Guatemala | Nummer 359 - Mai 2004

Das Kanninchen hüpft auf der Stelle

100 Tage Regierung Oscar Bergers in Guatemala

Noch profitiert der neue Präsident von der Auseinandersetzung mit den Skandalen der alten Regierungspartei. Angesichts unverminderter Armut der Bevölkerung werden jedoch wieder Forderungen nach der lange tabuisierten Agrarreform laut. Derweil hat sich der frühere Präsident
Alfonso Portillo nach Mexiko abgesetzt.

Frank Garbers

Kaum drei Wochen waren seit der Übergabe der Amtsgeschäfte an den neuen Präsidenten Oscar Berger vergangen, da packte Expräsident Alfonso Portillo Anfang Februar in einer Nacht und Nebel Aktion seine Koffer und verschwand über die Grenze zunächst nach El Salvador, später nach Mexiko.
Vorausgegangen war die Aufhebung seiner Immunität, die er als Mitglied des Zentralamerikanischen Parlamentes genossen hatte. Das „heisere Huhn“, wie er auf Grund seines gockelhaften Redestils im Volksmund genannt wird, konnte sich damit dem direkten Zugriff der Ermittlungsbehörden entziehen, die ihn zu seiner Verwicklung in die Korruptionsskandale unter seiner Regierung befragen wollten.

Die Hinterlassenschaft der FRG
Möglicherweise hätte ihn das gleiche Schicksal ereilt, wie einige hochrangige Funktionäre seiner Regierung, die sich inzwischen in Untersuchungshaft befinden. Vorläufige Schätzungen über veruntreute Gelder in der Regierungszeit Portillos belaufen sich auf 380 Millionen Euro. Die Palette der skandalösen Selbstbedienung reicht von dubiosen Bankgeschäften, deren Verluste durch staatliche Subventionen aufgefangen wurden, über die Veruntreuung hunderter Millionen aus den Sozialversicherungsfonds, bis hin zu den acht Handys der ehemaligen Wirtschaftsministerin, die bei ihrem Ausscheiden eine Telefonrechnung von mehreren Tausend Euro hinterließ.
Aber nicht nur die Korruption und Misswirtschaft unter der ehemaligen Regierungspartei FRG (Frente Republicano Guatemalteco) stehen am Pranger. Auch die politischen Praktiken der FRG werden untersucht. So etwa der so genannte „schwarze Donnerstag“ (24. Juli 2003), an dem die FRG Schlägertrupps durch die Hauptstadt schickte, um die Zulassung ihres Präsidentschaftskandidaten Efraín Rios Montt zu erzwingen. Der ehemalige Putschgeneral, der bei den Wahlen abgeschlagen auf dem dritten Platz gelandet war, darf nun das Land nicht mehr verlassen und steht unter Hausarrest. Gegen ihn wie gegen andere hohe Parteifunktionäre laufen Untersuchungen im Zusammenhang mit dem Tod eines Fernsehjournalisten, der an jenem „schwarzen Donnerstag“ durch die FRG-Meute zu Tode gehetzt wurde.
Die Aufarbeitung dieser Hinterlassenschaften der Portillo-Regierung kommt Berger in zweierlei Hinsicht sehr gelegen. Erstens entsteht der sicher nicht ungelegene Eindruck, dass neben der FRG praktisch alle wichtigen Oppositionskräfte auch Dreck am Stecken haben und nur die Regierungskoalition GANA (Gran Alianza Nacional) mit weißer Weste ehrliche Antikorruptionsanstrengungen unternimmt. So wurde etwa nach dem Rücktritt des Leiters der Finanzbehörde, Marco Tulio Abadio, aufgedeckt, dass über seine Person Millionenbeträge des Fiskus an die ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Alvaro Colom der UNE (Unidad Nacional de la Esperanza), sowie Leonel Lopez Rodas von der PAN (Partido de Avanzada Nacional) zur Finanzierung ihres Wahlkampfes geflossen waren. All diese Skandale sind aber vor allem nützlich, um die Öffentlichkeit von den großen Problemen der eigentlichen Regierungsarbeit abzulenken.

Regierung mit unklaren Konturen
„Die neue Regierung zeigt ein extrem unscharfes Erscheinungsbild. Es zeichnet sich keine Kraft innerhalb des Regierungsblockes ab, die eine Linie vorgeben kann. Zwar steht der Unternehmersektor hinter der Regierung und dieser verfügt über durchaus klare Vorstellungen. Berger schafft es bis jetzt aber nicht, diese in einer zielgerichteten Politik zu formulieren. Es gibt keine klaren politischen Projekte der Regierung. So redet der Präsident heute von Steuererhöhungen, morgen will er diese wieder prüfen. Er verspricht die Verabschiedung des Katastergesetzes und wenig später hört man aus dem Kongress, dass dies unmöglich sei. Es fehlen konkrete Signale dieser Regierung mit welchen Mitteln sie die Probleme des Landes wirklich angehen will“, so Helmer Velásquez von der Koordination der NRO und Kooperative CONGCOOP.
Berger, oft als „Kaninchen“ karikiert, versucht als eine Art „Kuschelpräsident zum Anfassen“ seine Beliebtheit in der Bevölkerung zu sichern. Als er in den Wochen nach der Wahl Krankenhäuser besuchte, um seine Besorgnis über das öffentliche Gesundheitssystem zu zeigen, brachte ihm das den Vorwurf ein, er habe noch nicht gemerkt, dass der Wahlkampf vorüber sei. Selten hat Berger in den ersten drei Monaten seiner Amtszeit mehr als oberflächliche Beschwörungsformeln von sich gegeben. „Mein Regierungskabinett begleitet mich heute, um Ihnen eine Botschaft der Einheit zu überbringen. Denn wenn wir uns alle zusammentun, werden wir die Probleme der Mehrheit lösen können“, so etwa Berger auf einer Versammlung der BürgermeisterInnen des Landes.
Seine erfolgreiche Wahlkampfstrategie, die gesellschaftlichen Konflikte des Landes zu ignorieren und sich als integrierender Landesvater zu präsentieren, entpuppt sich nun als Planlosigkeit und fehlende Durchsetzungsfähigkeit in konkreten politischen Fragen. Bestes Beispiel hierfür sind die Diskussionen um den Steuerpakt, dessen Verwirklichung in den Friedensabkommen vereinbart wurde, der aber bis heute am Widerstand des UnternehmerInnensektors scheitert. Die Ironie der Geschichte ist nun, dass ausgerechnet der Steuerboykott, mit dem der UnternehmerInnensektor gegen die Vorgängerregierung der FRG Front machte, zum Bumerang für die jetzige unternehmernahe GANA-Regierung wird.
Einer Verfassungsbeschwerde gegen die Unternehmenssteuer, unter Portillo jahrelang auf die lange Bank geschoben, wurde kurz nach dem Regierungswechsel vom obersten Verfassungsgericht plötzlich stattgegeben. Zusammen mit der unter Portillo stetig gestiegenen Unlust des privaten Sektors, seine Steuern zu zahlen, reißt dies eine Milliardenlücke in den Staatshaushalt, die der neuen Regierung praktisch keinen Handlungsspielraum lässt. Die Steuerquote ist wieder deutlich unter die zehn Prozent Marke gefallen und istdamit weit von den durch den Steuerpakt im Friedensabkommen festgelegten zwölf Prozent des Bruttosozialprodukts entfernt.
Berger braucht deshalb den Steuerpakt, wird dafür aber in die Auseinandersetzung gehen müssen. Verschiedene soziale Organisationen haben ihre Vorstellungen schon deutlich gemacht: „Das Prinzip muss sein, dass wer mehr hat auch mehr bezahlt“ so Carlos Arriaga vom Dachverband der Bauernorganisationen CNOC. Der UnternehmerInnensektor hingegen wehrt sich insgesamt gegen Steuererhöhungen und würde allenfalls eine Erhöhung der Mehrwertsteuer akzeptieren.
Aber auch in anderen brennenden Politikfeldern ist weitgehend unklar, wohin die Reise geht. Im Bereich der öffentlichen Sicherheit wirkt jetzt zwar mit dem ehemaligen General Otto Perez Molina ein „Kommissar gegen die Kriminalität“, der seine Erfahrungen aus der Aufstandsbekämpfung mitbringt. Ein Konzept im Vorgehen gegen die organisierte Kriminalität ist jedoch nicht auszumachen. Als Molina im März einen Rückgang der Kriminalität in der kurzen Zeit seines Wirkens verkündete, musste er sich von der Menschenrechtsaktivistin Helen Mack vorhalten lassen, dass diese Einschätzung weder den realen Daten noch dem Sicherheitsempfinden der Menschen entspräche.

Fehlende Konzepte
Gerade im Menschenrechtsbereich hat Berger den guten Willen seiner Regierung durch die Einbindung von Persönlichkeiten aus der Zivilgesellschaft zu verdeutlichen versucht. Der Clou war hierbei sicherlich die Ernennung des Menschenrechtsaktivisten und diesjährigen Friedensnobelpreiskandidaten Frank LaRue zum Leiter der Menschenrechtskommission des Präsidenten. Dies wurde allgemein als ein Zeichen gewertet, die geplante internationale Untersuchungskommission zur Aufklärung von Geheimdienststrukturen und geheimen Sicherheitsapparaten (CICIACS) auf den Weg zu bringen. Auch die Einbindung von Rigoberta Menchú, Friedensnobelpreisträgerin von 1992, als „Botschafterin des Guten Willens“ kann als symbolischer Erfolg gewertet werden. Letztlich wird sich der gute Wille der Regierung aber an Taten messen lassen müssen und nicht an der Ernennung bekannter Persönlichkeiten.
Weitgehend düster sieht es im Kampf gegen die Armut und den Hunger aus. Weit über die Hälfte der guatemaltekischen Bevölkerung gilt nach internationalen Maßstäben als arm. Auf dem Land beträgt die Quote sogar 75 Prozent. Die noch durch die Vorgängerregierung angestoßene Initiative eines Runden Tisches zur Ernährungssicherheit kommt nicht voran. Und damit ebenso wenig das Ziel, einen nachhaltigen nationalen Politikentwurf zu dem Thema zu entwickeln. Dem gegenüber bevorzugt die Regierung einen Aktionsplan „Front gegen den Hunger“, der vorsieht, Lebensmittel in den Not leidenden Gebieten des Landes zu verteilen. Gespeist wird dieser aus Mitteln des Welternährungsprogramms und privaten Spenden.
Zwar mag die Verteilung von Nahrungsmitteln an die hungernde Bevölkerung eine notwendige erste Maßnahme sein, die Regierung zeigt allerdings die fragwürdige Tendenz politische Lösungsstrategien durch Initiativen mit karitativem Charakter zu ersetzen. Dies wurde auch im Bildungsbereich deutlich. Zu Beginn des Schuljahres rief das Bildungsministerium einen „Bleistiftmarathon“ ins Leben, um die Bereitstellung von Schulmaterial zu ermöglichen. Die Bevölkerung spendete Stifte, Hefte und anderes Material, das dann durch das Bildungsministerium in den schlecht ausgestatteten Landschulen verteilt wurde.

Schwierige Lage
Verschärft wird die ohnehin schon prekäre ökonomische Situation der Bevölkerungsmehrheit durch eine starke Preiserhöhung in den letzten Monaten. Der Basiswarenkorb, also die Zusammenstellung jener Produkte, die einer Durchschnittsfamilie ein minimales Auskommen sichert, stieg im Wert auf 2.500 Quetzales (circa 330 US-Dollar). Zum Vergleich: der Mindestlohn auf dem Lande liegt bei derzeit 950 Quetzales (circa 120 US-Dollar), und selbst dieser wird in vielen Fällen nicht gezahlt.

Wachsender Druck
Es ist also nicht verwunderlich, dass in bestimmten Teilen der Gesellschaft der Unmut über das Ausbleiben effektiver Lösungsstrategien für die brennendsten Probleme des Landes wächst. Ende März mobilisierte ein Zusammenschluss unterschiedlicher Maya- und Bauernorganisationen mehr als 10.000 Personen, um ihren Forderungen nach konkreten politischen Schritten gegen die soziale und kulturelle Diskriminierung der indigenen Bevölkerung Ausdruck zu verleihen.
Neben Maßnahmen in den Bereichen Gesundheit und Bildung forderten die DemonstrantInnen, das geplante Programm zur Entschädigung der Bürgerkriegsopfer endlich in die Tat umzusetzen. Auch die Forderung nach einer Agrarreform, auf Grund des großen Konfliktpotenzials über Jahre ein Tabuthema in Guatemala, tauchte wieder unter den Kernforderungen der Demonstrierenden auf.
Die Lösung der Agrarproblematik wird wieder zur Schlüsselfrage im Kampf gegen Armut und Hunger, allerdings regiert auch in diesem Themenbereich, gewollt oder ungewollt, die Konzeptlosigkeit. „Es gibt keinen Fortschritt im Thema und zum Großteil scheint das daran zu liegen, dass die Regierung keinen klaren Politikentwurf zur Agrarproblematik hat, sie improvisiert nur,“ so Miguel Angel Sandoval von der Plataforma Agraria. Ursula Roldán, Koordinatorin der Landpastorale der katholischen Kirche, fügt hinzu: „Auf operativer Ebene ist nichts geschehen. Es ist nicht einmal klar, wer auf Regierungsseite unser Ansprechpartner ist. Einmal haben wir uns mit dem Sekretariat für Agrarfragen zusammengesetzt, aber jetzt heißt es, das Sekretariat wird abgeschafft.“ Operative Stärke zeigt die Regierung allerdings bei der Räumung von Landbesetzungen, die seit der Amtsübernahme Bergers verstärkt durchgeführt werden.
Als Hoffnungsschimmer erscheint, dass die Regierung ihr im Wahlkampf gemachtes Versprechen, die Erfüllung der Friedenabkommen wieder verstärkt auf die politische Tagesordnung zu bringen, tatsächlich angeht. Im März wurde eine „Friedenskommission“ benannt, die zur Aufgabe hat, konkrete Vorschläge zu Wiederbelebung des praktisch zum erliegen gekommenen Umsetzungsprozesses zu machen. Die Regierung berief hierzu auch namhafte Persönlichkeiten sozialer Organisationen, wie Rosalina Tuyuc von der Witwenorganisation CONAVIGUA oder Daniel Pascual, Koordinator der Campesinoorganisation CUC.
Die angekündigte Reduzierung des Militärs um rund 12.000 Soldaten kann hier als Zeichen des guten Willens gewertet werden, zumal damit auch eine Kürzung des Militärbudgets noch unter der in den Friedensverträgen festgelegten Obergrenze einhergeht. In den kommenden vier Jahren wird sich die Regierungsarbeit Bergers an solchen konkreten Maßnahmen messen lassen müssen.

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