverwaltung, die direkte Aktion, die freien Übereinkünfte und die gegenseitige Unterstützung als geeignete Formen gewählt, um diese Alternative umzusetzen, die uns besser und vor allem auch realisierbar erscheint.
Die Selbstverwaltung darf keine Utopie bleiben, oder ein Wunsch für die Zukunft, von dem wir von vornherein wissen, dass er nicht wahr wird, sondern vielmehr die Linie, die unser tägliches Handeln leitet.
Mein Vater war 19 und Student an der Fakultät für Politik- und Sozialwissenschaften der UNAM (Autonome Universität von Mexiko), als der Studierendenaufstand gegen das politische System Mexikos im Juli 1968 stattfand. Er wurde, wie viele andere, spontan und freiwillig Teil dieser sozialen Bewegung. Er gehörte keiner politischen Organisation an und handelte nicht auf Anweisung, niemand gehorchte ihm und er gehorchte niemandem. Er war gerade erst aus der Provinz in die Stadt gekommen und handelte nach seinem eigenen Gewissen. Dieses hieß ihn, sich den Aktionen anzuschließen, die in Versammlungen und Kampfkomitees an der Universität organisiert wurden, und aus denen auf den Straßen und öffentlichen Plätzen politische Brigaden entstanden. Er gab Zeitungen und Zeitschriften für Graphik und Poesie heraus, malte und erhielt Prügel. Er marschierte gemeinsam mit seinen compañer@s an Glückstagen und Unglückstagen dieser geschichtsträchtigen Zeit.

Wenn wir uns verteidigen, öffnen sich Alternativen zur Sklavenarbeit.

Fast alles, was ich über die Studierendenbewegung weiß, habe ich von ihm erfahren. Im Geschichtsunterricht wurde zu meiner Schulzeit nie darüber gesprochen. Außerhalb des Klassenzimmers aber, in der Vorbereitungsklasse für die Universität und an der Universität selbst, habe ich angefangen, die Erinnerungen meines Vaters, jene hunderte Anekdoten und Geschichten, die wir als Kinder der 68er teilten, zu sammeln. Es gibt keine offizielle Geschichte über 68, und – welch ein Glück! – Sozialgeschichte stellt immer die Menschen in den Mittelpunkt, jene, die sie schreiben und erleben. Ihre Erinnerung ist heterogen, wechselhaft, nicht greifbar. Aber aus der Vielzahl an Rückblicken und Selbstreflexionen lassen sich große Wahrheiten erschließen, die weder die HistorikerInnen, noch die linken ParteigängerInnen als „die eine wahre Geschichte“ hinstellen können.
Damit möchte ich jedoch nicht leugnen, dass es eine öffentliche und gesellschaftsfähige Anerkennung des Staatsterrorismus geben muss, manchmal nicht nur durch den Staat selbst, sondern durch die internationale Gemeinschaft – so wie sie, bis zu einem gewissen Punkt, in Argentinien in Bezug auf die Militärjunta stattgefunden hat. Die Forderung nach Gerechtigkeit geht damit einher, dass der Staat anerkennt, repressiv gehandelt zu haben, um eine Volksbewegung zum Schweigen zu bringen. Daher ist es notwendig, die Geschichte zu re-konstruieren, in Form von Zeitzeugenberichten und auf der Basis der Veröffentlichung von Archivmaterial: Um die Toten, die Ermordeten, die Verhafteten und Gefolterten, die Verschwundenen, die von der (illegitimen und unmoralischen) „Autorität” erniedrigte Bevölkerung anzuerkennen. Um die geistigen Väter und die ausführenden Verantwortlichen der Staatsverbrechen zu richten, von den untersten Hierarchiestufen der Polizei, des Militärs und der Paramilitärs, der politischen und Verwaltungsorgane, auf denen Befehle ausgeführt wurden, bis hin zu den höchsten Ebenen der Staatssekretäre, der Kabinettsangehörigen und des ehemaligen Staatspräsidenten. Und um zu garantieren, dass die Verbrechen sich nicht wiederholen – das in den 70er Jahren im Cono Sur geforderte nunca más (nie wieder).

Es gibt keine offizielle Geschichte über 68, und Sozialgeschichte stellt immer die Menschen in den Mittelpunkt.

Die Erfahrung hat uns jedoch gezeigt, dass wir die Re-Konstruktion der Geschichte nicht denen überlassen dürfen, die die Macht in ihren Händen halten, wer auch immer sie sein mögen. Diese Aufgabe obliegt uns, die wir wissen, dass man, um gerechtere Lebensalternativen zu schaffen, die Geschichte des Aufstandes, des Widerstands und des Kampfs gegen das System kennen muss, und dass diese sich anzueignen mehr bedeutet, als sie nur immer wieder zu erzählen, als immer wieder an die Gefallenen zu erinnern, als Zorn zu empfinden, als bis zum Erbrechen zu wiederholen, wie schrecklich alles war. Wir müssen uns die bahnbrechenden und streitbaren Inhalte der Bewegung aneignen; sie verarbeiten, sie verdauen, sie in unser großes Geschichtsgedächtnis einprägen, in dem verschiedenste Erfahrungen sozialer Kämpfe ihren Platz gefunden haben und miteinander verwoben sind. Damit das nunca más nicht nur ein fadenscheiniges Versprechen von oben und von außen ist, sondern eine Garantie, die wir uns selber geben können. Jeden Tag mit noch größerer Überzeugung, dass gerade die autonome Selbstverwaltung, das In-die-Hand-Nehmen unserer Schicksale in jedem Fall verhindern kann, dass die rohe Gewalt des militärischen, politischen und fanatischen Denkens, die jedem neuen „Machtinhaber“ der Regierungsgewalt innewohnt, die republikanischen und volkseigenen Gemeinschaftsinteressen und -kräfte unterdrückt.
Im Gegensatz zu der in der Welt der nun „Erwachsenen” allgemein verbreiteten Meinung (Äußerungen wie „ich war auch ein Revoluzzer, als ich jung war”, „ich war wie du”, und ähnlicher Unsinn), steht mein Vater weiterhin auf der Seite der RebellInnen, des Aufstandes gegen das globale System der Ungerechtigkeit, das der Kapitalismus mit sich bringt, des Bruchs mit traditionellen Wahrnehmungsformen der Politik und der „Kanalisierung“ sozialer Unzufriedenheit. Ich prahle damit, aber ich sage es mit der Bescheidenheit, die ihn auszeichnet: Mein Vater verleumdet seine eigene Erfahrung nicht. Er hält auch das Ende der Studierenden- und Volksbewegung nicht für eine Niederlage. Er schloss sein Politikstudium nicht ab, sondern wechselte zur Literatur, zur Straße, zur Erfahrung, ins kaputte, ungeplante, weder institutionalisierte noch institutionalistische Leben. Im Laufe seines Lebens hat er seine eigene Art zu sein, zu denken und zu handeln entwickelt – am Rande der soziokulturellen und politisch-ökonomischen Vorsätze, die der Kapitalismus und das Patriarchat ständig erzwingen wollen. Mein Vater lebt auf der Straße, in der Stadt, mit denen, die dort leben, und seine „Waffen“ im Kampf oder „Werkzeuge“ des Widerstands sind die Poesie, die Fantasie, die Liebe, das Spiel und viel Sinn für Humor. Er schließt schnell Bekanntschaften, mit wem auch immer, zu welcher Gelegenheit auch immer, genauso wie die Studierendenbrigaden 1968, heute allerdings unter allen möglichen Vorwänden und ohne Lösung. Vielleicht ist er immer noch von derselben Überzeugung, derselben Wut, derselben Liebe geleitet wie damals: der Liebe zur Freiheit.
Das ist das Erbe, die Erinnerung, das Vermächtnis, das diese Generation uns hinterlässt, wenn wir sie denn annehmen wollen. Die mexikanische Studierendenbewegung von 1968 „ergriff das Wort“, genauso wie die Studierenden in Paris oder den zahlreichen anderen Städten der Welt im gleichen Jahr, aber nicht weil sie „jung“ waren, oder weil sie Studierende, aus der Mittelschicht und “aufgeklärt” waren (wie einige vorgeben). Sondern im Namen jener, die ungenannt blieb, die unnennbar erschienen war in den öffentlichen Aktionen und Diskursen, die bis dato gehalten worden waren: der Freiheit. Jede Bewegung hatte sicher ihre Besonderheiten, ihre Richtungen, ihre Variablen, ihre Ziele. Aber wir können nicht vergessen, dass, obwohl es nicht mehr Museen, nicht mehr Bücher, nicht mehr Denkmäler gab, die Welt nach 1968 eine andere war. Die Forderungen nach Versammlungs-, Meinungs-, Demonstrationsfreiheit; die Forderung nach dem Verschwinden repressiver Elemente und der „Ley de disolución social“ [Gesetz von 1941, das den Arbeitern verbietet, sich zusammenzuschließen, um soziale Proteste zu äußern, Anm. d. Red.] – heute kennen wir sie unter dem Namen Kriminalisierung des sozialen Protests –; die Forderung nach Befreiung politischer Gefangener, all das steht heute noch auf der zivilen, republikanischen, demokratischen und freiheitlichen Tagesordnung. Es geht darum, sie in die Hand zu nehmen und uns so zu organisieren, dass wir sie verteidigen können.
Aus reiner Solidarität halten mein Vater, meine Mutter und mein Bruder mit mir und meinen compañer@s im Streik die Stellung. Ich führe lange Gespräche mit meinem Vater über die Möglichkeiten der Selbstverwaltung, über die Auswege, die uns bleiben, unser Recht darauf zu verteidigen, so zu leben, wie wir es wollen. Nämlich einfach aber in Würde, in dieser Welt, die wir, auch wenn sie ungerecht und grausam ist, schön finden, vor allem schön wegen der Erfahrungen im Widerstand und im Kampf für die Autonomie und die Freiheit, von denen die mexikanische und die Menschheitsgeschichte erfüllt ist.

Kasten
Alicia Andares
Alicia Andares ist dabei ihr Studium der Lateinamerikanistik an der UNAM (Nationale Autonome Universität) abzuschließen. Nebenbei gibt sie Englisch- und Geografieunterricht, und wenn sich die Möglichkeit ergibt, dann übersetzt und korrigiert sie Texte. Außerdem arbeitet sie als Kellnerin. Sie backt, kocht, zeichnet, stickt und schreibt Prosa und Poesie. www.teamoreno.blogspot.com

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