Nachruf | Nummer 463 - Januar 2013

„Das Leben ist ein Hauch“

Brasiliens Stararchitekt Oscar Niemeyer verstarb am 5. Dezember in Rio de Janeiro

Gerhard Dilger

„Samstags und sonntags arbeite ich am meisten“, erzählte er noch vor ein paar Jahren in seinem Atelier an der Copacabana. „Alleine blättere ich einige Bücher durch, schreibe einen Text, zeichne oder denke ganz einfach über das Leben nach.“ Der bekennende Kommunist und Atheist umriss seine Philosophie so: „Das Leben ist ein Hauch“, denn der Mensch sei „nichts wert, er wird geboren und stirbt. Also muss er zum Himmel sehen und fühlen, dass er klein ist, dass er bescheiden sein muss, dass nichts wichtig ist.“
Niemeyer wurde am 15. Dezember 1907 in Rio geboren. An die 200 seiner Projekte wurden gebaut – vom UN-Gebäude in New York über riesige Wohnblocks bis hin zu politischen Skulpturen. Als Baustoff der „unbegrenzten Möglichkeiten“ setzte er dabei stets auf Beton. Bereits in den 1940er Jahren, sagt er, habe er eine „andere“ Architektur angestrebt: „Damals war die Architektur rigide, als wäre sie mit Metallstrukturen gemacht. Der Beton hingegen legte ein neues Feld der Erfahrungen und Erfindungen nahe.“ Als Form habe sich die Kurve angeboten: „Sie ist die natürliche Lösung für Beton, wenn du einen großen Raum hast.“ Eduardo Galeano sagte dazu: „Gegen den rechten Winkel hat Niemeyer eine Architektur gesetzt, die so leicht ist wie die Wolken, frei, sinnlich, der Berglandschaft Rios sehr ähnlich. Das sind Berge, die aussehen wie Körper liegender Frauen, von Gott an dem Tag gezeichnet, an dem er dachte, er ist Niemeyer.”
Ab 1958 verwirklichte Niemeyer mit seinem Freund Lucio Costa den Entwurf der neuen Hauptstadt im Hinterland: Brasília. Costa war für die Stadtplanung verantwortlich, Niemeyer für die Gebäude. Der Kongress mit seinen eleganten Schalenkuppeln, zwei Präsidentenpaläste, diverse Ministerien und die Kathedrale bilden den eindrucksvollen Kernbereich des Regierungssitzes.
Die Illusion Brasílias als eine soziale Utopie, die zerschlug sich jedoch rasch. „Während des Baus dachten wir, dass die Gesellschaft besser, die Menschen gleicher würden“, erinnerte er sich. „Aber nein, mit der Einweihung der Stadt kamen die Politiker, die Geschäftsleute, die Klassenunterschiede, all das, was man bis heute dort sieht.“ Über seine Architektur sagte er zuletzt: „Wie die Dichtung kann sie die Welt nicht verändern, und die Ärmsten haben nichts davon. Aber sie können innehalten, einen Moment des Vergnügens, der Überraschung haben.“ In der Hinsicht könne Architektur nützlich sein.
Knapp 105 Jahre wurde er alt. Das Geheimnis seiner Langlebigkeit? „Vielleicht, dass ich in allen Dingen gemäßigt bin. Ich trinke wenig, ich esse wenig. Ich streite nicht, sondern versuche, in Harmonie mit den Leuten zu leben. Ich mag die Freundschaft, ich lache gern und mache gern Witze. Und ich liebe die Frauen!“

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