Migration | Nummer 389 - November 2006

Das Leben in der Festung

MigrantInnen und ihr Schicksal: Auf einer Konferenz und im wirklichen Leben

Im Zentrum der 11. internationalen Metropolis-Konferenz in Lissabon standen Portugal und seine Beziehungen zu portugiesischsprachigen AusländerInnen. Unter dem Motto „Wege und Kreuzungen: Menschen in Bewegung, Orte im Umschwung“ diskutierten rund 700 ExpertInnen über globale Migration. Das sozialistisch regierte Gastgeberland zeigte sich dabei der EU-Politik gegenüber ablehnend – vor allem im Hinblick auf den Ausbau der „Festung Europas“.

Stephanie Zeiler

Adriana Apaibe zögert. Auf dem Tablett vor ihr steht ein Teller mit einem gegrillten Steak und Pommes, daneben ein Pudding. In den Händen hält die junge Brasilianerin eine kleine Sekt- und eine Weinflasche, die sie nur langsam mit auf das Tablett stellt. „Es wird schon niemand etwas dagegen haben“, murmelt sie, als sie zur Kasse geht. Adriana arbeitet als Sekretärin in Lissabon. Sie hat es nicht leicht als Brasilianerin.
Zu Hause, in einem abgewohnten Apartment mit zerschlissenen Polstermöbeln und kleinen Vorhängeschlössern an den Küchenschränkchen, trinkt sie Wasser oder Milch. Wein ist ihr zu teuer. In der Kantine des Culturgest, einem großen Kultur- und Tagungszentrum in Lissabon, darf die Brasilianerin heute kostenlos essen. Sie hat den ganzen Morgen einen Infostand zur EU-Initiative „Equal“ betreut. „Equal“ fördert die Entwicklung von Strategien, um Diskriminierung und Ungleichheit im Arbeitsleben zu bekämpfen. Adriana Apaibe nutzt die Gelegenheit. Kaum hat sie sich einen Tisch ausgesucht, verschwinden die beiden Flaschen in ihrer Handtasche.
Es ist der Abschlusstag der 11. internationalen Metropolis Konferenz. Organisiert hat sie die portugiesische Sektion des Verbands Metropolis, ansässig in Kanada, und das portugiesische Kommissariat für Immigration und ethnische Minderheiten ACIME. Geldgeber der kostspieligen Vernetzung der ExpertInnen war die Luso-American Development Foundation. Die Stiftung gründete Portugals Regierung 1985 im Rahmen eines Verteidigungs- und Kooperationsabkommens mit den USA. „Die Politik hat die Federführung und übernimmt die Vorschläge der Privatwirtschaft“, kritisierte das Bildungswerk der Heinrich Böll Stiftung die Konferenz 2004. Heute hat sich der Blick auf globale Migration von einer allein ökonomischen Perspektive zu einer politischen Fragestellung entwickelt. Von den rund 900 TeilnehmerInnen aus Forschung, Politik und Zivilgesellschaft reisten 90 Prozent aus Westeuropa und Nordamerika an. In Lissabon diskutierten sie unter anderem über eine globale Gemeinschaft portugiesischsprachiger Länder.
Der Brasilianer Thomas Scheier lebt schon lange in Portugal. „1987 kam ich mit 15.000 Dollar im Gepäck in Lissabon an“, erinnert sich der 64-jährige und erzählt, wie er mit seiner Frau eine Film-Produktion eröffnete. Neben der brasilianischen besitzt der studierte Fotograf die deutsche Staatsangehörigkeit. Seine jüdischen Eltern flohen Mitte der 1930er Jahre aus Deutschland über England nach Brasilien. „In Portugal kann ich mich also immer als Deutscher ausweisen. Das macht das Leben leichter“, sagt Thomas Scheier.

Brasilien in Portugal

Rund 460.000 AusländerInnen, gut 4,5 Prozent der Gesamtbevölkerung, leben heute nach Angaben der Ausländerbehörde legal in Portugal. Die meisten stammen aus den ehemaligen Kolonien. 2005 waren es allein über 80.000 BrasilianerInnen und 65.000 EinwanderInnen aus Cap Verde. Seit dem Besuch des brasilianischen Präsidenten Lula im Jahre 2003 ist der Anteil der brasilianischen MigrantInnen besonders stark angestiegen. Tausende illegaler BrasilianerInnen im Land wurden damals legalisiert.
Immer häufiger beginnen junge, allein stehende Frauen wie Adriana ein neues Leben in Südeuropa. „Viele haben sogar einen ordentlichen Schulabschluss. Aber nur wenige finden etwas Besseres als einen Job als Dienstmädchen oder Reinigungskraft “, stellt Beatriz Padilla, Mitarbeiterin des Instituts für Arbeitswissenschaften in Lissabon bei ihrem Vortrag fest. Die Frauen fühlten sich außerhalb der brasilianischen Gesellschaft freier, so Padilla, würden in Europa jedoch diskriminiert.
Adriana erinnert sich noch gut daran, wie sie kürzlich von zwei Portugiesen belästigt wurde. Vor dem Hardrock Café sprachen sie sie an. „Ach, du bist Brasilianerin, also eine Prostituierte“, sagte der eine. „Er folgte mir bis zur Metro und schubste mich dort auf die Stufen“, erzählt sie nervös. Nur sein Begleiter verhinderte damals weitere Tätlichkeiten. Adrianas FreundInnen kommen fast alle aus Brasilien. „Die einzigen Portugiesen, von denen ich mich wirklich akzeptiert fühle, sind meine Arbeitskollegen“, sagt die 23-jährige.
Selbst Thomas Scheier und seine Angehörigen, die europäische Wurzeln haben und in Europa Karriere machten, sind nicht generell vor Ausgrenzungen gefeit. „Unsere Tochter wollte in Lissabon beim öffentlichen Fernsehen als Moderatorin arbeiten. Sie haben sie abgelehnt, weil sie einen brasilianischen Akzent hat“, erzählt seine Frau Kathryn, eine gebürtige Britin. Scheiers haben lange Jahre in Brasilien gelebt und gearbeitet. Auch dort gehörten sie zur Oberschicht und trauen vielleicht deshalb den neu ankommenden BrasilianerInnen nicht über den Weg. „Viele, die heute kommen, stammen aus einfachen Verhältnissen. Sie leben hier illegal, stehlen oder dealen“, sagt der Familienvater.

Türen in der Festung

Vorurteile und Unverständnis gegenüber Menschen anderer Herkunft will die portugiesische Regierung abbauen. So werden zum Beispiel LehrerInnen speziell zu Migrationsthemen geschult. „Herausforderung und Integration“ lauten die geflügelten Worte etlicher Vorträge bei der internationalen Metropolis Konferenz. Ausgangspunkt ihrer Argumentation ist vor allem die drohende Überalterung der europäischen Gesellschaft. Nach der jüngsten Eurostat-Studie hat Italien die älteste Bevölkerung, gefolgt von Spanien, Deutschland, Griechenland und Portugal. „Migration ist notwendig, aber ebenso eine Chance für die EU. Unsere Pflicht ist es daher, Neuankömmlinge willkommen zu heißen und sie zu integrieren“, sagte Portugals sozialistischer Premierminister José Sócrates bei der Eröffnung der Konferenz Anfang Oktober.
Socrates will MigrantInnen die Einreise nach Portugal erleichtern. Das neue Einwanderungsgesetz sieht vor, AusländerInnen eine begrenzte Aufenthaltsgenehmigung zu gewähren, wenn sie beabsichtigen zu arbeiten und die Anforderungen der Behörden erfüllen. Außerdem sollen diejenigen Illegalen dauerhaft bleiben dürfen, die bereits ihr eigenes Geschäft betreiben. Damit distanziert sich Portugal bewusst von der EU, die sich mit Bürokratie, Grenzzäunen und Lagern abschottet. „Wir sind keine Festung“, behauptet EU-Kommissarin Sandra Pratt bei der Metropolis-Konferenz und spricht von notwendiger Integration, einem Dialog mit Afrika. Mit der Forderung nach Verbesserung der Grenzkontrollen widerspricht sie sich indes selbst. Kritische Diskussionen über die „Festung Europa“ gab es ohnehin kaum. ModeratorInnen sammelten und sortierten die Fragen aus dem Publikum, so dass Sandra Pratt beispielsweise die Frage nach Auffanglagern außerhalb Europas Grenzen gar nicht erst beantworten musste.
Adriana hat von diesen Lagern viel gehört. Mit einem Arbeitsantrag der portugiesischen Generaldirektion für Konsulatsangelegenheiten in der Tasche hatte sie selbst diese nicht zu fürchten, als sie vor drei Jahren in Lissabon ankam. Die damals 20-jährige hatte sich beim portugiesischen Konsulat in Brasilia um eine Stelle beworben. „Ich hatte Glück und bekam tatsächlich ein Angebot als Sekretärin“, erzählt sie.
Als Angestellte in Portugal trägt sie zum Sozialprodukt bei. MigrantInnen haben 2001 über 400 Millionen US-Dollar im Land erwirtschaftet. Sie arbeiten auf dem Bau, in Restaurants oder Haushalten. Und wenn sie Glück haben, können sie irgendwann ein eigenes Geschäft eröffnen. Vielleicht ein kleines Restaurant. So schätzt Jan Rath von der Universität Amsterdam vor allem die kulinarische Vielfalt als Gewinn für Europas Städte. Das will eine Teilnehmerin so nicht stehen lassen. „Ich möchte gleich behandelt werden und nicht herumtanzen müssen“, kritisiert sie die Haltung des Wissenschaftlers, MigrantInnen vor allem als ExotInnen wahrzunehmen. „Wir haben noch keine Grenze überwunden, die Grenze hat uns vielmehr überfahren“, fügt sie hinzu.
Doraci, der Freund Adrianas, hat schon mehrere Grenzen passiert. Seine Schwester ist mit einem Franzosen verheiratet. So konnte der 16-jährige Brasilianer 2004 leicht nach Frankreich einreisen. Als sein Touristenvisum endete, lebte er bereits in London, wo er Adriana kennen lernte, die in der britischen Hauptstadt vorübergehend in einem Restaurant arbeitete. Heute wohnen Adriana und Doraci zusammen in einem zwölf Quadratmeter großen Zimmer. Für Adriana ist das Luxus, nachdem sie zwei Jahre lang ihr Schlafzimmer mit anderen Frauen teilen musste. „Die eine brachte ihren Freund immer mit und hatte Sex, während ich nebenan versuchte zu schlafen“.

Das Märchen vom Weltbürger

Die tatsächlichen Wohnverhältnisse von etlichen MigrantInnen waren in den einführenden Vorträgen der Metropolis Konferenz kein Thema. Die Diskussion blieb oft abstrakt. Was am Ende zu kurz kam, war „ein echter Erfahrungsaustausch zwischen den Vertretern unterschiedlichster Herkunftsländer“, bedauerte die Argentinierin Beatriz Padilla. Andere TeilnehmerInnen entwarfen realitätsverzerrende Visionen von schwindenden Ländergrenzen und wachsenden Stadtmauern, von WeltbürgerInnen, die heute in Paris und morgen in Rio leben.
Für Familien wie die von Thomas Scheier, die sich längst als EuropäerInnen und nicht mehr als BrasilianerInnen, EngländerInnen oder Deutsche fühlen, ist das wohl heute schon Wirklichkeit. Doraci braucht aber für eine Aufenthaltsgenehmigung ein Jobangebot. Wie Adriana müsste er sich beim portugiesischen Konsulat in Brasilien bewerben. Aber die Reise ist teuer. Erst wenn der Arbeitgeber in Lissabon dann nachweist, dass er keinen Portugiesen für die Stelle gefunden hat, darf Doraci legal in Lissabon einreisen. „Es ist riskant. Du kannst dir nie sicher sein, ob der Arbeitgeber diesen ganzen Aufwand tatsächlich betreibt, nur damit du für ihn arbeiten kannst“, sagt der 19-jährige. Trotzdem will er in Europa bleiben.

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