Kuba | Nummer 307 - Januar 2000

“Das letzte Hemd für den Carnaval“

Der kubanische Karneval erwacht zu neuer alter Größe

Seit der Revolution 1959 hat der Karneval in Kuba viel von seinem ehemaligen Renommée eingebüßt. Dabei hat er eine über zweihundertjährige Tradition, die besonders im Osten Kubas, dem oriente, tief verwurzelt ist. Seine Geschichte ist eng mit der Widerstandsbewegung der schwarzen Sklaven verknüpft, die bis heute das Bild von Santiago de Cuba sowohl als Ausgangspunkt revolutionärer Aufstände, als auch als Zentrum des farbenfrohen Kuba prägt. Während hierzulande, aber auch in Rio de Janeiro oder Trinidad die Karnevalsvorbereitungen bereits auf Hochtouren laufen, können sich die Santiageros noch ein wenig Zeit lassen. In der kubanischen Karnevalshochburg Santiago de Cuba wird nämlich erst in der zweiten Julihälfte gefeiert – zum Namenstag des Apostels Santiago.

Knut Henkel

Müde sitzt Lázaro Martínez am Küchentisch und flucht leise vor sich hin. Über ihm baumelt von zwei Drähten gehalten die Neonröhre von der fleckigen, ehemals weißen Betondecke. Angestrengt bohrt er mit einer Nadel ein Loch in ein kleines blaues Metallplättchen, das neben den vielen hundert anderen auf seinem Umhang, der capa, einen Platz finden soll. Der 60-jährigen Lázaro ist eine Institution des Karnevals von Santiago de Cuba: der bekannteste capero der Stadt. Jedes Kind aus Santiago kennt den stämmigen, dunkelhäutigen Mann, dessen reich bestickte capas im Karnevalsmuseum in der Calle Heredia zu bewundern sind. Viel zu lange hatte Lázaro gebraucht, um die nötigen Utensilien für das Kostüm zusammenzutragen.
Ähnlich wie ihm ergeht es seit einigen Jahren allen Mitgliedern der zahlreichen Trommelzüge, der congas, und der Karnevalsformationen, der comparsas, denn alle Mitglieder brauchen jedes Jahr ein neues Kostüm. „Musiker wie Tänzer laufen auf der Suche nach Stoff, Nadel und Faden durch die Nachbarschaft, klappern die Geschäfte ab, die aber oft nicht das richtige haben oder nur gegen knappe Dollar“, erzählt Marissa, eine Sportlehrerin, die Lázaro mit Stoff aushalf. Früher gab es eine bescheidene Unterstützung von Seiten der Regierung für die congas und comparsas der Stadt, doch mit der anhaltenden Wirtschaftskrise, der sogenannten periodo especial, wurde auch diese gestrichen. „Besonders benachteiligt sind die caperos, denn ihre Umhänge sind das kunstvollste und aufwendigste, was der Karneval zu bieten hat“, erklärt Félix Bandera Blez, Direktor der Conga Los Hoyos, die zu den ältesten und populärsten der Insel gehört. „Einige lassen sich die Accessoires von Freunden aus dem Ausland mitbringen, andere werden von ihren Arbeitskollegen und Nachbarn unterstützt und die wenigsten haben das Glück von Sponsoren, wie Tourismusunternehmen, einige Dollar zu erhalten, um alles nötige in den Dollargeschäften zu kaufen.“

Biermarken und Parteisymbole

Sponsoren hat es seit der kubanischen Revolution beim Karneval nicht mehr gegeben. In den zwanzigern und dreißigern überboten sich hingegen Firmen wie Bacardi, das bis 1960 in Santiago ansässige Rumunternehmen, oder Hatuey, die wohl bekannteste kubanische Biermarke, möglichst eindrucksvolle Festwagen zu kreieren. Auch die politischen Parteien nutzten die Popularität des Karnevals: Konservative wie die Liberale Partei hatten in jeder größeren Stadt eine comparsa verpflichtet, die, großzügig mit Instrumenten und Kostümen ausgestattet, das Parteisymbol spazierentrug. Nach der kubanischen Revolution von 1959 waren es dann die Symbole der kommunistischen Partei, des kubanischen Frauenverbandes, der Arbeitsbrigaden oder der zahlreichen Komitees zur Verteidigung der Revolution, die mehr oder weniger zahlreich auf dem Karneval zu sehen waren.
Erst in den letzten Jahren tauchten wieder Embleme bekannter Produkte, wie der Zigarettenmarke Popular, bei einzelnen comparsas und congas auf, während die Karossen, riesige Prunkwagen mit hunderten von Glühbirnen und bestückt mit mehreren Tänzerinnen, mittlerweile ausschließlich von den finanzstarken Firmen aus dem Tourismussektor, wie Horizontes oder Cubanacan, auf ihre mehrtägige Reise durch die Straßen Santiagos geschickt werden.
Für Juan ist das jedoch die weniger attraktive Seite des Karnevals: „Für den Karneval brauchen wir keine großen Festwagen, die passen ohnehin nicht durch die engen Straßen der Altstadt – nur den Rhythmus von congas und comparsas und hin und wieder ein Schluck Bier für die trockene Kehle, das reicht,“ sagt der 34jährige Maler auf die Menge auf der Straße blickend. Auf der Treppe seines Hauses in der Calle Santa Rita wartet er mit leuchtenden Augen auf den Auftakt des Karnevals. Zu seinen Füßen stehen sich – umringt von einer Menschentraube – zwei congas gegenüber, die sich im lärmenden Wettstreit miteinander messen werden. Ein quäkender Laut ertönt – zahllose Blicke wandern zu einem Mann, der hoch zu Roß mit aller Kraft in ein kleines trompetenähnliches Instrument, die corneta china, bläst. Die Backen weit gebläht, die Augen blutunterlaufen – jede Ader am Hals des Trompeters ist sichtbar. Aus dem Ton wird eine Melodie, die von den Trommlern aufgenommen, gesteigert und immer schneller wird: Tänzer und Tänzerinnen zucken ekstatisch im Wirbel der über dreißig Musiker, die aus sich und ihren Instrumenten, angespornt durch die Zurufe der Menge, alles herausholen, dessen sie fähig sind. Die quinto, eine Trommel mit hohem Klang, die auch bei religiösen Ritualen und bei der Rumba nicht fehlen darf, gibt den Takt an; die Conga-Spieler folgen und auf den Triangeln, meist alten Autofelgen, den Rasseln und Klanghölzern wird der Rhythmus fortgesetzt. Der Wettstreit zwischen den beiden congas erreicht einen Höhepunkt. An der Spitze der Formation steht der dirigente, überragt vom Trompeter, der auf einem Pferd über der Menge thront. Während der eine darauf achtet, daß Musiker wie Tänzer in Formation bleiben und keiner der jungen Conga-Spieler den Rhythmus eigenmächtig beschleunigt, sorgt der Trompeter für den groove. Nach nahezu jedem Solo aus der corneta ändert sich das Spiel. Conga-Instrumente verstummen, andere setzen ein, bis wieder ein neues Signal ertönt – der Wirbel einen neuen Höhepunkt erreicht.
Lange hat sich der ganze Stadtteil, aus dem die conga entstammt, auf diesen Augenblick vorbereitet, denn alle wollen ihr Viertel so gut es irgend geht vertreten. Je näher das ersehnte Datum rückt, desto öfter treffen sich die Musiker und Tänzer der congas und comparsas, um sich für den Höhepunkt des Karnevals – den desfile final – zu rüsten. Die große Parade aller congas, comparsas und Karossen. Diese findet am letzten Tag des Karnevals statt, wobei einer Jury die Aufgabe zukommt die beste comparsa, die beste conga, den besten capero und die schönste carrosa zu prämieren.

Lange rebellische Tradition

Von einem sind allerdings alle Santiageros überzeugt: daß der kubanische Karneval seine Wiege in ihrer Stadt stehen hat. „Hier wird er zelebriert und nicht wie in Varadero oder seit kurzem auch in Havanna vorrangig für Touristen aufgeführt”, ist sich Raúlito López, Direktor der conga von San Agustín, die 1922 gegründet wurde, sicher: „Nicht umsonst war der Karneval von Santiago de Cuba in den zwanziger und dreißiger Jahren nach Rio de Janeiro der populärste auf dem Globus.“
Hervorgegangen ist Santiagos Karneval aus den religiösen Prozessionen zu Ehren des Schutzheiligen der Stadt – Santiago Apóstol. Im Laufe der Jahre verloren diese Prozessionen, die alljährlich am 25. Juli stattfanden, ihren gesetzten Charakter, was in erster Linie auf die Integration der Sklaven zurückzuführen ist. Diesen wurde zum Zwecke ihrer Christianisierung und ethnischen Unterscheidung zugestanden, sich je nach Herkunft in den sogenannten cabildos zusammenzuschließen. Tieferer Zweck der Legalisierung der cabildos war es, bestehende Konflikte zwischen den afrikanischen Ethnien zu erhalten, um eine umfassende Solidarisierung der Schwarzen zu verhindern. Die Kirche drängte nun im Rahmen ihres Missionsauftrags auf die Teilnahme der Schwarzen an den christlichen Prozessionen, womit sich mehr und mehr musikalische Elemente in die Prozessionen einschlichen.
Bereits aus dem Jahre 1702 datiert ein Bericht, der schildert wie sich die erste conga aus dem Viertel Los Hoyos in die Prozession einreihte – ausgerüstet mit verschiedenen Percussioninstrumenten, wie Bongos, ausgehöhlten Kürbissen oder Krügen. Zusätzlichen Schwung erhielten die Festlichkeiten zu Ehren des Schutzpatrons mit der Ankunft französischer Plantagenbesitzer nebst deren Sklaven aus Haiti. Nachdem dort 1791 die aufständischen Sklaven die Hauptstadt eroberten und die Sklaverei abgeschafft hatten, flohen Tausende von Plantagenbesitzern und Sklaven in den benachbarten Osten Kubas, den oriente. Dort angekommen machten sich die Neuankömmlinge schnell daran, ihr eigenes französisches Viertel aufzubauen – El Tivoli, das schnell zu einer Hochburg des Karnevals wurde. Die sogenannten negros franceses integrierten ihre Musik und ihre Tänze in die Festlichkeiten zu Ehren Santiago Apóstols. Sowohl die marimba, ein xylophonähnliches Instrument, als auch die tumba francesa, eine große bauchige Trommel, wurden nach und nach zum festen Bestandteil jeder comparsa.

Drei Tage Narrenfreiheit

Aber nicht allein ihre Musik brachten die französischen Sklaven mit, sondern auch ihre Erfahrungen aus dem haitianischen Befreiungskampf, die in den cabildos schnell die Runde machten. 1812 kam es zum ersten mehrere cabildos umfassenden Aufstand, dem sogenannten Aponte-Aufstand. Jedes Jahr wurde für drei Tage die eigentliche Gesellschaftshierarchie auf den Kopf gestellt: die negros bembónes, die dicklippigen Neger, wie die Afrikaner von den Spaniern abfällig genannt wurden, ahmten in farbenprächtigen Phantasieuniformen und -kostümen die Kolonialherrschaften und ihre Tänze nach. Sie kopierten Menuette, nicht ohne die feinen Herrschaften dabei ein wenig blaß aussehen zu lassen. Diese Parodie auf die spanische und französische Hofetikette, mit dem einen oder anderen neckischen Hüftschwung gewürzt, wurde von der Menge begeistert gefeiert.
Offiziell wünschten die Sklaven den Kolonialherrschaften mit ihren Darbietungen Glück, doch die Pantomimen, die man ihnen zu Ehren aufführte sprachen eine andere Sprache. So wurde im „Tanz, um eine Schlange zu töten“ einer bedrohlichen Schlange nach langem zähem Kampfe der Kopf abgeschlagen – nur gibt es auf Kuba keine für den Menschen gefährlichen Schlangen. Auch die Darstellung von Ungeziefer oder von gefährlicheren Artverwandten wie Skorpionen ist wohl eher als versteckte Drohung an die Spanier zu verstehen. Da gab es die ararás, deren Wangen mit zahllosen langen Narben übersät waren, oder die furchterregenden schwarzen Geier, die auras tiñosas. Schwarz gewandtet mit einer roten Kapuze versehen, hockten sie mit ihrer großen Trommel auf Bäumen, Telefonmasten oder Brücken und sprangen, um die Bewohner zu erschrecken, oftmals bis in die Innenhöfe der Häuser der besseren Gesellschaft.
Maskierungen und vor allem die großen Trommeln tauchten bei Sklavenaufständen und während der beiden kubanischen Befreiungskriege immer wieder auf. Trommeln dienten nicht nur zur Nachrichtenübermittlung, sondern wurden auch zum Schmuggel von Waffen und Medikamenten genutzt. Zwar wußten die spanischen Kolonialbehörden um die Gefahr, weshalb sie die Karnevalszüge, die comparsas und mamarrachos immer wieder mal verboten – genutzt hat es ihnen letztlich allerdings wenig.

Kubanisches Menuett

Heute haben die traditionellen Pantomimen und Tänze der comparsas nicht mehr die Bedeutung von einst, auch wenn sie liebevoll gepflegt werden. Auf dem Platz vor der Kathedrale, im Parque Cespedes, umrahmt von alten perfekt restaurierten Kolonialbauten, werden sie genauso wie vor zweihundert Jahren aufgeführt. Doch im Vergleich zu früher geht es heute dort eher ruhig zu. Ehrwürdig aussehende ältere Damen mit weiß gepuderten Alongeperücken wiegen sich mit ihren Partnern im Schritt der Menuette und Kontertänze, doch nur vereinzelt lassen sich noch Zuschauer dazu hinreißen, den einen oder anderen Tanzschritt nachzuahmen – missen möchte sie allerdings auch niemand.
Schnell verändert sich hingegen das Bild, wenn eine der zahllosen congas vorbeizieht. Die Zuschauer recken die Hälse, wiegen die Hüften und lassen sich in den Rhythmus der conga fallen und mitziehen – die wenigen Tanzschritte und den typischen Hüftschwung beherrschen schon die dreijährigen perfekt. „Der ins Mark gehende Rhythmus der conga gepaart mit der corneta china ist für mich die Seele des Karnevals“, erklärt Maribelle, eine 30-jährige Schneiderin. Die chinesische Trompete ist die jüngste Neuerung innerhalb der klassischen Instrumentierung der conga: „Sie gelangte mit chinesischen Eisenbahnarbeitern in den oriente und wurde 1915 von der comparsa „Columbianos“ aus El Tivoli in den Karneval eingeführt – heute ist die corneta fester Bestandteil jeder conga“, erläutert Rafael Duharte, Direktor des Kulturinstituts Casa del Caribe.
Stundenlang tanzen die Leute „ihrer“ conga folgend durch die ganze Stadt; unterstützen sie lautstark, wenn sie auf eine andere treffen, feuern sie an, damit die Musiker ihr letztes geben, um die Konkurrenz aus dem Feld zu schlagen. Mal schneller, mal langsamer, bergauf und bergab geht es durch die schmalen, hügeligen Straßen der Stadt. Viele Kilometer legt eine conga und der sie umgebende Pulk von bis zu dreitausend Leuten an einem Karnevalstag und der dazugehörigen Nacht zurück. Unmengen von Ständen sorgen für das leibliche Wohl der Karnevalsbegeisterten, während zum einen die congas, zum anderen die populärsten Salsabands des Landes dafür sorgen, daß das Tanzbein nicht zur Ruhe kommt.

Wehe den Miesmachern

Zehn Tage dauert der carnaval santiaguero normalerweise und anders als in Havanna und dem Rest des Landes, wo der Karneval nach fünfjähriger Unterbrechung erst seit 1995 wieder gefeiert wird, fand das Ereignis des Jahres in Santiago auch in den schwersten Jahren der periodo especial 1993 und 1994 statt. Während landesweit das Geld für den Karneval gespart wurde, war in Santiago an derartige Einsparungen nicht zu denken: Man wagte es nur, den als rebellisch bekannten Santiageros ihr wichtigstes Fest auf drei Tage zu begrenzen. Bier wurde in Tankwagen angekarrt und direkt aus dem Schlauch in die Eimer der Kaufwilligen gepumpt. Die staatlichen Pizzerien öffneten ihre Pforten, Bars zogen ihre Rolläden hoch, um Rum an diejenigen zu verkaufen, die ihre Becher zur Hand hatten.
Mit dem seit 1995 zögerlich einsetzenden wirtschaftlichen Aufschwung geht es in Santiago wieder etwas großartiger her. Aus drei Tagen wurden erst fünf, dann sechs und in diesem Jahr sollen es acht werden, wie Lázaro schmunzelnd feststellt. Er hat seine capa noch rechtzeitig fertiggekriegt und ist für all seine Mühe belohnt worden, denn er gehört wieder einmal zu den besten caperos der Stadt. „Für den Karneval würde ich mein letztes Hemd geben und ich freue mich, daß der Karneval von Santiago wieder zu neuer alter Größe erwacht.

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